Gehaltene, bisher nicht veröffentlichte Vorträge

Die folgenden bisher nicht in schriftlicher Form vorliegenden Vorträge sind als Folge meiner Dissertation entstanden. Ich hatte damals die Möglichkeit, bei verschiedenen Gelegenheiten Vorträge zu halten.

Ich gehörte damals dem Verein „Migration und seelische Gesundheit“ an, der von dem Dolmetscher und migrationspsychiatrischen Autor Antonio Morten geleitet wurde. Im Rahmen der psychiatrisch-psychotherapeutischen Gütersloher Fortbildungswochen Klaus Dörners konnten wir 1983 und 1985 zu migrationspsychiatrischen Themen einen Nebenkongress halten. 1983 beim Ende des Ost-West-Konflikt ergab sich damit das Thema 1993 wie von selbst
„Displaced persons und heimatlose Ausländer des Zweiten Weltkriegs und durch das Ende des Ost-West-Konflikts entheimatete Ausländer – ein Vergleich“

Zwei Jahre später interessierte mich die Frage, wie Migration die Lebensgestaltung beeinflusst. Deshalb 1995 der Titel
„Möglichkeiten aktiver und passiver Lebensgestaltung am Beispiel der Migration.“

In den Rahmen dieses Generalthemas fällt auch der Vortrag von 1994
„Relevanz oder Irrelevanz der Frage: Ist die erzwungene Migration eine Frage für die soziale Psychiatrie.“

Das Buch „Schrecks Anstalt“ zeigt an Beispiel der Pflegeanstalt Rastatt auf, wie nationalsozialistische Politik aus Kostenersparnisgründen zuerst psychiatrische Langzeitkranke in eine damals zu diesem Zweck in Baden gegründete Sparanstalt steckte, um sie bei Kriegsbeginn der Euthanasie, das heißt der geplanten Mordaktion zuzuführen.
Ich bekam eine Einladung zum Dreiländerkongress in Karlsruhe und nahm Gelegenheit, beim Kongress der Frage nachzugehen, wie reduktionistisches Denken auch Jahrzehnte nach dem Dritten Reich den Umgang mit psychisch Kranken und Behinderten beeinflusst, das heißt, dass auch damals (wie auch heute noch) Kostenersparnis wie im Dritten Reich eine Rolle spielte. Damals ging es gerade um die Frage, ob und wie man Fallpauschalen zur Regelung und Kostenersparnis einsetzen könne. Deshalb 1998 mein Titel
„ICD 10 und Fallpauschalen – über das reduktionistische Denken der heutigen Psychiatrie und Psychotherapie“

In diesen Zusammenhang gehört auch „Das Menetekel nationalsozialistischer Sparpolitik am Beispiel der Pflegeanstalt Rastatt“, ein Vortrag von 1994, der aber schon in schriftlicher Form vorliegt.
Das Buch „Schrecks Anstalt“ gab das Stadtmuseum/Stadtarchiv Rastatt heraus. Ich wurde gebeten, bei der Eröffnung der Fotoausstellung „Einblicke“ von  Patrick Werner zum Thema Behinderung zu sprechen. Daher 1999 mein Thema
„Was versteht man unter Behinderungen und Behinderung und wie kann man helfen?   – eine Analyse aufgrund sprachlicher Befunde“.

Ich durfte am 16. November 2017 im Generallandesarchiv Karlsruhe anlässlich der Eröffnung der Wanderausstellung „Krankenmord im Nationalsozialismus. Die Euthanasie-Aktion T 4 in Deutschland der Gedenkstätte Grafeneck“ einem Vortrag „Schreck und Schrecken – Baden und die ‚Euthanasie‘-Morde 1940“ halten. Hier finden Sie ihn.

Franz Peschke:Schreck und Schrecken - Baden und die "Euthanasie"-Morde 1940

Dank an Sie, Herr Prof. Dr. Zimmermann und an Sie, Herr Dr. Stingl für die Ehre und die Möglichkeit, den Eröffnungsvortrag dieser Veranstaltung zu halten.

Ich möchte mich hier nur mit der „Euthanasie“ in Nordbaden im Jahre 1940 beschäftigen und zwar deshalb, weil das die Zeit ist, in der Grafeneck die zuständige Mordanstalt war und weil Nordbaden in dieser Zeit schon sehr stark in die „Euthanasie“-Aktion mit gravierenden Folgen einbezogen wurde. Und um Grafeneck geht es ja bei dieser Wanderausstellung.

Es soll sich hier nur über eine kurze Übersicht handeln, ohne neuere Erkenntnisse. Diese werden ja die anderen Vorträge dieser Veranstaltung bringen.

Also: Im Jahre 1940 war der Beginn der „Euthanasie“ genannten Mordaktion der Nazis. Ich benutze extra den Ausdruck Mordaktion und nicht den Ausdruck Tötungsaktion. Für diese Mordaktion gab es einen Zeitplan. So wurden als erstes Haar in München und der Südwesten Deutschlands in diese Aktion einbezogen und damit auch  das Land Baden. Andere Regionen und Länder wie z.B. Bremen und Schleswig Holstein erreichte die „Euthanasie“ von psychisch Kranken erst 1941.

Grafeneck war die allererste „Euthanasie“-Anstalt überhaupt. Im Jahre 1940 waren dann auch die „Euthanasie“-Anstalten Grafeneck, Brandenburg und Pirna-Sonnenstein in Betrieb.

In Baden gab es bei Kriegsbeginn am 1.9.1939 die Heil- und Pflegeanstalten Wiesloch, Illenau, Emmendingen und Reichenau, mehrere Kreispflegeanstalten und die Pflegeanstalt Rastatt.

Diese, die Pflegeanstalt Rastatt war 1934 gegründet worden. In sie waren chronisch kranke Langzeitpatienten aus den badischen Heil- und Pflegeanstalten verlagert worden und der Medizinalrat Arthur Schreck mit dem Spitznamen „Schreck der Heilanstalten“ leitete sie als absolute Sparanstalt.

Laut Aussage Schrecks vom Januar 1939 sollte die Pflegeanstalt Rastatt im Kriegsfall geräumt werden. Auch die Anstalt Wiesloch bekam am 13.3.1939 eine entsprechende Order für die „Räumung der Heil- und Pflegeanstalt Wiesloch im Mobilisierungsfall“.  Für Wiesloch kam der Räumungsbefehl am 4.9.1939, für Rastatt einen Tag später. Einen ähnlichen Befehl bekam auch Dr. Hans Römer in der Heil- und Pflegeanstalt Illenau. Alle Patienten der Pflegeanstalt Rastatt wurden am 5.9.1939 von Arthur Schreck in die württembergische Heil- und Pflegeanstalt Zwiefalten  verlegt, um sie später zu ermorden. Die Verlegungsaktion psychisch Kranker bekam den Namen „Verlegung aus planwirtschaftlichen Maßnahmen“.

Damit begann der Mord an psychisch Kranken, als „Verlegung von Anstaltsinsassen im Rahmen besonderer planwirtschaftlicher Maßnahmen“, ein merkwürdiger Ausdruck, denn er fasst das Platzschaffen in Anstalten für militärische Zwecke, die Ermordung psychisch Kranker und die damit mögliche Kostenreduktion in einem Wort zusammen. Der Schrecken des Krieges, die Mordaktion und der Schreck der Heilanstalten bildeten in Rastatt ein Einheit.

In Wiesloch wurde am 8.9.1939 ein Reservelazarett eingerichtet. Dazu wurden 100 Patienten in die hessische Anstalt Goddelau verlegt. Viele von ihnen wurden später in die Pflegeanstalt Rastatt in Zwiefalten verlegt, von wo aus auch sie in Grafeneck ermordet wurden.

Bei derartigen Verlegungen wurde oft der Ausdruck außerbadische“ Anstalt“ oder „Reichsanstalt“ benutzt.

In Wiesloch gingen vom 29.2.1940 bis zum 21.11.1940 elf Transporte nach Grafeneck mit mindestens 744 ermordeten Patienten. Schon am 24.8.1939 wurden von Wiesloch Kranke in die Illenau verlegt. Auch gab es Patientenverschiebungen mit den Kreispfleganstalten Weinheim, Sinsheim und Hub. Von Karlsruhe aus war der Ministerialrat Dr. Ludwig Sprauer für die Mord-Aktion zuständig.

Die Wieslocher Schwester Amalie Widmann, die vorher Sekretärin bei den Aufzeichnungen zum Zwecke der Sterilisationen war, wollte wissen, was in Grafeneck passierte. Alice Platen-Hallermund berichtete 1948:

„Eine Schwester der Heil- und Pflegeanstalt Wiesloch in Baden verfiel nach Abtransport ihrer Pfleglinge in eine tiefe Depression wegen der Ungewissheit über deren Schicksal. Sie wusste, dass sie nach Grafeneck kommen sollten und wollte sich vergewissern, was das für eine Heilanstalt sei, von der ihr niemand etwas sagen konnte.
Um zu diesem Ziel zu gelangen, nahm sie sich Urlaub und fuhr ohne Wissen ihrer Anstalt nach Münsingen, der Bahnstation von Grafeneck.
Als sie sich schließlich der Anstalt über die Felder näherte und an Tafeln vorbei kam (die vor dem Betreten des Sperrgeländes warnten), erschien die SS-Wachmannschaft, jagte sie und nahm sie fest.
Auf die Frage, was sie da zu suchen habe, fragte sie nach ihren Patienten, worauf ein SS-Mann lachend antwortete: „Die haben Grafeneck so gern, dass sie es nie wieder verlassen wollen.“

Nach Rücksprache mit Wiesloch wurde dann die Schwester verwarnt und kam in Wiesloch in einem Zustand völliger Verwirrung an, der sich erst nach längerer Zeit wieder legte.“

Während also Amalie Widmann wissen wollte, was in Grafeneck geschah, betonte der Wieslocher Direktor Wilheln Möckel, „er habe nicht wissen wollen, was in Grafeneck geschah“.

Arhur Schreck aber besichtete persönlich den Vergasungsbetrieb in Grafeneck. Er empörte sich dort aber nicht über die Morde, mit denen er ja einverstanden war, sondern regte sich über die Dürftigkeit der primitiven Verbrennungsöfen auf, die seinen Vorstellungen nicht entsprachen, da er ein gut eingerichtetes Krematorium erwartete.

Schreck löste dann die Pflegeanstalt Rastatt in Zwiefalten definitiv am 15.6.1940 auf, die Patienten wurden zuerst in die Heil- und Pflegeanstalt Reichenau verlegt und dann mit „unbestimmtem Ziel“ verlegt, das heißt in Grafeneck „euthanasiert“. Danach ging Schreck als stellvertretender Direktor an die altehrwürdige Heil- und Pflegeanstalt Illenau bei Achern, die mit der Verlegung von 300 Kranken nach Grafeneck von dem Kranken geleert war und am 3.7.1940 aufhörte als Anstalt für psychisch Kranke zu existieren.

Nach einem Zwischenaufenthalt in Berlin in der Zentrale der T4, der „Euthanasie“-Aktion finden wir Schreck als Stellvertreter des Direktors Möckel in der Anstalt Wiesloch. Hier tötete er auf der so genannten Kinderfachabteilung eigenhändig zwei oder drei Kinder.Die Anstalt Wiesloch war durchgehend Zwischenanstalt für „Euthanasie“-Transporte, auch nach der Schließung von Grafeneck. Statt Grafeneck war in Hadamar ein neues Mordzentrum entstanden. Im Laufe der weiteren Entwicklung wurde auch die Heil- und Pflegeanstalt Reichenau aufgelöst. Die Wieslocher Anstalt entging diesem Schicksal nur, weil die restlichen Patienten 1944/45 für die Aufrechterhaltung der Ökonomie benötigt wurden, da sich neben dem Reservelazarett noch viele ausgelagerte Mannheimer und Heidelberger Kliniken in Wiesloch befanden, Die restlichen überlebenden psychisch Kranken wurden also benötigt, um den ökonomischen Anstaltsbetrieb aufrecht zu halten.

Dieser Schrecken begann 1940. Das Jahr 1940 aber ist für Nordbaden deshalb so einschneidend, weil durch die euphemistisch so genannte „Verlegung aus planwirtschaftlichen Maßnahmen“, deren Bezeichnung eigentlich den Mord an vielen Tausenden psychisch Kranker meinte, gleich zwei Anstalten für psychisch Kranke (Rastatt und Illenau) im Jahre 1940 aufgelöst wurden, die Patiententransporte nach Grafeneck fast durchgängig die Fahrt in den Tod bedeuteten und ein eigentlich ansonsten unbedeutender Arzt, Dr. Arthur Schreck, bei diesem Schrecken in Baden eine gravierende Rolle spielte.

Franz Peschke:
Displaced persons und heimatlose Ausländer des Zweiten Weltkriegs und durch das Ende des Ost-West-Konflikts entheimatete Ausländer - ein Vergleich

Referat auf dem Seminar MULTIKULTURELLER MAKROKOSMOS IN EINEM NATIONALSTAATLICHEN MIKROKOSMOS am 5.10.1993 innerhalb der 45. Gütersloher Fortbildungswoche „Aus leeren Kassen Kapital schlagen“

In diesem Referat will ich versuchen aufzuzeigen, daß die Ursachen für Migration nicht nur im Individuellen zu suchen sind, sondern daß Umwälzungen in der Weltpolitik dieses Jahrhunderts Migrationswellen ausgelöst haben. Um dieses darzustellen will ich zwei Migrationswellen vergleichen, die auf den ersten Blick unvergleichlich sind: die Displaced persons und heimatlosen Ausländer des Zweiten Weltkriegs und die von mir so genannten entheimateten Ausländer der Zeit nach dem Ende des Ost-West-Konflikts.

Es handelt sich also um keine Arbeit, in der es um Psychodynamiken geht, auch um keinen Erfahrungsbericht über die Arbeit mit Patienten. Vielmehr schließt dieser Aufsatz thematisch an das Migrationsseminar 1986 auf dem damaligen Gütersloher Kongress an. Damals habe ich unter Bezug auf meine Dissertation „Ausländische Patienten in Wiesloch 1939-1982. Schicksal und Geschichte der displaced persons und Heimatlosen Ausländer in der Heil- und Pflegeanstalt, dem Mental Hospital und dem Psychiatrischen Landeskrankenhaus Wiesloch“ eine Kasuistik über displaces persons vorgetragen, die in das von Antonio Morten herausgegebene Buch „“Hören Sie Stimmen?“ – „Ja, ich höre Sie sehr gut““ in Anlehnung an das Thema der damaligen Migrationsreihe eingegangen ist, weshalb übrigens das damals wie auch heute von Herrn Professor Dörner sehr unterstützte Seminar unter dem Namen „Antonios Stimmen-Kolloquium“ in die Migrationsgeschichte eingegangen ist. Auch dieses neue Seminar ist ohne die massive Unterstützung von Herrn Professor Dörner und Herrn Morten nicht entstanden, weshalb ich beiden an dieser Stelle meinen herzlichen Dank aussprechen möchte. Da ich 1986 einen kasuistischen Beitrag gebracht habe, möchte ich hier über die alte Kasuistik hinaus und nach dem Ende des Ost-West-Konflikts eine andere Ebene, eben die historisch-politische, beleuchten und daraus meine Folgerungen ziehen.

Was ist nun unter den Ausdrücken „displaced persons“ und „Heimatlose Ausländer“ zu verstehen? Dazu ist zu sagen, daß es keine eindeutige Definition des  Ausdrucks „displaced persons“ gibt. Denn die Definition hat im und nach dem Zweiten Weltkrieg mehrfach gewechselt. Allgemein und ungenau möchte ich sagen, daß displaced persons Menschen waren, die von einer Unterorganisation der Vereinten Nationen betreut worden sind, und zwar zuerst von der UNRRA (United Relief an Rehabilitation Administration) und nach 1946 von der IRO (International Refugee Organisation). Beide waren Flüchtlingsorganisationen der Vereinten Nationen und waren dafür zuständig, daß von den Deutschen im Zweiten Weltkrieg verschleppte oder kriegsgefangene Angehörige der Vereinten Nationen gesucht und repatriiert werden sollten. Dazu kamen Juden und nach Beginn des Ost-West-Konfliktes auch Flüchtlinge aus dem sowjetischen Machtbereich, weil inzwischen die Verbrechen der Sowjets an den (auch zwangsweise nach dem Jalta-Abkommen ) in die Sowjetunion Repatriierten bekannt geworden war und ihren Erzählungen über Zwangsarbeitslager und ihrer Angst vor Verfolgungsmaßnahmen Glauben geschenkt wurde.

Nach Gründung der Bundesrepublik Deutschland 1949 wurden die displaced persons, die zu diesem Zeitpunkt, zumeist als „hard core“, d.h., als nicht repatriierbare und nicht zu emigrierende Angehörige der IRO noch in der BRD geblieben waren, dem Machtbereich der BRD unterstellt und bekamen nun von Seiten der BRD  den Rechtsstatus eines „Heimatlosen Ausländers“. Heimatlose Ausländer in diesem Rechts-Sinn sind mit anderen Worten ehemalige displaced persons (DPs), die nach der Gründung der BRD hier geblieben sind und von der BRD  als Angehörige der Vereinten Nationen geschützt wurden. Sie haben einen internationalen Flüchtlingspaß ähnlich wie wie die Nansen-Flüchtlinge (z.B. Weißrussen und von der Türkei verfolgte Armenier) des Ersten Weltkriegs, die nach dem Zweiten Weltkrieg auch von der IRO übernommen wurden.

Dies also sind displaced persons und Heimatlose Ausländer. Im Gegensatz zu ihnen nenne ich „entheimatete Ausländer“ Menschen, die nach dem Zerbrechen der Sowjetunion und des Warschauer Paktes oder aus dem ebenfalls zerbrochenen Jugoslawien nach Deutschland  gekommen sind oder kommen. Es handelt sich also um eine Definition von mir. Ich meine also mit dieser Definition nicht Menschen, die auch ohne das Ende des Ost-West-Konfliktes von woanders, z.B. aus Amerika, Afrika, Asien oder Australien, kommen, sondern meine speziell Menschen aus der ehemaligen Sowjetunion und dem ehemaligen Jugoslawien.

Das ist besonders deshalb wichtig, weil ich denke, daß es für das Schicksal der displaced persons und Heimatlosen Ausländer und der entheimateten Ausländer meiner Definition gemeinsame entfernte Ursachen gibt, obwohl es sich von der Nähe betrachtet um zwei völlig verschiedene Gruppen handelt.

Denn mit Ausbruch des Ersten Weltkrieges in Sarajevo zerbrach die alte Staats- und  Weltordnung. Der Zweite Weltkrieg ist in einer Sicht eine Folge der nicht gelösten Probleme der Friedensordnung von Versailles und St. Germain nach dem Ersten Weltkrieg. Ähnlich ist auch die Entwicklung der Zeit nach dem Ende des Ost-West-Konflikts (für welche Phase es im übrigen noch keinen gängigen Begriff gibt) eine Folge der liegengebliebenen und eingefrorenen Probleme des Zweiten und indirekt auch des Ersten Weltkriegs. Dies läßt sich leicht erweisen. Ich gebe hier stellvertretend einige Beispiele für territoriale Entwicklungen, die noch aus der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg stammen und die bisher noch nicht abgeschlossen sind oder gerade abgeschlossen werden und die auf die Menschen ihre Wirkung im Sinne von Migration hatten, haben, und weiter haben werden, zum mindesten aber haben können.

  1. a) Die baltischen Staaten

Sie gehörten vor dem Ersten Weltkrieg zum russischen Reich, waren nach Gründung der Sowjetunion kurze Zeit selbständig, dann im Zweiten Weltkrieg Aufmarschgebiet der Deutschen und der Sowjets und wurden im Zweiten Weltkrieg kurzfristig, dann 1945 endgültig der Sowjetunion eingegliedert und erreichten  durch auch von ihnen betriebenen Zerfall der Sowjetunion nach dem mißlungenen Putsch gegen Gorbatschow die von ihnen lange geforderte Unabhängigkeit. Die Jahrzehnte, in denen sie zur Sowjetunion gehörten, sind aber nicht an ihnen vorbeigegangen. Sie haben jetzt anders als früher einen hohen Prozentsatz von Russen innerhalb ihres Staatsgebietes. Diese Russen (auch die Zivilrussen) gelten jetzt als Besatzer und sind nicht automatisch Staatsbürger der neuen Staaten. Sie werden bewußt ausgegrenzt und sind praktisch staatenlos. Dies birgt ein hohes Maß an Explosivstoff, weil Rußland praktisch Schutzmacht der baltischen Russen ist und leicht Unruhen entstehen können mit der Folge von Bürgerkrieg und Fluchtwellen auch in den Westen.

  1. b) Die Ukraine

Sie gehörte zum russischen Reich. Nach dem Ersten Weltkrieg gab es starke Unabhängigkeitsbewegungen. Polen nützte die Schwäche der neuentstandenen Sowjetunion aus und eroberte die Westukraine, die sogenannte polnische Ukraine. Das Erstarken der Sowjetunion machte die Unabhängigkeit der Ost-Ukraine zunichte. Ein Teil der Ukraine, die Karpathoukraine kam nach dem Ersten Weltkrieg zur neuentstandenen Tschecheslowakei. Der Wusch nach Unabhängigkeit blieb aber bestehen. Um ihre Unabhängigkeit von der Sowjetunion zu erreichen kämpften viele Ukrainer im Zweiten Weltkrieg auf deutscher Seite. Nach dem Sieg der Sowjetunion verleibte sich die UdSSR die ganze Ukraine mit Einschluß der Karpathoukraine und der polnischen Ukraine ein. Als Ersatz für den Verlust der polnischen Westukraine galt für Polen die Westverschiebung mit Entschädigung durch Ostdeutschland (Oberschlesien, westlicher Teil Ostpreußens). Erst durch die Verträge anläßlich der Vereinigung Deutschlands ist der Besitzstand Polens und damit indirekt des der Ukraine gesichert. Der andere Teil Ostpreußens bildet übrigens durch den Zerfall der Sowjetunion und die Unabhängigkeit der baltischen Staaten eine russische Exklave, um die sich besonders bei Erweiterung der Europäischen Union  nach Osten (Polen, evtl. baltische Sttaten) besonders bei Schwäche Rußlands mehrere Staaten streiten könnten. Nach dem Zerfall der Sowjetunion ist die Ukraine jetzt eine von Rußland unabhängige Atommacht, die immer zwischen dem Anschluß an Rußland und Unabhängigkeit hin- und herschwankt, die aber mit der starken russischen Minderheit in ihren Ostgebieten und der von Chruschtschow geschenkten eigentlich russischen Krim ein massives Konfliktpotential hat, das zum Krieg und Migrationswellen führen könnte.

  1. c) Jugoslawien

Als Folge des Endes der Habsburger Monarchie entstand auf einem Teil des Balkans der SHS-Staat, das Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen. Dieser Staat nannte sich später Jugoslawien („Südslawien“). Im Zweiten Weltkrieg marschierten die Deutschen ein, zerschlugen Jugoslawien und errichteten in Kroatien unter Pavelić einen faschistischen Staat, der in seinen Konzentrationslagern Hunderttausende Juden, Zigeuner und Serben umbrachte. Mit Hilfe der katholischen Kirche wurden viele Serben zwangsumgetauft. Zwei Unabhängigkeitsbewegungen, die des königlich-jugoslawischen Ministers Mihajlović und die des Kommunisten Josip Broz, genannt Tito, versuchten unabhängig und teilweise gegeneinander Jugoslawien von den Deutschen zu befreien. Da die Vereinten Nationen des Krieges in der zweiten Phase des Zweiten Weltkrieges sich von der in London regierenden Exilregierung ab und Tito zuwandten, siegte Tito. Jugoslawien entstand 1945 als sozialistischer Staat neu und konnte sich zwischen den Mächten als blockfreier Staat erhalten. Titos Tod und die noch von ihm zum Erhalt Jugoslawiens geschaffene Verfassung mit dem Rotationsprinzip schwächte Jugoslawien, und die neue Situation nach dem Zerbrechen der Sowjetunion ließ die innere Schwäche (nicht nur wirtschaftlicher Art) Jugoslawiens deutlich werden. Die kommunistische Partei Jugoslawiens bot keine  Klammer mehr und ähnlich wie die Deutschen im Zweiten Weltkrieg den Zerfall Jugoslawiens bewirkte, unterstützte jetzt der deutsche Außenminister Genscher in Zusammenarbeit mit Österreichs Außenminister Mock die Unabhängigkeitsbewegung Sloweniens, Kroatiens und Bosniens und half somit, daß der Staat Jugoslawien zerbarst  und daß, auch durch die verbrecherische Politik serbischer, bosnischer und kroatischer Politik, ein langer, leidvoller Bürgerkrieg entstand.

 

Ich habe diese drei Beispiele für territoriale Veränderungen in Europa, die immer noch indirekt Folge der Umgruppierungen nach dem Ersten und damit nach dem Zweiten Weltkrieg sind, so ausführlich beschrieben, um zu zeigen, daß die Entheimatungen in Europa in diesem Jahrhundert gemeinsame Ursachen  schon im Ersten Weltkrieg haben und daß sie fortdauern, weil die ständigen Grenzveränderungen und -korrekturen bis heute nicht abgeschlossen sind. Dadurch geraten immer wieder Menschen zwischen die Fronten und letztlich sind die „Heimatlosen Ausländer“ und „entheimateten Ausländer“ aus geschichtlich zusammenhängenden Gründen ohne Heimat oder werden noch ihre Heimat verlieren können.

Im weiteren Hintergrund spielt dabei auch das Zusammenspiel oder der Machtgegensatz zwischen Deutschland und Rußland (der Sowjetunion) eine wesentliche Rolle. Ich darf daran erinnern, daß das Deutsche Kaiserreich es war, das Lenin durchfahren ließ und so die Oktoberrevolution und Gründung der Sowjetunion mitbestimmte. Das Zusammenspiel Deutschlands und der Sowjetunion im Ribbentrop-Molotow-Abkommen entschied über das Schicksal Polens und der baltischen Staaten. Solange nach dem Zweiten Weltkrieg die Sowjetunion stark war, war Deutschland geteilt und damit geschwächt. Zuletzt nun hat das Zusammenspiel von Gorbatschow und Kohl Deutschland als Großdeutschland bei Schwäche der Sowjetunion wieder neu entstehen lassen. Folge davon war unter anderem, daß die neue Bundesrepublik unter Führung ihres Außenministers Genscher  (in Zusammenarbeit mit Österreichs Außenminister Mock) ihre Großmachtpolitik in Jugoslawien spielen lassen konnte und maßgeblich daran beteiligt war, daß nach dem in Habsburg sehr bekannten Spruch divide et impera = teile und herrsche erneut wie schon einmal im Zweiten Weltkrieg das im Zusammenspiel mit alten Ustascha-Kreisen entstandene Kroatien als sogenannter demokratischer, in Wirklichkeit aber autoritärer Staat unabhängig wurde. Auch bei der weiteren Entwicklung im „Friedensprozess“ in Jugoslawien mischt Deutschland, teilweise in Zusammenarbeit mit Rußland, kräftig mit.

Sprachlich ist dabei interessant, daß Serbien und Montenegro, das sich jetzt weiter Jugoslawien nennt, von deutscher und österreichischer Seite Rest-Jugoslawien genannt wird, wie das Großdeutsche Reich von der Rest-Tschechei sprach.

In diesem Zusammenhang ist daran zu erinnern, daß schon einmal die erst als Folge des Ersten Weltkrieges entstandene Tschecheslowakei zerteilt war und die Slowakei ähnlich wie Kroatien ein von den Deutschen abhängiger, vom Gesamtstaat Tschecheslowakei (den es als Folge des Münchner Vertrages nicht mehr gab) unabhängiger Staat war. Heute hat sich die Tschecheslowakei selbst aufgelöst. Das Volk wurde aber (ähnlich wie bei der Grundgesetzdebatte bei der deutschen Einigung) nicht gefragt, die Entscheidung zur Auflösung der Tschecheslowakei ging über die Köpfe der Bevölkerung hinweg und erfolgte ganz autoritär. Die Slowakei bezieht sich dabei auf den von den Deutschen bei der ersten Teilung eingesetzten Faschisten Tiso.

Wie oben gesagt, spielt bei dieser Entwicklung der Machtgegensatz oder das Zusammenspiel Deutschland-Rußland eine große Rolle. Dieser drückt sich auch in der Form Faschismus-Bolschewismus, also ideologisch aus.Die in Europa lebenden Menschen geraten in diesen Machtgegensatz und werden darin zerbröselt.

Wie schon gesagt, gab es nach dem Ersten Weltkrieg die sogenannten Nansen-Flüchtlinge. Ein großer Teil von ihnen bestand aus Altemigranten aus Rußland, die auf der Seite der „Weißen“ gegen die „Roten“ gekämpft hatten und nie Bürger der entstehenden Sowjetunion gewesen waren. Sie hatten verloren und sich in die Emigration begeben. Ein Teil von ihnen wie auch z.B. Letten und Ukrainer kämpfte im Zweiten Weltkrieg auf deutscher Seite gegen die Sowjetunion. Obwohl eigentlich die weißen Altemigranten aus Rußland als Nansen-Flüchtlinge nicht unter das Jalta-Abkommen, das die Zwangsrepatriierung von Sowjetbürgern vorsah, fielen, wurden viele von ihnen nach 1945 zwangsweise repatriiert. Umgekehrt galten Ukrainer und Balten, die im Zweiten Weltkrieg auf deutscher Seite gegen die Sowjetunion und damit gegen ein Land der Vereinten Nationen des Krieges gekämpft hatten, als Quislinge, als Verräter und sie wurden deshalb nicht von der UNRRA/IRO betreut.

Der gemeinsame Kampf gegen das faschistische Deutschland hatte die Vereinten Nationen des Krieges zusammengehalten. Beim Ende des Krieges schlossen die Briten, Amerikaner und Sowjets das geheime Zusatzabkommen zum Jaltaabkommen, in dem bestimmt wurde, daß alle Sowjetbürger, ob Ostarbeiter oder Kriegsgefangene, gegen ihren Willen in die Sowjetunion gebracht werden sollten. Man kann hier sehr gut erkennen, wie leicht aufgrund einer Ideologie („Waffenbrüderschaft“) Menschenrechte verletzt worden sind, unter besonderer Federführung der Briten.

Als zunehmend ab etwa 1946 der Bolschewismus als Gefahr gesehen wurde und mehr bekannt war über Stalins Verbrechen, wurden die Zwangsrepatriierungen gestoppt und folgerichtig wurden jetzt auch Menschen, die nach Ende des Krieges aus dem Sowjetbereich geflohen waren, von der IRO als displaced persons betrachtet.

Eine wesentliche Rolle dabei  spielte die Anerkennung der Tatsache, daß man jetzt den sowjetischen DPs glaubte, daß die Sowjetunion ähnlich wie das Deutsche Reich ein Zwangsstaat war und daß sie – ähnlich wie Millionen anderer – nach der Rückkehr in den Ostblock schwere Repressalien bis zum Tode zu erwarten hatten.

Auch die „entheimateten Ausländer“ heute werden so zerbröselt. Das wird bei den Jugoslawen am deutlichsten. Diese von mir eingenommene Betrachtungsweise zeigt zugleich (cum grano salis), welche Gruppen ich mit den Ausdrücken „heimatlose Ausländer“ und „entheimatete Ausländer“ meine.

Displaced persons und heimatlose Ausländer sind von den Deutschen verschleppte Zwangsarbeiter, Kriegsgefangene aller Nationen der gegen die Deutschen kämpfenden Vereinten Nationen, Juden, und  Flüchtlinge der unmittelbaren Nachkriegszeit, die aus dem entstehenden Ostblock stammten, nur Deutsche zählten nicht dazu. Andere Bürger aus Ländern der Vereinten Nationen, die auf Seite der Deutschen gegen ihre Heimat (z.B. Ukrainer gegen die Sowjets) gekämpft hatten, galten als Verräter und bekamen deshalb (vorerst) nicht den Status eines DPs. Dazu kamen noch die sog. Nansen-Flüchtlinge.

Heute „entheimatete Ausländer“ sind Flüchtlinge z.B. aus dem Bereich der ehemaligen Sowjetunion, aus Georgien, Armenien usw., alle, die aufgrund von Konflikten und Kriegen dort fliehen, eine Entwicklung, die lange noch nicht zu Ende ist und vor der sich der Westen mit Asylgesetzen zu schützen versucht. Dazu gehören auch Flüchtlinge aus dem ehemaligen Jugoslawien. Man kann direkt beobachten und fast voraussagen, woher die neu entheimateten Ausländer noch kommen werden. Alle haben mit den heimatlosen Ausländern ein Problem, nämlich den Verlust ihrer Heimat, gemeinsam. Übrigens war die erste nach den KSZE-Bedingungen eigentlich nicht erlaubte Grenzänderung die zwischen den beiden deutschen Staaten anläßlich deren Vereinigung. Seitdem ändern sich überall in Europa die Grenzen, in der ehemaligen Sowjetunion, in Jugoslawien und der ehemaligen Tschecheslowakei.

Wie im Zweiten Weltkrieg sind jetzt Vertreibungen, Verfolgungen, ethnische Säuberungen, Trennungen von Familien, Entwurzelungen und Mißtrauen an der Tagesordnung. es gibt wieder Haft, Lagerleben und Hoffnungslosigkeit. Propaganda verunsichert wieder die Menschen. Auch tritt eine Lockerung der Loyalität zum Staat ein. Ein Russe in Litauen ist jetzt nicht mehr russischer oder Sowjetbürger, aber auch nicht gleichberechtigter Bürger Litauens. Ähnlich bekommt ein bosnischer Serbe, der vor dem Krieg in seiner Heimat nach Deutschland flieht, kein Asyl, weil bei abgelaufenem Paß seine Feinde, die bosnischen Moslems ihn verlängern müßten.

Was für einen ein erstrebenswertes Ziel ist, nämlich die Unabhängigkeit (der Ukraine, Kroatiens, Bosniens), ist für den anderen ein Unglück. Familien werden zerrissen, die früher über die Nationalitäten oder Religionen  hinweg geschlossen worden sind. Jeweils die anderen sind die Verräter. Oder ein einzelner kann gleich mehrfach zum Verräter werden: an seinem Volk, an seinem alten, an seinem neuen Land, als Kriegsteilnehmer, aber auch als Flüchtling.

Dies alles zusammen mit der Gewaltbereitschaft, die man z.B. in Bosnien und Georgien sehen kann, führt dazu, daß ähnliche psychische Reaktionen wie bei den  DPs und heimatlosen Ausländern entstehen können, besonders dann, wenn die Angst und Hoffnungslosigkeit kaskadenartig ein hohes Maß erreichen können. Dies ist z.B. der Fall, wenn die Betroffenen mehrfach zwischen die Fronten geraten, ihre Familien zerrissen werden, sie nicht mehr wissen, wem sie aufgrund der Propaganda trauen können, ihre Loyalität zum Staat zerbrochen ist, und sie jetzt aus allen sozialen Bindungen herausgerissen ohne Hoffnung auf baldige oder überhaupt auf Rückkehr im Lager dahinvegetieren oder arbeitslos in Slums wohnen. Die psychischen Verletzungen gehen tief und schwer paranoide, depressive oder suicidale Entwicklungen sind häufig.

Aus all dem vorher Genannten ist zu erkennen, daß europäische Migrationswellen in diesem Jahrhundert eine gemeinsame Ursache haben, nämlich die Umwälzung der politisch-ökonomischen Ordnung Europas als Folge der Entwicklung seit dem Ersten Weltkrieg, in der es letztlich in dem Macht-Ränke-Spiel um die Machtverteilung in Europa geht und um den Gegensatz oder das Zusammenspiel von Deutschland oder Rußland bzw. der Sowjetunion. Das je nach der Stärke oder der Schwäche der beiden Partner. Um die Wirkung dieses Machtgegensatzes auf die unter ihm leidenden Menschen aufzuzeigen eignen sich besonders die heimatlosen und die entheimateten Ausländer als stellvertretenden Gruppen für alle darunter Leidenden.

Und deshalb kann meine Untersuchung die Sinne schärfen für alle weiteren Migrationswellen, die wir als Folge der noch nicht abgeschlossenen Machtverschiebungen nach dem Ersten Weltkrieg noch erwarten dürfen.

Franz Peschke:
Relevanz oder Irrelevanz der Frage: Ist die erzwungene Migration eine Frage für die soziale Psychatrie?!

Kurzreferat der Veranstaltungsreihe Migration/Multikulturelle Gesellschaft im Rahmen des XIV. Weltkongresses für Soziale Psychiatrie in Hamburg vom O5. bis 10. Juni 1994 am Montag, dem O6. Juni 1994 unter dem Generalthema: Erzwungene Migration – Heimat-, Beziehungs- und Sprachlosigkeit – eine Frage für die Soziale Psychiatrie und unter dem generellen Kongreßthema:

Farewell to Babylon – Abschied von Babylon

Fünfzig Jahre nach dem D-Day, dem Einmarsch der Alliierten in der Normandie, der mitentscheidend dafür war, daß die Gewaltherrschaft Hitlers und des Dritten Reiches besiegt werden konnte, und nur kurze Zeit vor dem Abschied der alliierten Truppen in Berlin möchte ich im Rahmen der Migrationsreihe die Frage erörtern, ob die erzwungene Migration für die Sozialpsychiatrie relevant ist oder nicht.

Diese Frage ist merkwürdig. In ihr ist nämlich ein Mißtrauen spürbar, ich meine das Mißtrauen, ob diese Frage vielleicht von der Sozialpsychiatrie noch nicht genügend beachtet wird.

Sie müßte aber beachtet werden. Denn in diesem Jahrhundert sind infolge der Machtverschiebungen nach dem Zusammenbruch der alten Ordnung im Ersten und Zweiten Weltkrieg, der Entkolonisierung und dem Ende des Ost-Westkonflikts mit nachfolgenden Kriegen, z.B. in Jugoslawien, Millionen und Abermillionen von Menschen entwurzelt worden.

Möglicherweise unter dem Eindruck der Folgen des Ersten Weltkriegs schrieb Emil Kraepelin im Jahre 1921: „Die Entwurzelungsfrage gestattet gemeinsam mit anderen Problemen einen flüchtigen Ausblick in die Zukunft einer Wissenschaft, die wir heute nur erahnen können – Sozialpsychiatrie.“

[i]Kraepelin sah also den Zusammenhang von Entwurzelung und Sozialpsychiatrie. Er konnte aber wohl nicht im entferntesten ahnen, in welchem Ausmaß sich  die Entwurzelung durch Gewalt in der Zeit nach diesem Zitat noch steigern würde – bis hin zum  Massenmord an Millionen von Juden und den zig-Millionen getöteter Russen und Angehöriger anderer Nationen durch den von den Deutschen ausgelösten Zweiten Weltkrieg. Auch konnte Kraepelin natürlich nichts von den späteren Vertreibungen ganzer Völker und Tötung von auch Millionen Menschen durch Stalin seit den Dreißiger Jahren wissen.

Aber 24 Jahre nach dem Zitat Kraepelins, am Ende des Zweiten Weltkriegs waren durch die Schuld Hitlers nicht nur Millionen Menschen ermordet und gefallen, es waren auch ganze Städte und Landstriche in Europa und Außer-Europa verwüstet, das Deutsche Reich war besiegt und geteilt und Millionen Deutsche flohen aus den deutschen Ostgebieten, die jetzt unter sowjetische und polnische Verwaltung kamen, oder wurden nach dem Endes des Weltkrieges vertrieben.

Die deutschen Flüchtlinge und Vertriebenen eignen sich gut als Beispielsgruppe, um die Frage zu erörtern, ob es relevant oder irrelevant ist, die erzwungene Migration als eine Frage für die soziale Psychiatrie ernstzunehmen.

Ich werde jetzt einige Tabellen zeigen, die dem großen Bildatlas zur Weltgeschichte und dem Putzger-Schulatlas zur Geschichte  entnommen sind.

Die erste Tabelle [ii] zeigt durch Pfeile  die Bevölkerungsverschiebungen in Europa von 1919 bis 1975, die durch Flüchtlinge und Abwanderer verursacht sind. Die auf dieser Karte in Bereich des ehemaligen Deutschen Reiches gezeichneten Pfeile zeigen die deutschen Vertriebenen und Flüchtlinge, sie geben aber nur ein sehr ungenügendes Bild von der durch den Zweiten Weltkrieg ausgelösten Entwurzelung der Deutschen.

Sehen wir uns jetzt ein Bild von den Bevölkerungsverlusten durch Tod von Zivilpersonen und Soldaten im Zweiten Weltkrieg an.[iii]  Hier wird das Bild schon realistischer. Wie man unschwer erkennen kann, hat Deutschland Europa mit Millionen von Toten übersät, und hat selbst Millionen von Toten sowohl unter den Soldaten als auch unter den Zivilisten zu beklagen.

Die realen Personenverluste durch den Tod geliebter Menschen wirkten sich stark psychisch traumatisierend auf die Hinterbliebenen aus,  aber auch der zeitweilige Verlust der Väter, die an der Front waren, die Angst um sie, und Vermißtenschicksale wirkten langfristig traumatisch. Das traf besonders zu, wenn z. B. die Witwen aufgrund der Umstände keine Trauerreaktionen haben durften und bei Kindern, wenn sie als Kinder dieser vermißten oder getöteten Soldaten noch Kinder Kleinkinder, im Vorschulalter oder noch so jung waren, daß sie noch vor dem  Ödipalalter waren, in dem sie sich hätten mit ihren Vätern identifizieren müssen. Dazu kamen in der Endphase des Krieges noch die Erlebnisse bei den Bombardierungen und die Flucht und nachfolgende Vertreibung von Millionen Deutscher hinzu.

Die nächste Tabelle [iv] kann deutlich machen, wie brisant dieses Problem der Flüchtlinge und Vertriebenen war. Jeder schwarze Strich bedeutet 500.000 Flüchtlinge und Vertriebene. Das Gebiet der späteren BRD und DDR ist davon übersät. Bis 1950 kamen so aus den Ostgebieten des Deutschen Reiches in den Grenzen von 1937 rund acht Millionen Menschen und von Gebieten außerhalb der Reichsgrenzen zwischen fünf und sechs Millionen, zusammen fast 14 Millionen Menschen durch Flucht oder Vertreibung in den Westen,wobei aber über zwei Millionen von ihnen das Gebiet Restdeutschlands nicht erreichten. Im Norden Westdeutschlands siedelten sich vorwiegend Ostpreußen, im Süden Sudetendeutsche an. Da die späteren westdeutschen Bundesländer sehr unterschiedlich viele Flüchtlinge aufgenommen hatten, mußten zum Ausgleich  im Gebiet der alten BRD 1949-1965 Umsiedelungsaktionen stattfinden. Der Bundesdurchschnitt an Flüchtlingen  lag bei 5,5, der der Vertriebenen bei 15,9, gesamt also bei 21,4 Prozent, der der Vertriebenen im Durchschnitt der DDR bei 22,4 Prozent. [v] Das sind hohe Prozentzahlen. Auf vier ursprünglich im Gebiet der jetzigen BRD (alte BRD und DDR) lebende Deutsche kam circa ein Flüchtling.

Man müßte deshalb eigentlich erwarten, daß  die Psychiatrie, die Psychotherapie und Sozialpsychiatrie aufmerksam sind für das Problem der durch Krieg und Vertreibung ausgelösten gewaltsamen Migration. Es scheint aber, daß die wirtschaftliche Integration der deutschen Flüchtlinge und Vertriebenen den Blick dafür trübte, warum  diese gewaltige Integrationsleistung nötig geworden war. Es gibt da offensichtlich ein Tabu etwa mit folgendem Wortlaut: Wir haben die Integration so toll vollbracht, rühren wir nur nicht an den schmerzlichen Ursachen, beschäftigen wir uns nicht mit der Geschichte und fragen wir nicht danach, was gewaltsame Migration bei Deutschen bedeutet. Das ist unfein und bringt uns in den schlechten Ruf, mit den radikalen Sudetendeutschen und anderen Landsmannschaften zu sympathisieren. Außerdem ist das Nabelschau, Beschäftigen mit deutschen Problemen.

Nabelschau und das Sympathisieren mit Radikalen, welcher Couleur sie auch sind und von wo auch immer sie kommen, ist wirklich gefährlich und muß deshalb  vermieden werden. Aber weil wir Deutschen – geschichtlich betrachtet – als Täter und Opfer (auch als Opfer der deutschen Täter) die Folgen der Gewaltherrschaft der Nazis und jetzt auch der Stasis in uns tragen, müssen wir uns auch in der Sozialpsychiatrie damit auseinandersetzen. Wir können das aber nur tun, indem wir nicht den Blick einengen, sondern indem wir in der Psychiatrie und Sozialpsychiatrie geschichtlich denken lernen, das heißt auch über größere Zeiträume und in größeren Zusammenhängen. Das bedeutet auch, den sozialpsychiatrischen Blick für die Ätiologie von psychischen Krankheiten auf gewaltsame, erzwungene Migrationen und dahinter stehende historisch-politische und wirtschaftliche Faktoren zu lenken. Und das auch dann, wenn man der Ansicht ist, daß die Art der ätiologischen Faktoren unwichtig ist, da sämtliche auch unspezifische Trennungserlebnisse psychische Krankheiten auslösen können.

Denn die menschliche Geschichte ist oft die Geschichte erzwungener Migrationen. Nicht immer sind Menschen daran Schuld. Denn z.B.  mußte möglicherweise  schon die Gattung homo sapiens ihr Siedlungsgebiet im den Savannen Ostafrikas gezwungenermaßen verlassen, um dem Biß der Tsetsefliege zu entgehen. Solange Historie nachweisbar ist, begleiten Kriege und durch Kriege ausgelöste Vertreibungen und Versklavungen  die Menschheit. Vielleicht können psychisch stabile Erwachsene auch schlimme Situationen bewältigen. Wenn aber der äußere Druck zu groß ist oder aufgrund frühkindlicher psychischer Schäden die psychische Ich-Struktur zu schwach, entwickeln sich als Folge erzwungener Migration psychische Störungen.

Ich habe  bei  Psychotherapien meiner Patienten sehr oft bemerken müssen, daß neben frühkindlichen Personenverlusten der nichtaufgearbeitete erzwungene Heimatverlust bei Flucht oder Vertreibung eine Rolle spielte. Da über die damit im Zusammenhang stehenden Gefühle nicht gesprochen werden durfte, entstand eine Sprachlosigkeit wie bei Störungen in der präverbalen Phase der Entwicklung. Zugleich gab es massive Beziehungsstörungen, die abgewehrt werden mußten. Familien, in denen die Großmutter z.B. fliehen mußte, waren oft derart verbogen, daß das Enkelkind sich nie aus dem Familienverband lösen konnte.

Das kommt häufig vor. Die Sozialpsychiatrie hat bei der Beschäftigung mit den deutschen  Flüchtlingen und Vertriebenen die Möglichkeit, beispielhaft für erzwungene Migrationen überhaupt Erfahrungen zu machen und Prophylaxen vorzuschlagen. Daher ist die Frage, ob die erzwungene Migration eine Frage für die soziale Psychiatrie ist, absolut praktisch und zukunftsweisend. Sie ist deshalb praktisch, weil man am Beispiel der deutschen Flüchtlinge und Vertriebenen zeigen kann, daß trotz wirtschaftlicher Integration die Seele leidet, was aber oft übersehen wird wegen der damit einhergehenden Sprachlosigkeit und der gut funktionierenden Anpassungsfassade. Damit wird auch deutlich, daß die erzwungene Migration die deutsche soziale Psychiatrie etwas angeht und für sie hochrelevant ist. Sie muß aber aus dem vorhin aufgezeigten Tabu erst herauskommen.

Um Kraepelin abzuwandeln, gestattet dann die aus der freiwilligen und erzwungenen Migration folgende Entwurzelungsfrage, die von der Sozialpsychiatrie und Psychotherapie gemeinsam zur Sprache gebracht wird, mit anderen Problemen einen flüchtigen Ausblick in die Zukunft einer Wissenschaft, die wir heute nur erahnen können – eine die Geschichte einbeziehende und auf den individuellen Menschen bezogene Migrationspsychiatrie.

[i]. zitiert nach Antonio Morten: Begrüßungsansprache bei der Fachtagung der Arbeiterwohlfahrt und der DGSP vom 1. – 3.11.1985 in Bonn “Migration und psychische Gesundheit. Zur psychosozialen Lage von Migranten in der Bundesrepublik Deutschland“, aus About Uprootimg von E. Kraepelin, übernommen aus „Uprooting and related enonema, a descriptive bibliography by Charles Zwingmann, WHO-Dokument und sinngemäße Übersetzung

[ii]. Christian Zentner: Der große Bildatlas zur Weltgeschichte, List-Verlag, München 1982, S. 526-527

[iii]. F. W. Putzger: Historischer Weltaltlas, Jubiläumsausgabe, 92. Auflage, Berlin und Bielefeld 1970, S. 145

[iv].vgl. Putzger: a.a.O. S. 146

[v].vgl. Christian Zentner: a.a.O. kleine Tafel S. 526

Franz Peschke
Möglichkeiten aktiver und passiver Lebensgestaltung am Beispiel der Migration

Vortrag beim migrationspsychiatrischen Seminar „In der Fremde und mit Fremden laufen lernen“ innerhalb der 47. Gütersloher Fortbildungswoche „Das Krankenhaus lernt laufen“ am 28.9.1995

Meine Damen und Herren,

Migration ist für Menschen etwas ganz Natürliches. Schon unser ausgestorbener Vorfahr, der homo erectus, besiedelte vor einer Million Jahr von Afrika aus ganz Eurasien. Der homo sapiens begann vor etwa 60.000 Jahren ebenfalls von Afrika aus die Eroberung der Kontinente. Sehr lange vermehrten sich die Menschen der Gattung homo sapiens langsam, aber stetig. Ausgelöst durch die moderne wirtschaftliche Revolution seit 1760 wurden die Menschen in kurzer Zeit so zahlreich, daß für die Milliarden Menschen die Erde heute bald zu klein ist.

Sehr wahrscheinlich waren klimatische Veränderungen in Ostafrika, die eine zunehmende Versteppung brachten, ursächlich dafür, daß unsere Vorfahren vor 60.000 Jahren auf Wanderung gingen.

Schon hier kann man einen, von Soziologen und Sozialhistorikern beschriebenen Grund für Migration sehen: klimatische Veränderungen. Als andere Gründe für heutige Migrationswellen werden folgende Faktoren angegeben: Überbevölkerung, Arbeitslosigkeit, politische Verfolgung, innerfamiliäre Schwierigkeiten, besseres Lohnniveau und bessere Ausbildungsmöglichkeiten mit Chancen des sozialen Aufstiegs im neuen Land, bessere ärztliche Versorgung und sogenannte pathologische Fluchtversuche bei präpsychotischen Menschen.

Meistens werden diese Faktoren aufgezählt, ohne sie im Zusammenhang mit einer historischen Situation zu sehen. Sie werden also von der konkreten Situation isoliert. Es ist richtig, unsere Vorfahren in Ost-Afrika wollten wahrscheinlich dem durch die klimatischen Veränderungen möglichen Hungertod entgehen. Ihre Migration dürfte damit keine primär freiwillige gewesen sein. Äußere Bedingungen, die schicksalhaft waren und auch so erlebt werden mußten, waren der Auslöser für die Ur-Migration unserer Vorfahren. Es zeigt sich darin aber zugleich die Intelligenz dieser Menschen. Denn sie nutzten die Migration dazu, aus einer für sie evtl. tödlichen ökologischen Nische herauszukommen und das Überleben der Gene und der Art zu sichern. Migration hatte also einen positiven Sinn. Daß die Migration als Strategie, die Gene zu sichern, erfolgreich war, kann man an der heute bedrohlichen Überbevölkerung erkennen, die z.B. China dazu zwingt, mit Strafandrohung Ein-Kind-Familien durchzusetzen. Die heutige Überbevölkerung zeigt aber zugleich, daß jetzt eine Grenze für diese erfolgreiche Art, die Gene zu vermehren, erreicht ist.

Unsere Vorfahren lebten  sehr lange Zeit in Horden oder kleinen Stämmen, also in kleinen Gruppen, die ihnen nach außen hin Geborgenheit gaben. In diesen Gruppen als  Verwandtengruppe trugen die Hordennmitglieder das eigene Erbut weiter, das sich von anderen Horden zunehmend unterschied, aber zugleich das gemeinsame Erbe vom Beginn der Menschheit beinhaltete. Die verschiedenen Horden oder Stämme nannten sich daher oft zu Recht einfach „Menschen“, weil sie sich unbewußt als Teil der Urmigraten erlebten, die „die Menschen“, d. h. die ersten Menschen waren. Zu dieser Zeit gab es keine Individualmigration. Wenn ein einzelner Mensch sich vom Stamm isolierte, war er unrettbar verloren. Initianden solcher Ur-Horden müssen sich deshalb oft z.B. im Walde oder einer einsamen Hütte isolieren, um die durch die Isolierung ausgelösten Ängste als Halluzinationen oder Wahnideen erleben zu können. Das hat zugleich den positiven Sinn, dadurch die Geborgenheit in Horde oder Stamm deutlicher zu spüren. Der einzelne war ganz auf die Gruppe angewiesen und mußte dies auch wissen.

Mit der neolithischen Revolution, dem Ackerbau und der neu erfundenen Stadtkultur gab es einen qualitativen Sprung, um marxistisch zu argumentieren. Denn jetzt wurden Menschen im Iran/Irak, Syrien und anderen Teilen des Nahen Ostens zum ersten mal für längere Zeit seßhaft. Die Stadtkultur wurde durch Migrationswellen von Nomadenvölkern ausgelöst und unterhalten. Durch sie wurde zuerst in diesem Bereich der Erde die alte Horden- und Stammeskultur relativiert, genichtet und aufgelöst. Historiker nennen diese neue mit dem Schriftwesen einhergehende städtische und staatliche Lebensform eine Hochkultur.

Man könnte mit Recht sagen, daß in diesem historisch bedeutsamen Zeitpunkt die Stämme, welche die neue Stadt-Kultur aufbauten, für alle anderen Menschen geschichtswirksam waren. Ihre Entscheidung, statt weiter zu wandern, seßhaft zu werden, zog nach und nach alle anderen Menschen in diese gleiche Richtung. Der weitere Geschichtslauf war damit festgelegt. Sie nutzten ihre Chance, sich durch Bau von Bewässerungsanlagen, durch Feldbau und Viehwirtschaft und durch eine streng gefügte, autoritäre Ordnung das Leben angenehmer zu machen und Macht auszuüben, allerdings unter Verlust ihrer Beweglichkeit. Auch für diese historische Entscheidung vermutet man klimatische oder ökonomische Ereignisse als Auslöser.

Geschichtsbücher, die bis vor kurzem die Vorgeschichte und damit die Millionen Jahre alte Migration der Menschen unterdrückten, zeigten ein Bild, bei dem die neue Stadt- und Hoch- Kultur als regelhaft und Seßhaftigkeit als das Normale betrachtet wurde. Dadurch konnte die Migration als irregulär und fehlerhaft dargestellt werden. Das geht auch meist in die migrationspsychiatrische Diskussion so mit ein. Dazu kommt, daß wir heute Migration meist als ein Individualgeschehen auffassen, das nur schwer zu bewältigen ist. Das zeigen die sozialpsychiatrischen Theorien dazu. Wer migriert, tut es deshalb, weil er einem Elend (z.B. Hunger, Verfolgung usw.) entfliehen will. Oder er geht in die Fremde, ist dort isoliert und erleidet durch sozio-kulturelle Streßfaktoren wie Klimawechsel, Ernährungsumstellung, Wohnortwechsel und mangelnde Sprachkenntnisse einen „Kulturschock“, der psychisch krank macht, die Migranten also ins Elend stürzt. Ich möchte darauf hinweisen, daß das deutsche Wort Elend vom Wort eli lenti, einem Lokativ; abstammt. Dieses Wort eli lenti bedeutet nichts anderes als im anderen Land, es war  also ganz neutral gemeint und hat erst später eine Pejorisierung, eine Verschlechterung der Wortbedeutung  zum heutigen Wort Elend hin erfahren.

Eli lenti, im anderen Land. Wenn wir uns diese Bedeutung ansehen, wird deutlich, daß dieses Wort den historischen Abstand anzeigt, den die Schöpfer dieses Wortes von ihren migrierenden Vorfahren vor 60.000 Jahren trennt. Diese Vorfahren hätten von in einer anderen Horde oder einem anderen Stamm sprechen müssen. Zu bedenken ist aber, daß lenti nicht den modernen Staat meint.

Die soziokulturelle Betrachtungsweise legt also nahe, daß der äußere Druck durch Krieg, Hunger, Vertreibung und ähnliches so groß ist, daß eine Migration unausweichlich wird. Das mag in vielen Fällen stimmen. Es ist aber sehr viel wahrscheinlicher, daß die körperlich Gefestigteren und die, welche entscheidungsfähig sind und damit eine gewisse psychische Stabilität haben, eher migrieren als die, welche  präpsychotisch sind. Denn, um die genannten Faktoren „Hunger, Krieg“ usw. richtig einschätzen zu können und rechtzeitig zu fliehen, ist eine gewisse Realitätssicht nötig.

Man muß sich aber wundern, daß manche Menschen trotz Gefahr nicht fliehen oder fortziehen. Ich habe vor kurzem eine Fernsehsendung gesehen, in der Menschen und ihre neu erbauten Häuser am Fuß von Vulkanen zu sehen waren. Einige der gezeigten Vulkane waren erst vor kurzem ausgebrochen und noch voll aktiv. Trotzdem bauten die Menschen wegen des guten Bodens am Boden der Vulkane ihre Häuser und bestellten ihre Felder und lachten, als sie gefragt wurden, ob sie nicht rechtzeitig dem drohenden Unheil entfliehen wollten. Und das auch, als ihnen Bilder der Toten von Pompeji und Herculaneum gezeigt wurden.

Man muß also mit dem Beharrungsvermögen der Menschen rechnen. Nur Vorsorgliche ziehen rechtzeitig fort. Es ist wie mit dem Brüderpaar Prometheus und Epimetheus. Prometheus bringt den Menschen das Feuer und damit die Kultur. Er weiß, er wird dafür von Zeus bestraft werden, plant das sogar ein, weil er weiß, er wird gerettet. Er denkt voraus. Epimetheus aber nimmt als Geschenk die Pandorabüchse an. Er öffnet sie, ohne vorher zu fragen, was drin ist. Heraus kommen Eifersucht, Angst, Wut usw. Erschrocken macht er den Deckel wieder zu und läßt Liebe, Freude, Zuversicht usw. in der Büchse. Er dachte erst, als das Unheil da war.

Wenn aber erst eine Situation da ist, in der eine Ausweichen nicht mehr möglich ist, gelingt oft die Flucht oder Migration nicht mehr. Das betrifft alle, die ein Ereignis wegen seines Überraschungseffektes nicht rechtzeitig orten konnten. Eine aktive Lebensgestaltung ist hier nicht mehr möglich. Man versteinert wie die Menschen in Pompeji.

Heute denkt man, wenn man an Migration denkt, an die einzelnen Menschen, die migrieren. Auch diese Individualmigration ist aber eigentlich eine Migration von meist vielen Individuen aus ähnlichen Begründungen. Jeder flieht z.B. bei Krieg für sich, gehört aber doch zur größeren Gruppe des Volkes, aus dem er stammt. Daß Migration ein Gruppengeschehnis ist, wird besonders deutlich an den Millionen von dispaced persons, die im Krieg zur Zwangsarbeit ins Deutsche Reich verschleppt oder kriegsgefangen wurden. Sie wurden in Zugtransporten verschleppt und wurden in Zugtransporten nach dem Krieg wieder in ihre Heimat gebracht.

Die sowjetischen displaced persons, auch die, welche auf deutscher Seite gegen Stalin gekämpft hatten, zeigen deutlich, welche Faktoren in solchen Fällen ein Migrantenleben gelingen lassen oder nicht. 1941, bei Beginn des Krieges gegen die Sowjetunion, drangen die Deutschen rasch vor. Ein Teil der Ukrainer, Letten, Litauer und Esten, die eine Herauslösung ihrer Länder aus der UdSSR anstrebten, entschieden sich, sich in deutsche Dienste zu stellen und gegen Stalin und damit ihr Heimatland zu kämpfen. Sie nutzten, wie sie meinten, die Gunst der Stunde, um ihr Ziel, z.B. eine freie Ukraine zu erreichen. Dazu verließen sie ihre Heimat. Ein anderer Teil von Sowjetbürgern wurde kriegsgefangen oder ebenso wie vorher viele Polen gewaltsam zur Zwangsarbeit im Deutschen Reich verschleppt. Sie lebten in Lagern oder bei Bauern und hatten keine Rechte. Und sie waren der Willkür oder dem Wohlwollen ihrer deutschen Arbeitgeber ausgeliefert.

Einige von ihnen bekamen eine Heimwehreaktion. Gefährlich war es, wenn diese oder eine schwere psychische Krankheit wie eine Schizophrenie zur Arbeitsunfähigkeit führte. Denn während sie, wenn sie arbeiteten, eine gewisse Überlebenschance hatten, waren sie nun dem Tode geweiht. Sie wurden in bestimmten Phasen des Krieges in ihre besetzte Heimat abgeschoben und dort oder in deutschen Euthanasieanstalten vergast. Die deutsche Gewaltherrschaft hatte ihnen ihre Heimat, ihre Rechte und ihre Würde genommen. Zuletzt nahm sie ihnen auch noch bewußt und ökonomisch motiviert ihr schon zur Passivierung gewendetes Leben.

Das Kriegsende 1945 ist bei Historikern umstritten. Es gab und gibt den Historikerstreit mit der Frage, ob das Kriegsende eine Befreiung war oder nicht. Meist denkt man an das besetzte und geteilte Deutschland. Für die Millionen verschleppter oder kriegsgefangener Sowjetbürger sollte man meinen, es war eine Befreiung, die endlich wieder ein aktives Leben im eigenen Recht ermöglichte. Dem war aber nicht so. Denn bei dem berühmten Jalta-Abkommen, das das Schicksal der Ostprovinzen Deutschlands und die heute staatsrechtlich überwundene deutsche Teilung besiegelte, wurde ein Geheimabkommen beschlossen, das bestimmte, daß alle Sowjetbürger auch gegen deren erklärten Willen, also  zwangsmäßig repatriieren (repatriiert werden) sollten. Die UNRRA, die Flüchtlingsorganisation der Vereinten Nationen, half bei der zwangsweisen Heimschaffung. Viele Sowjetbürger, die auf deutscher Seite gekämpft hatten, wie die Kosaken an der Drau, schnitten sich mit ihrem Schwert die Gurgel durch oder stürzten sich mit ihren Kindern die Brücke hinunter, um nicht in sowjetische Hände zu fallen. Sie hatten recht. Denn in Stalins Lagern erwartete sie und ihre kriegsgefangenen oder zur Zwangsarbeit bei den Deutschen verschleppten Mitbürger verschärfte Zwangsarbeit oder gleich der sichere Tod. Bei der Amnesie unter Chruschtschow lebten nur noch etwa 20 Prozent von ihnen.

Ich schildere dies so ausführlich, weil Migration  Chance oder Fluch sein kann. Historische Umstände wie Kriegsbeginn, Kriegsende, Tauwetterperiode, Ende des Ost-West-Konflikts mit dem Ende der Sowjetunion oder die deutsche Teilung oder Wiedervereinigung  bestimmen aber als äußere Faktoren darüber, in welche Situationen der einzelne gerät. Er muß dann bestimmen, ob er fähig ist, die zum Teil sich schnell wandelnde Situation für sich zu nutzen kann oder nicht.

Vor längerer Zeit habe ich einen Patienten psychotherapeutisch betreut. Er war gleich nach seiner unehelichen Geburt von seiner Mutter in Pflege gegeben worden, weil sein Vater, ein US-Amerikaner, die Mutter nicht heiratete und nach den USA zurückkehrte. Als der Patient etwa zwei Jahre alt war, heiratete die Mutter einen anderen US-Amerikaner, der dem Kind seinen Nachnamen gab. Der Patient wurde von der Mutter in die neue Familie geholt und wuchs als Deutscher im US-Camp wie ein Amerikaner auf. Der Stiefvater erreichte, daß der Patient die amerikanische Schullaufbahn durchlief. Zuletzt absolvierte er zwei Semester auf einer Außenstelle der Maryland-University, obwohl diese nur amerikanischen Soldaten offenstand. Nach einem zum Teil abenteuerlichen Leben mit vielen Beziehungs- und Arbeitsabbrüchen kam der Patient mit anhaltenden Angst- und Panikstörungen in unsere Klinik. Ich arbeitete mit ihm, und die Ängste reduzierten sich. Sie waren aber tiefsitzend und konnten allein durch die stationäre Therapie nicht durchgearbeitet werden. Nach längerer Zeit wurde deutlich, daß der Patient seit seiner Kindheit einen großen Wunsch hatte. Er wollte Medizin studieren. Es stellte sich nun heraus, daß er sich gewissermaßen strafbar gemacht hatte. Als Deutscher hätte er der deutschen Schulpflicht genügen müssen. Die in Deutschland erworbene amerikanische Schulbildung galt nicht. Er stand so da, als sei er nie zur Schule gegangen. Mit viel Geduld und Bürokratie bekam der Patient kurz vor seiner durch die Kostengrenze der Krankenkasse vorzeitigen Entlassung vom bayerischen Kultusministerium im Sinne einer Ausnahmeregelung die schriftliche Zusage, daß die amerikanische Schulbildung, wenn er, wie möglich, noch ein weiteres Semester an der Maryland-University studierte, im Sinne einer Ausnahmeregelung als deutsches Abitur anerkannt werden würde oder er dann regulär studieren könne.

Dann mußte ich den Patienten in ambulante Behandlung entlassen. Er war zu diesem Zeitpunkt noch sehr ambivalent und entschlußlos. Er jobbte und absolvierte nicht gleich das notwendige Semester an der Maryland-University. Als er sich dann doch dazu aufraffte, konnte er es nicht mehr. Inzwischen war infolge der raschen deutschen Einigung durch den starken Teilabzug der amerikanischen Soldaten die Außenstelle der Maryland-University, an der er hätte studieren können, aufgelöst worden. Der Patient hatte durch seine innere Entschlußlosigkeit und noch nicht gelösten psychischen Probleme die ihm schon angebotene letzte Chance verpaßt, den seit Kindheit geplanten Berufswunsch zu erfüllen. Ich schildere diesen Fall, weil ich damit zeigen kann, wie man durch innere psychische Arretierungen bei sich plötzlich verändernder Weltlage an sich selbst vorbeileben kann. Man kann das nur sagen: Es sollte wohl nicht sein.

Aber, um oben anzuknüpfen: Häufig geraten Menschen  zwischen die Fronten und werden von der einen Seite gegen die andere Seite funktionalisiert und propagandistisch vermarktet. Wer gut oder schlecht ist, kann keiner sagen. Als Honegger bei seiner Verhaftung in Moskau mit sozialistischem Gruß die Faust ballte, hieß es, „Natürlich, der alte sozialistische Betonkopf“. Hätte er es nicht gemacht, hätte man gesagt: „Aha, ein Wendehals.“ Oft, wie beim Ende der realsozialistischen Staaten, glaubt man, das Ergebnis der Geschichte zeige schon, was das richtige sei. Aber das ist ein Irrtum. Deshalb ist es auch beim Historikerstreit so schwierig, sich klar auf eine Seite zu stellen. Die Ukrainer oder Balten, die im Zweiten Weltkrieg auf deutscher Seite gekämpft hatten, werden jetzt nach dem Ende der Sowjetunion als Vorkämpfer für ihre heute freien Länder betrachtet. Ähnlich hat das heutige sog. freie Kroatien im Ustascha-Staat, der im Zweiten Weltkrieg mit Hilfe der Nazis geschaffen wurde, seine Wurzeln.

Schlimm ist, daß Politiker und Militärs die Menschen dabei zerreiben. Im guten Glauben werden Migranten Verräter am eigenen Land, werden aber auch von der anderen Seite als Verräter betrachtet.

Migration hat aber letztlich als äußere Faktoren immer ökonomische Gründe. Dazu kommt aber noch die innere Motivation, die in den Bemerkungen von den innerfamiliären Schwierigkeiten und der präpsychotischen Persönlichkeitsstruktur anklingt und die ich bei meinem Fall gestreift habe. Bei rein gewaltmäßiger von außen motivierter Migration fehlt in der Regel die innere Motivation zur Migration. Bei rein wirtschaftlicher Migration, z.B. bei Wirtschaftsflüchtlingen oder Gastarbeitern, muß aber auch eine innere Motivation zur Migration vorliegen. Motivierend können innere neurotische oder psychotische Konflikte sein, aber wohl sehr viel öfter ist die Motivation wohl verknüpft mit vollem Verstehen der Möglichkeiten, Chancen und Perspektiven und klarer Entscheidung für die Migration nach Abwägen aller sichtbaren Varianten.

Ob und wie dann ein Sich-Einleben in die neue fremde Heimat gelingt, hängt von verschiedenen Faktoren ab. Es ist ja gar nicht wahr, daß der Kulturschock immer voll durchschlägt. Wenn jemand allein, ohne Angehörige und sonstige Kontakte, ausreist, er ängstlich und kontaktscheu ist und aufgrund seiner inneren Starrheit und ungelöster innerer Konflikte, die aus seiner Kindheit stammen, auch Umstellungsschwierigkeiten hat, kann es vorkommen, daß er scheitert. Die alten ungelösten Probleme, die Heimwehgefühle ziehen ihn zurück oder lassen ihn akut erkranken.

Viel öfter aber findet der Migrant bald Anschluß an Menschen seiner Heimat, die mit ihm wenigstens teilweise seine alten Bräuche und Gedanken teilen, die ähnliche Ziele haben wie er, die mit ihm seine Heimatsprache sprechen.

Der Migrant kann dann in diesem Rahmen sein Leben aktiv bewältigen. Er kann dies tun, weil er nicht isoliert ist, befriedigende Kontakte hat und einen Teil seiner Identität im neuen Land behält.

Schwierigkeiten gibt es dann, wenn er diesen Rahmen verläßt. Ist er psychisch stark, wird er bald die neue Sprache lernen, sich neugierig mit der Kultur seines Gastlandes auseinandersetzen und eine Integration seiner alten mit der neuen Identität finden. Immer wird aber in ihm eine Bruchstelle sein, die durch Minimalsymptome wie z.B. sprachliche Un- oder Übergenauigkeiten oder Unsicherheiten in bestimmten Situationen oft erst bei genauem Hinsehen sichtbar ist.

Ist er psychisch nicht so stark, wird er evtl. auch die Sprache lernen, sich verhalten wie die Gastgeber, viel arbeiten, um seinen sozialen Status zu erhöhen (ich denke auch an viele deutsche Heimatvertriebene), letztlich aber nur eine fassadäre Anpassung ohne eigentliche Identität mit innerer Leere und Insuffienzgefühlen haben.

Ich habe einige Familien von deutschen Migranten aus Rumänien, der Sowjetunion und Polen gesehen, in denen die gemeinsame Auswanderung als Thema hochgehalten wurde. Die Familienmitglieder sprachen untereinander den altertümlichen Dialekt, nach außen die Hochsprache. Nach innen hielten sie an ihren alten religiösen Bräuchen fest. Die Familienmitglieder waren untereinander stark gebunden, die Kinder durften z.B. nicht einmal, obwohl sie  17 Jahre alt waren, zur Disco. Sexualität wurde geleugnet. Immer wieder wurde die alte Heimat beschworen und der neuen, ursprünglich idealisierten, jetzt aber abgewerteten Heimat entgegengesetzt. Kontakte nach außen wurden gemieden. Als Kulturschock wurde erlebt, daß die neue Heimat nicht das hergab, was sie versprach. Im Wir-Gefühl nach innen und Abgrenzung nach außen blieb die Familie stabil, aber auch starr und statisch. Es kam erst zu dramatischen Entwicklungen, als ein Kind es wagte, auszubrechen. Die Familienmitglieder, besonders die ältere Generation reagierte mit psychosomatischen Erkrankungen bis zum Magendurchbruch. Die rebellierenden Kinder waren selbst zeitweise schwer krank und reagierten stark mit Schuldgefühlen.

So kann sich eine Familie, Horde oder nationale Gemeinschaft zwar durch Geborgenheit stabilisieren, sie kann aber auch durch Isolation nach außen dem Einzelnen den Weg zur eigenen Identität verbauen und ihn trotz äußerer Migration nicht die seelische dazu notwendige Entwicklung mitvollziehen lassen. Es steht hier Geborgenheit in einer Gruppe gegen eigene Entwicklung mit dem Übergang der Isolierung.

Es gibt übrigens ein historisches Beispiel, bei dem eine selbstgewählte Isolation in der Migration große Folgen zeigte. Es handelt sich um die iroschottischen Mönche. Sie verließen bewußt ihre Heimat, unterstellten sich dem Papst unter dem Zeichen von Petrus und gingen in das fränkisch-karolingische Reich. Hier waren sie sehr am Zustandekommen der sog. karolingischen Renaissance beteiligt. Sie waren vereinzelt und isoliert. Trotzdem war letztlich  die Migration der iroschottischen Mönche doch ein Gruppenphänomen. Die gewollte Isolierung kann man aber heute noch daran erkennen, daß auf Bildern dieser Zeit die Figuren isoliert im Raum sind und an einer Schreibeigentümlichkeit, die damals aufkam und die wir heute noch haben. Anders als im Altertum schreiben wir seitdem bis heute nämlich mit Zwischenräumen, Wort für Wort getrennt und damit vom Nachbarwort isoliert. Die Idee der heilbringenden Isolation war damals im Beginn der Europäischen Individuation überall zu spüren. Nicht umsonst kam nur wenig später auch aus dem Norden die Mode auf, das „Ich“ grammatikalisch extra zu setzen und zu betonen. Auch amo wurde französisch j´aime.

Mit dem Beispiel der iroschottschen Mönche möchte ich zugleich deutlich machen, daß man Migration auch unterschiedlich definieren kann. Es gibt eine synchronische und eine diachronische Migration. Der gesamte Prozeß der Evolution und der soziokulturelle Wandel, wie ihn dieses Beispiel zeigt, bringt ständig Neues. Es gibt zwar Zeiten, in denen die Neuerungen nur verschwindend gering sind, wie es auch Zeiten eines beschleunigten soziokulturellen Wandels wie die neolithische und die französische Revolution gibt. Dieser schnelle oder langsame Wandel ist aber eine ständige Migration, im Sinne einer stetigen und unstetigen Wandlung. Daneben und meist so verstanden ist eine synchrone Migration die Wanderung gerade lebender Menschen. Ich halte diese Unterscheidung deshalb für wichtig, weil auch nicht-sychchrone Migration, also der soziokulturelle Wandel, Chancen bieten und eine Identität bilden helfen, aber auch  Verunsicherung bringen und die Identität in Frage stellen kann. Damit sind wir alle Migranten und müssen unser Leben bewältigen, wobei es keine einfache Lösung geben kann, da wir alle irgendwo dazwischenstehen, teilweise alte, ungeprüfte Werte neben durchdachten Entscheidungen haben und oft mehreren Herren, symbolisch gesagt, zugleich dienen müssen. Es gibt nicht schwarz oder weiß, sondern nur verschiedene Grautöne. Man kann sein Leben nur mehr oder weniger gut bewältigen. Am besten gelingt das Leben und die Migration aber dann, wenn der Migrant bindungsfähig ist, Kontakte knüpfen und ausbauen kann, übertragungsfrei leben kann und flexibel eine eigene Identität aufbauen kann. Das gelingt aber nur im Kontakt mit anderen liebenden Menschen. Die dazu nötige  Sprachfähigkeit und Sprache ist dann mehr als die Beherrschung grammatikalischer Regeln, es ist ein flexibler und emotional angepaßter Umgang mit den emotionalen Schwingungen zwischen Menschen. Damit möchte ich für heute schließen. Ich wollte nur einige Schlagzeilen auf dieses Thema werfen und bitte um reichliche Diskussion. Zugleich bedanke ich mich bei Herrn Prof. Dörner und allen Organisatoren dieser Veranstaltung.

Franz Peschke:
ICD 10 und Fallpauschalen - über das reduktionistische Denken der heutigen Psychiatrie und Psychotherapie

Vortrag beim Dreiländer-Kongreß der Ergotherapieverbände Deutschland – Schweiz – Österreich (21.05. bis 24.05.1998) am 21.05.1998 um 14 Uhr in Karlsruhe

Erst vor wenigen Tagen wurde in der psychiatrischen Klinik Heidelberg ein Denkmal für die Kinder errichtet, die im Zweiten Weltkrieg „Patienten“ in Carl Schneiders  Forschungsabteilung in der Psychiatrisch-Neurologischen Klinik Heidelberg waren und danach in der Anstalt Eichberg ermordet wurden, um das „Forschungsprogramm“ durch Sektion und histologische Aufbereitung ihrer Gehirne abrunden zu können. Diese Forschung  war eingebettet in die „Euthanasie“-Aktion und allgemeiner gesagt  in das Programm der Nazis, das der Sozialpsychiater Klaus Dörner den „Krieg gegen die psychisch Kranken“ genannt hatte. Dazu gehörten massive schon ab 1934 Pflegekostenreduktionen, die Sterilisation von circa 400.000 sogenannter Erbkranker, Forschung über den Tod hinaus und als „Eurhanasie“ bezeichnete Ermordung durch Vergiftung, Vergasung und Verhungernlassen zehntausender psychisch Kranker Menschen.

Es ist wichtig, sich klarzumachen, daß dieser „Krieg gegen die psychisch Kranken“ stattfand auf dem Boden der damaligen Ansichten über psychische Krankheiten, der damaligen wirtschaftlich-politischen  Situation, sowie auf dem Boden  der allgemeinen Geschichte und der Mentalitätsgeschichte.

Die Nazis setzten Ideen, die teilweise schon vorher da waren, in ihre Ideologie und ihr daraus abgeleitetes Handeln um. Wie der Psychiater und Medizingeschichtler Heinz Faulstich am Tag nach der Errichtung des Denkmals in Heidelberg bei der  Tagung im Schwarzacher Hof bei Aglasterhausen, von wo die ermordeten Kinder ursprünglich gekommen waren, berichtete, hatten die Sparmaßnahmen in den psychiatrischen Anstalten schon zur Zeit der Weimarer Republik begonnen. Die Nazis waren in der Fortsetzung der Sparmaßnahmen aber ganz konsequent und zeigten in der Folge ganz deutlich, worum es ihnen eigentlich ging, nämlich um die Bemächtigung der Menschen bis zur Ermordung, die letztlich zu vielen Millionen von Toten im Zweiten Weltkrieg und zu völliger Zerstörung führte. Wie John Douglas in dem Buch „Die Seele des Mörders“ schreibt, sind Merkmale gewaltorientierter Serientäter Macht, Manipulation, Dominanz und Kontrolle. In der Vorphase findet sich häufig  Brandstiftung. Die Täter fangen schon früh an, ihre Gewaltphantasien zu entwickeln, üben und auszubauen. So lange, bis sie ihre Phantasien in die Tat umsetzen. Adolf Hitler hatte seine Phantasien im Gefängnis in Landsberg/Lech Rudolf Hess diktiert. Das Buch „Mein Kampf“ zeigt schon in aller Deutlichkeit auf, was später geschah. Es wurde aber nicht ernstgenommen, weil mit derartigen Massenmördern noch keine Erfahrung bestand. Macht, Manipulation, Dominanz und Kontrolle sind aber auch Erfahrungen, die nicht nur individuell zu verstehen sind. Das Dritte Reich und die Sowjetunion Stalins zeigen exemplarisch, wie Macht, Manipulation, Dominanz und Kontrolle auch auf der staatlichen Ebene wirken. Von daher sind die Nazis und das Dritte Reich in diesem Punkt in eins zu setzen.

Es ist nun die Frage, ob das Tun der Nazis im Dritten Reich etwas einmaliges ist oder ob sich darin etwas allgemeineres, etwas Zeitgeschichtliches ausdrückt, das mit der ganzen Epoche zusammenhängt und auch heute wirkt.

Seit Jahren wird unsere Epoche die „Postmoderne“ genannt. Der Amerikaner Paul Feyerabend hat für das Programm der Postmoderne den Leitsatz „Anything goes“ geprägt. Man kann ihn verschieden übersetzen. Er könnte z.B. übersetzt werden mit: „Alles ist möglich.“ Das ist ein Satz von Größenwahnsinnigen. Oder mit „Alles ist wurscht.“, einem Satz von Negativisten. Oder auch mit „Alles ist erlaubt.“ Das ist ein Satz von Grenzüberschreiten und Kriminellen.

Die Nazis überschritten alle Grenzen, indem sie über andere Menschen die totale Kontrolle ausüben wollten. Insofern waren sie postmodern. Ihnen waren die Menschen wurscht und egal, sie erniedrigten sie zu Objekten, manipulierten sie, mordeten sie sogar extra zu dem Zweck der Forschung.

Heute nun ist der Leitsatz „Anything goes“, wie gesagt, zum Leitsatz geworden. Wir leben in der Postmoderne. Forschung wird wie bei dem Human Genome Project international betrieben. An Größenwahn erinnernde Ideen wie das Klonen von Mensch und Tier zeigen auf, wie stark die Forscher von einem Machtwillen beseelt sind, über Tier und Mensch Kontrolle auszuüben. Reproduktionsmediziner (ein technischer Ausdruck) zeugen neues menschliches Leben in der Petryschale, Humangenetiker hoffen, nach Beendigung des Human Genome Projektes die Möglichkeit zu haben, durch Gentherapie und direkten Eingriff in das Erbgut auf somatischer oder Keimbahnebene Krankheiten wie die verschiedenen Formen erblichen Schwachsinns oder Schizophrenie  abzuschaffen. Wenn man die wissenschaftlichen Möglichkeiten in der Humangenetik in der Naziära mit den Möglichkeiten heute vergleicht, wird deutlich, wieviel mehr an Möglichkeit zu Macht, Manipulation und Kontrolle heute gegeben ist. Die Grenzen sind in alle Richtungen geöffnet. Der Forscherdrang schafft  neue Tier- und Pflanzenformen wie Schiegen, Zafe und Tomoffeln. Anything goes, alles ist möglich, alles machbar. Auch das Klonen von Menschen ist denkbar. Es gibt zwar Ethikkommissionen, aber  diese Forschung lässt sich nicht aufhalten Sie hat sogar die UNESCO auf ihrer Seite. Diese Forschung greift direkt in das Selbstverständnis der Psychiatrie ein. Die Diagnosen können heute auf der genetischen Ebene teilweise viel genauer gestellt werden als noch vor wenigen Jahren. So brauchte man heutzutage nicht mehr nur schwere oder schwerste Intelligenzminderung  zu diagnostizieren, sondern man könnte genauer angeben:  „schwere Minderbegabung, Y-mentale Retardierung  mit Defekt im Oligophrenin 1“ .

Für eine derartige exaktere Diagnose ist der neue Diagnoseschlüssel  ICD 10 gut geeignet. Mit seiner Hilfe  könnte die Diagnostik für den Zweck einer Sterilisierung oder Gentherapie erleichtert werden. ICD 10  wurde von Experten der Weltgesundheitsorganisation geschaffen und gilt daher weltweit. ICD 10 zeichnet sich gegenüber dem Vorgänger ICD 9 dadurch aus, daß statt der Kodierung von 001 bis 999 eine alphanumerische Kodierung, also eine  mit  Buchstaben und Ziffern benutzt wird. Das führte dazu, daß die Zahl der Diagnosen von 999 im ICD 9 im ICD 10 massiv erhöht wurde und in weiteren Revisionen auch noch werden kann. Für den eigentlichen Bereich der psychiatrischen Diagnosen bedeutet das, daß es gegenüber früher 30 jetzt 100 Hauptdiagnosen gibt. Die alten Diagnosen wurden  operationalisiert, computerlesbar gemacht  und zersplittert. Es geht nicht um Patienten, um kranke Menschen, sondern um möglichst rasche Einordnung von Symptomen, möglichst zeitsparend und effektiv. Die Diagnose ergibt sich nicht nach einem einem persönlichen Gespräch zwischen Psychiater und Patient, sondern durch Einschätzskalen und mit Hilfe sogenannter Flussdiagramme. Dazu passt, daß altbekannte Unterscheidungen wie die zwischen Neurose und Psychose zugunsten des Begriffes „Störung“ aufgegeben wurden. Jeder psychisch Kranke ist jetzt „gestört.“  Der ICD 10 beinhaltet einen teilweise atheoretischen, rein pragmatischen Ansatz, der aber dazu führt, daß lebende Menschen wie Autos eine „Störung“ haben und der Psychiater nicht mehr von der Einheit der Person ausgehen muss, sondern wissenschaftlich verbrämt den Kranken in operationale Begriffe und Flussdiagramme mit der Ergebnis einer operational geeigneten Diagnose presst.  Da die Einheit der Diagnose auch aufgegeben wurde (Der Psychiater musste sich früher nach der sogenannten Schichtenregel für eine, die schwerste Diagnose entscheiden)  können jetzt unverbunden und atheoretisch mehrere Diagnosen nebeneinandergestellt werden. Dadurch könnte auch Minderbegabung mit „Defekt im Oligophrenin 1“  als näherer Erklärung kombiniert und die Minderbegabung als vererbte Form kenntlich gemacht werden, eine Möglichkeit, die es schon im ICD 9 gegeben hat, aber durch die alphanumerische Verschlüsselung im ICD 10 massiv erweitert und ausgenutzt werden könnte. Bei Weiterentwicklung der Ideen der postmodernen Humangenetiker ist damit die Möglichkeit gegeben, nicht nur wie bei den Nazis eine sogenannte negative Auslese zu machen, also das „kranke Erbgut“ auszuschalten, sondern eine positive Auslese, also eine Verbesserung des Erbgutes, so wie die Humangenetiker, andere Forscher und Gesetzgeber sich diese heute vorstellen. Die Nazis hatten die zwangsweise Sterilisierungen sogenannter Erbkranker gesetzlich vorgeschrieben. Die Sterilisierungen dienten anfangs der Möglichkeit, als erbkrank angesehene psychisch Langzeit-Kranke aus den Anstalten entlassen zu können und damit die Anstalten finanziell zu entlasten, später wurden die Kranken umgebracht. So wie man heute die Anstalten enthospitalisiert und die psychisch Kranken, wenn sie nicht mehr akut behandlungsbedürftig sind, zu ihren oft überforderten Angehörigen oder in Heime oder Wohngemeinschaften entlässt. Dies geschieht auch aus dem Grund, die  Krankenhauskosten zu dämpfen

Bei den Nazis gab es wie gesagt, das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses von 1934. Es diente letztlich wie die „Euthanasie“-Aktion, die Ermordung der psychisch  Kranken im Kriege, der Kostendämpfung. Im Kommentar zum Gesetz von 1934 steht folgendes: „Dazu kommt, daß für Geistesschwache, Hilfsschüler, Geisteskranke und Asoziale jährlich Millionenwerte verbraucht werden, die den gesunden, noch kinderfrohen Familien durch Steuern aller Lasten entzogen werden. Die Fürsorgelasten haben eine Höhe erreicht, die in gar keinem Verhältnis mehr zu der trostlosen Lage derjenigen steht, die diese Mittel durch Arbeit aufbringen müssen. “  Die Nazis wagten aber nicht, die „Euthanasie“-Aktion gesetzlich zu regeln.

Heute aber  erleben wir in Deutschland  eine Gesetzesflut von Gesetzen im Gesundheitsweisen, die alle das erklärte Ziel haben, zu sparen, zu sparen und nochmals zu sparen. Pflegeversicherung, Zuzahlung, Stellenabbau, Enthospitalisierung,  Fallpauschalen. Wir kennen alle die Wörter. Es geht auch in der Psychiatrie  nicht mehr um humane Versorgung (wenn auch viele therapeutisch Tätige wie Ärzte, Schwestern und Pfleger oder Ergotherapeuten sich weiter menschlich um die Kranken kümmern), sondern um Kostendämpfung, dessen Ende nicht, wie der Bundesgesundheitsminister bei der Eröffnung des 101. Ärztetages in Köln behauptete, vorgesehen ist. Derzeit haben wir auch in der Psychiatrie zur Bezahlung der stationären Kosten ein Splitting in den Abteilungspflegesatz und in den Basispflegesatz. Unter Abteilungspflegesatz versteht man die eigentliche Behandlung. Der Basispflegesatz meint die Kosten für Unterkunft und Verpflegung (die sogenannten Hotelkosten), für Verwaltung, Küche, Energie und Instandhaltung. Im letzten Jahr wurden die psychiatrischen Kliniken daraufhin überprüft, wie die Auslastung bei der Bettenbelegung war. Es wurde als Grenze eine Bettenbelegung von 85 % festgesetzt. Kliniken, die weniger als 85 % Belegung aufwiesen, wurden angehalten, Betten zu reduzieren. Erst vor wenigen Tagen erreichte bayerische psychiatrische Kliniken unter Verweis auf das Krankenhausfinanzierungsgesetz KHG und das Bayerische Krankenhausgesetz ein Schreiben des Bayerischen Arbeitsministeriums. Es wurde darauf verwiesen, daß nach Untersuchungen des Bayerischen Obersten Rechnungshofes 1997 die durchschnittliche Krankenhausverweildauer psychisch Kranker in Bayern 36 Tage betrage. Das Arbeitsministerium ordnete an, daß Krankenhäuser mit einer längeren Verweildauer psychisch Kranker als 36 Tage ihre Verweildauer diesem Limit von 36 Tagen anzupassen hätten. Wenn das nicht geschähe, würden die Fördermittel gestrichen. Die Klinik, in der ich derzeit arbeite, behandelt schizophrene und Borderline-Patienten psychotherapeutisch. Das geht nur mit einer relativ langen Verweildauer. Die Reduktion auf 36 Tage Verweildauer bedeutet, daß  von derzeit geförderten 56 Betten 45 wegfielen und die Klinik mit nur noch 11 geförderten Betten schließen müßte. Damit entfiele auch die Möglichkeit stationärer Psychotherapie bei vielen ansonsten gut therapierbaren Kranken. Nun läuft aber in verschiedenen psychiatrischen Krankenhäusern der Bundesrepublik eine von Herrn Seehofer, dem Bundesgesundheitsminister mit Bundesmitteln geförderte Studie, in der geprüft werden soll, wie es möglich sein kann, die in anderen Krankenhäusern, zum Beispiel in chirurgischen Kliniken, bereits eingeführten Fallpauschalen auch in Psychiatrien einzuführen. Die an der Studie  beteiligten psychiatrischen Kliniken bekommen dafür zusätzliche Mitarbeiter gestellt. Zum Beispiel bekommen dann die Kliniken bei Kranken mit einer laut ICD 10 diagnostizierten schweren depressiven Episode ohne psychotische Symptome F 32.2  eine Fallpauschale von 3500 DM  für eine Behandlungsdauer von 30 Tagen. Man geht davon aus, daß dann die depressive Episode abgeklungen sein muß.  Der Kranke kann also dann nach Plan entlassen werden. Ist das aber nicht der Fall, bekommen die psychiatrischen Kliniken für den vorgesehenen Entlassungstag kein Geld. Für die weiter nötige Behandlungsdauer  bekommen die Kliniken auch Geld. Es handelt sich wie derzeit um  eine Kombination von Basis- und Abteilungspflegesatz. Dieser kombinierte Pflegesatz liegt aber deutlich unter den Fallpauschalen. Um bei dem gleichen Budget zu bleiben, sind die Kliniken gezwungen, Kranke auch früher als die Fallpauschale erlaubt zu entlassen. Zudem ist in vielen Fällen nur eine Kurztherapie möglich, obwohl eine Langzeittherapie nötig und menschlicher wäre.

Man kann also das Schema der Kostendämpfungsmaßnahmen in der stationären Psychiatrie erkennen. Derzeit wurde der Kostensatz bereits gesplittet in den Basispflegesatz und den Abteilungspflegesatz. Im letzten Jahr wurde eine Kosteneinsparung durch Bettenreduktion verordnet. In diesem Jahr soll die Festlegung  einer vorgeschriebenen Verweildauer zu Einsparungen führen. Vorbereitet aber wird die Einführung von Fallpauschalen.  Es ist dann eine fixe Bezahlung für eine operational ermittelte  festgelegte Zahl von Behandlungstagen bei einer bestimmten Diagnose vorgesehen. Die jetzt gültige Bezahlung durch Basis- und Abteilungspflegesatz ist für die Ausreißer vorgesehen, für die also, die entgegen einer vorgeschriebenen Verweildauer doch länger stationär bleiben müssen. Diese Bezahlung ist aber deutlich geringer als die Fallpauschalen und gewissermaßen eine Strafmaßnahme gegen die Klinik, weil diese ein Seehofer-Plansoll nicht erreicht hat.

Wenn man diese Entwicklung sieht, wird man an das Dritte Reich erinnert und an seine Teilung in Heil- und Pflegeanstalten. Heilen und Pflegen. Damals bedeutete Heilen von Schizophrenen aktive Behandlung durch Arbeitstherapie und/oder Cardiazol- oder  Elektroschockbehandlung. Pflegen bedeutete Aufgabe von Therapie bei Reduktion des Kostensatzes. In Baden wurde, um die badischen Heil- und Pflegeanstalten von Langzeitkranken zu entlasten, eine eigene Pflegeanstalt in Rastatt errichtet. Diese war eine absolute Sparanstalt. Der Direktor Schreck sparte so effektiv, daß  der schon reduzierte Kostensatz von 3,05 RM, wie er in den anderen badischen Anstalten galt, 1936 auf 1,60 RM gesenkt wurde. Herr Seehofer würde sich freuen.  Das reichte aber nicht. Die Pflegeanstalt Rastatt wurde 1940 aufgelöst, indem praktisch alle Kranken  in der Gaskammer von Grafeneck  ermordet wurden. Ich habe über die Pflegeanstalt Rastatt eine Buch geschrieben.[1]

Kommen wir zur Gegenwart zurück. Es geht wie im Dritten Reich heute um Rationalisierung, Effektivität und Kostendämpfung, um Sparen also, ohne sich um die Menschen und ihr Leid zu kümmern. Deshalb werden die zahlenden Kassen immer mehr danach fragen, wie effektiv  die einzelnen Therapiemethoden sind. Für die Psychotherapie hat ja nun das neue Psychotherapeutengesetz endgültig klar gemacht, daß Methodenvielfalt und Methodenstreit, der befruchtend sein kann und auch bei schwierigen Patienten Möglichkeiten zur Therapie offenläßt, nicht gewünscht ist. Nur die Verhaltenstherapie, die tiefenpsychologisch fundierte Therapie und die Psychoanalyse gelten als anerkannte Verfahren, weil sie ihre Effektivität und damit Kostengünstigkeit bewiesen haben. Es bestehen aber weiter Bestrebungen, durch Kurzzeittherapie die Kosten weiter zu reduzieren. Die Psychoanalyse ist ein Langzeitverfahren und daher in Gefahr, als Verfahren beschnitten zu werden. Ich vermute, daß demnächst Herr Seehofer oder sein Nachfolger und die Kassen jedes einzelne Verfahren, das in der Psychiatrie verwandt wird, wie Ergotherapie, Musik-, oder Maltherapie auf ihre Effektivität, sprich auf Kostenreduktion überprüfen wird.

Auch bei  dem Betreuungsrechts-Änderungsgesetz, welches das erst am 1. Januar 1992 eingeführte Betreuungsrecht ablösen soll, geht es  um Kostendämpfung. Die  Betreuung war Ersatz für  die alte Vormundschaft und Entmündigung und sollte das Subjektsein der psychisch Kranken schützen. Im Betreuungsgesetz von 1992 wurden zudem freiwillige  Sterilisierungen gesetzlich geregelt. Jetzt will der  Bundesrat, die Vertretung der Länder,  das liberale Betreuungsgesetz wieder  abschaffen, weil die Betreuung, die vor allem von Juristen  über Betreuungsvereine wahrgenommen  wurde, zu teuer ist. Wirkliche Betreuung ohne Entmündigung kostet nämlich Geld. Bedenklich stimmt, daß beinahe zeitgleich Karsten Vilmar (FAZ N. 116, 20.5.1998; S. 2), der Ärztekammerpräsident, bei dem Ärztetag in Köln hervor hob, „daß auf weitere medizinische Forschung nicht verzichtet werden könne. Dazu gehöre – unter strengen Bedingungen – auch Forschung an nicht einwilligungsfähigen Menschen.“   Forschung an nicht einwilligungsfähigen Menschen, also auch psychisch kranken, soll also erlaubt sein! Ein amtlich bestellter Betreuer könnte dies auch verbieten. Wird das Betreuungsrecht verschlechtert, kann auch illegale Forschung möglich sein.

Wo man hinschaut, überall geht es um Sparen und Sozialabbau. Davon sind die psychisch Kranken besonders betroffen. Zum Beispiel brachte die Einführung des neuen Facharztes für Psychotherapeutische Medizin keine wirkliche Verbesserung. Die Psychotherapie wurde noch mehr gespalten, für viele Laien ist nicht mehr überschaubar, wer für sie zuständig ist. Derzeit sind Bestrebungen im Gange, den Geldtopf der Psychotherapie zu  teilen, einen für Fachärzte, einen für die anderen Psychotherapeuten. Schon im nächsten Jahr müssen psychisch Kranke bei der Psychotherapie zuzahlen. Da Kurzzeittherapie erstrebt wird, werden Kranke, die eine längere Therapie brauchen, das Nachsehen haben. Schizophrene, die besonders lange Therapiezeiten benötigen, können dann von Psychotherapeuten, die keine Psychiater sind, aufgrund der gering bewilligten Therapiedauer nicht behandelt werden, obwohl  psychologische Psychotherapeuten dafür geeignet wären. Und Psychiater können solche Therapiedauern nur über Psychiatrieziffern abrechnen.

Daß die neue – und eigentlich doch schon alte – Denkweise  sich auch in der Therapie durchsetzt, ist klar. Kliniken haben  heute nicht nur Verwaltungschefs, die Krankenhausmanager sind und ähnlich wie der Direktor der Pflegeanstalt Rastatt im Dritten Reich, Dr. Schreck, oft seelenlose, rationale, sich nur an Zweckerwägungen orientierende, staatstreue, nur auf Effektivität und Kostenreduktion bedachte Beamte sind. Andere Direktoren und Klinikchefs sind gegen die neuen Entwicklungen, machen sie aber, da sie Gesetz sind, mit.

Auch die eigentliche Behandlung  psychisch Kranker bekommt langsam ein neues Gesicht und neue Namen. Ich erinnere an die Ausdrücke  Krisenmanagement und   Psychosoziales Management. Man kennt auch den alten Ausdruck Psychoklempner. Behandlung ist unter diesem Gesichtspunkt keine menschliche Begegnung mehr, sondern das Management einer Störung, wie es ja im ICD 10 steht. Management sollte gezielt, effektiv, mit wenigen anerkannten Mitteln und Behandlungsarten und kostengünstig sein. Vielleicht wird auch hier deutlich, wie nahe wir heute Gedanken der Nazis stehen. Der Mord an den psychisch Kranken im Dritten Reich fand planmäßig  und gut organisiert statt. Er wurde eingeleitet durch Sparmaßnahmen und  Sterilisierungen  und fortgeführt durch Ermordung der, wie die Kranken genannt wurden, unnützen Esser. Die psychisch Kranken waren störend, weil sie daran gemahnten, daß es Krankheiten und Situationen gibt, in denen man zu krank zum Arbeiten ist. Dem entsprechend haben manchmal psychisch Kranke die Morde des Dritten Reiches überlebt, wenn ihnen der Anstaltsleiter bescheinigte, daß sie in der Arbeitstherapie für die Klinik  noch einen finanziellen Gewinn erarbeiteten.[2]

Übrigens  findet sich das Denken, das nach den Kosten der Behandlung von „Schwachsinnigen“ oder anderen Kranken fragt, wie in den Biologie- oder Schulbüchern im Dritten Reich, heute wieder, wenn auch nicht immer auf psychisch Kranke bezogen.  Die Zeitschrift „Fortschritte der Medizin“ N 35-36   vom 20. Dezember 1997 fragt ganz offen: „Was kostet ein Typ-II-Diabetiker?“ Wir stehen in Gefahr, daß diese Frage wie selbstverständlich hingenommen wird.

Meiner Meinung nach  haben wir nur dann  eine Chance zur Veränderung der Situation, wenn wir erkennen, wie nahe wir im Denken und Handeln vielleicht aufgrund der gemeinsamen postmodernen Ideen den Nazis sind. Eins ergibt das andere. Beim reinen Sparen bleibt es nicht. Im Hintergrund ist eine menschenverachtende, letztlich  lebensverachtende  Weltsicht, die zu dem massenweisen Morden und Brandstiftungen  der Nazis führte. Vorerst bleibt es heute noch bei den massiven Einsparungen. Konkret gemordet  wird heute noch nicht.

Daß  aber heute viele Menschen statt sich auf die Seite des Lebens zu stellen, das  Makabre und Tote anziehend finden, ist dem Rummel um die Mannheimer Ausstellung „Körperwelten“ zu entnehmen, die wie eine Multimediashow wirkte. Es war für die Ausstellungsbesucher  nicht wichtig, daß diese Toten vorher lebende Menschen mit Hoffnungen, Gefühlen und einem sozialen Zusammenhang waren. Sie waren ja nun   theaterbühnenmäßig aufbereitete ästhetische Objekte. Eben nur Objekte. Wie berichtet wurde, soll der Heidelberger Anatom, der sich als Künstler versteht, einen Großteil der Leichen als Frachtgut aus fremden Ländern, unter anderem China bekommen haben, wobei die Zöllner nicht wußten, wie die Leichen eingeführt werden sollten, als Leichen oder als Arbeitsmaterial. Was vorher mit ihnen war, ob sie z.B. ermordete Regimegegner waren, scheint niemanden zu interessieren. Auch hier finden wir wieder die Kombination von Macht, Manipulation, Dominanz und Kontrolle. Bevor diese Ausstellung  entstand, muß eine entsprechende Phantasie, die Leichen derart zu präparieren, schon dagewesen sein. Manche Serienmörder ermorden zuerst ihre Opfer, um sie dann wie Präparate zu zerstückeln. Diese Zerstückelung  wird  vorher lange in der Phantasie durchgespielt. Erst die Zerstückelung ihrer Opfer gibt den Mördern dann das Gefühl, sie ganz unter Kontrolle gebracht  zu haben. Ich glaube,  diese Ausstellung zeigt genau dieses auf.[3] Sie zeigt zugleich, daß diese mörderischen Impulse in uns allen stecken. Daß Leichenteile ästhetisch verwendet wurde, ist nicht neu. Nazis haben sich z. B. aus Leichenhaut Lampenschirme gefertigt.

Ich habe Ihnen heute keinen erbaulichen Vortrag gehalten. Ich wollte auch keinen erbaulichen Vortrag halten. Vielleicht sehe ich zu düster. Ich habe aber Angst. Angst deshalb, weil viele Entwicklungen schleichend verlaufen, nicht richtig beachtet werden und  dann bestimmend werden. Es ist zum Beispiel wichtig, Mörder und Vergewaltiger   dingfest zu machen. Was bedeutet es aber, wenn in Niedersachsen nach einem Sexualmord tausende von Männern freiwillig zum DNA-Test gehen und zugleich gewarnt wird, wer nicht komme, mache sich verdächtig. Die Kontrolle ist  gewaltig. Mit solchen Einschüchterungen  könnte, viel effektiver als bei den Nazis, eine Gendatei der Bevölkerung angelegt werden, die auch zu gesetzlich legitimierten eugenischen Maßnahmen führen könnte. Diese könnte dann als Prävention verkauft werden. Etwa mit folgenden Argumenten: Es ist sehr teuer, ein mißgebildetes Kind, einen schwer Minderbegabten mit X-mentaler Retardierung oder einen chronisch  Schizophrenen zu unterhalten. Wollt ihr Eltern das? Ihr habt die Möglichkeit, euch genetisch durch eine Speichelprobe untersuchen zu lassen. Dann könnt ihr entscheiden. Ihr könntet euch sterilisieren lassen, ihr könntet abtreiben oder, falls ihr eine künstlicher Befruchtung und in-Vitro-Fertilisation in Anspruch genommen habt, auch eine Präimplatationsdiagnostik und –Therapie machen, das heißt, den Gen- oder Chromosomendefekt vor der Einnistung des befruchteten Eies eliminieren oder die Frucht zu töten.  Denkt dran. Ihr macht damit bei der Prävention, bei der Vorsorge mit. Und das ist gut für „eugenische Maßnahmen“  Ich bringe dieses  und die obigen Beispiele, um anzuregen, sich nicht einschüchtern zu lassen und Widerstand und Zivilcourage gegen Tendenzen aufzubauen, die unter dem Vorwand der Wissenschaft, der Nützlichkeit für die Gesellschaft und der Kostenreduktion das Leben von Kranken, speziell von psychisch Kranken, von uns allen und letztlich das Lebendige selbst zerstört.

Die Ergotherapie hat zwei Wurzeln. Die Arbeitstherapie, welche dem Kranken helfen soll, sich wieder arbeitsmäßig zu integrieren, und die Beschäftigungstherapie, die sinnstiftend gemeint ist und dem Kranken helfen soll, Lust und Freude zu empfinden und dadurch seine Heilung anzuregen. Sie gibt dem Kranken ein Stück Freiheit deshalb wieder, weil er lustvolle Dinge ohne Druck machen kann. In der Tatsache, daß Ergotherapie diese beiden Wurzeln hat, ist die Hoffnung erhalten,  daß die Ergotherapie  einen Vorbildscharakter hat und daß es trotz aller beschriebenen Gefahren möglich ist, die Gesellschaft und die  Psychiatrie zu humanisieren.

Danke.

[1] Franz Peschke: Schreck’s Anstalt. Eine Dokumentation zur Psychiatrie und „Euthanasie“ im Nationalsozialismus am Beispiel der Pflegeanstalt Rastatt, Hrsg. Stadt Rastatt, Stadtmuseum und Stadtarchiv, Rastatt 1992

[2] So wurde die Ökonomie in der Heil- und Pflegeanstalt Wiesloch bei Kriegsende durch Patienten aufrechterhalten, die man nicht euthanasiert hatte.
Vgl. Franz Peschke – Ökonomie, Mord und Planwirtschaft. Die Heil- und Pflegeanstalt im Dritten Reich. Aspekte der Medizinphilosophie Band 10 projekt verlag Bochum/Freiburg 2012
(Reihenherausgeber Aspekte der Medizinphilosophie Christian Hoffstadt, Franz Peschke, Michael Nagenborg und Sabine Müller)

[3] Zu dieser Ausstellung und dem Präparator vergleiche: Franz Peschke: Von Hagens und seine Plastination – als Ausdruck einer nazisstischen, „perversen“ und nekrophilen Gesellschaft in: Klaus Reichert, Christian Hoffstadt (Hrsg.): ZeichenSprache Medizin. Semiotische Analysen und Interpretationen. Aspekte der Medizinphilosophie Band 2, projekt verlag Bochum/Freiburg 2004, S. 35 – 65

Franz Peschke:
Was versteht man unter Behinderungen und Behinderung und wie kann man helfen? - eine Analyse aufgrund sprachlicher Befunde

Vortrag am 3.2.1999 19 Uhr im Stadtmuseum Rastatt zur Eröffnung der Fotoausstellung „Einblicke“
von  Patrick Werner

Sehr geehrter Herr, sehr geehrte Frau, meine Damen und Herren

Über die Möglichkeit, heute bei der  Eröffnung der Ausstellung „Einblick – Fotografien von Patrick Werner“ einen Vortrag zu halten, freue ich mich sehr. Diese Ausstellung dient  wie die Kampagne „Aktion Grundgesetz“, der Verbreitung von  Wissen darüber, daß  seit dem 15. November 1994 im Grundgesetz der Satz „Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden“ eingefügt ist. Sie soll zugleich sensibel machen für den Umgang mit Behinderten und uns die Behinderten in ihrer Menschlichkeit, Lebendigkeit, ihren Wünschen und Bedürfnissen und ihrer Würde näherbringen. Ich möchte Ihnen gewissermaßen als Kontrapunkt zu den sensiblen fotografischen Einblicken Patrick Werners einen sprachlichen Einblick geben, nämlich einen Einblick oder doch wohl eher Überblick über Wörter und Bezeichnungen, die etwas mit Behinderung und Unterstützung zu tun haben. Dabei möchte ich erst die Etymologie verschiedener Wörter von Behinderungen vorstellen und danach erarbeiten, was das Wort Behinderung bedeutet und  welche Wörter es gibt, die Unterstützung bei Behinderung bedeuten. Ich nennen deshalb meinen Vortrag: „Behinderungen und Behinderung und wie kann man helfen ? – eine Analyse aufgrund sprachlicher Befunde“

Der Ausdruck „Behinderung“  kam als Begriff seit den Siebziger Jahren des Zwanzigsten Jahrhunderts auf. Es gibt keine gesetzliche Definition  des Behindertenbegriffes. Auch in der RVO war der  Begriff des Behinderten nicht enthalten. In dem Wort Schwerbehindertengesetz kommt das Wort aber vor. Nach einer Definition der Bundesanstalt für Arbeit  sind „Behinderte im Sinne dieser Anordnung … körperlich, geistig oder seelisch behinderte Personen, deren Aussichten, beruflich eingegliedert zu werden oder zu bleiben in  Folge der Behinderung nicht nur vorübergehend wesentlich gemindert sind und die deshalb besonderer Hilfe bedürfen.“ Man unterscheidet eine praemorbide, eine primäre und eine sekundäre Behinderung. Wichtig ist, daß die Behinderung nicht einfach wie mechanisch aufgefaßt wird, sondern daß die Behinderung immer gesehen wird als  bezogen auf innere, aber auch auf äußere Faktoren, wie in Bezug auf die Familie, die Arbeits- und Freizeitsituation, auf die Schul- und Berufsausbildung. Die Behinderung spielt also erst im Zusammenhang mit der sozialen Situation der/des Behinderten eine Rolle. Insofern ist das Wort Behinderung auch ein sozialpsychiatrischer Ausdruck. Das Wort Behinderung faßte als neutraler zusammenfassender Begriff die älteren, jetzt als anstößig und diskriminierend geltenden Wörter für  einzelne Behinderungen zusammen. Ein neuer Wortgebrauch war auch deshalb notwendig geworden, weil die Nazis viele Tausende als minderwertiggeltende Behinderte sterilisieren ließen und später massenhaft ermordeten, wie sie es nannten, „euthanasieren“ ließen. Sie kannten allerdings den Ausdruck Behinderte nicht, sondern benutzten scheinbar wissenschaftlich neutrale Ausdrücke, die die damalige Medizin und Psychiatrie bereithielt.Im Gesetz zur Zwangssterilisation von 1933 ist daher nicht der Ausdruck „behindert“ als führender Begriff enthalten, sondern der Ausdruck „erbkrank“. Danach werden die einzelnen Krankheitsbilder genannt, auf die der Ausdruck zutrifft. Als erbkrank galt, „wer an einer der folgenden Krankheiten leidet:1. angeborenem Schwachsinn, 2. Schizophrenie, 3. Zirkulärem (manisch-depressivem) Irresein, erblicher Fallsucht, 5. erblichem Veitstanz (Huntingtonscher Chorea, 6. erblicher Blindheit, erblicher Taubheit, 8. schwerer erblicher körperlicher Mißbildung.“ Schulbücher dar damaligen Zeit zeigten viel besser auf, um was es den Nazis damals ging. Es ging schon um Behinderung, aber nicht um Behinderung, wie es der moderne Ausdruck nahelegen soll. Es galt darum, daß diese sogenannten Erbkranken  (Ich freue mich, daß mein Computer dieses Wort erbkrank als unbekannt moniert), daß diese sogenannten Erbkranken als Behinderung der Gesellschaft angesehen wurden, sie galten mit einem Ausdruck der damaligen Zeit als „Soziallästige“, die kein Lebensrecht hatten und (wieder ein Nazi-Ausdruck) „auszumerzen“ waren. Sie galten als „minderwertige und unbrauchbare Elemente“, „minderwertiges Erbgut“, „erblich Belastete“, als „antisozial“, als „Degenerierte“, „Verseucher“, „Defekte“, als „Ballastexistenzen“, als „geistig Tote“ und was es an verachtenden Ausdrücken für diese Menschen, zu denen noch Juden, Homosexuelle, Geschlechtskranke und Verbrecher gezählt wurden, noch gab. Bilder des Rastatter Festungslazaretts, das im Dritten Reich als Pflegeanstalt diente, erinnern an diese Zeit.

Ich will jetzt aber hier nicht der menschenverachtenden Sprache und Politik der Nazis nachgehen, sondern  ich will  den etymologischen Sinn der Wörter taub,  Krüppel, lahm, Kretin, toll, blöd, geistesschwach und schwachsinnig, oligophren, debil, imbezil, Idiot sowie Invalider, Verletzter und  Versehrter herausarbeiten, wie er sich vor den Nazis und unabhängig von ihnen entwickelt hatte. Ich hoffe, wir kommen dadurch zu Einsichten, die uns diese Behinderten  menschlich näher bringen, weil wir sie nicht durch die Brille der Nazis sehen müssen. Denn nach dem Ende des Dritten Reiches sind viele dieser Begriffe von dem verachtenden Sprachmißbrauch  der  Nazis mitgerissen worden und gelten heute als tabu, sie werden durch neue Wörter ersetzt, wie zum Beispiel  das Wort Schwachsinn durch Intelligenzminderung, das Wort Krankheit durch das Wort  Störung. Ich werde bewußt nicht nur Ausdrücke erklären, welche die Nazis wie beim oben genannten Sterilisationsgesetz offiziell gebraucht hatten, sondern solche, die Behinderungen anzeigen, werde mich aber auf einige wenige beschränken, die mir besonders wichtig erscheinen.

Beginnen wir mit dem Wort „taub“. Dieses Wort ist bisher nicht stark negativ besetzt. Es ist von allen von mir untersuchten Wörtern das akzeptierteste. Die Nazis benutzten es meist in der Kombination taubstumm. Das Wort „taub“ wird  als Erweiterung  der indoeuropäischen Wortwurzel #dheu auf eine indoeuropäische  Wortwurzel #dheubh, #dhubh zurückgeführt, welche Wörter in germanischen Sprachen und im Griechischen hinterlassen hat.  #Dheu bedeutet stieben und wirbeln  und meint besonders den stiebenden  Staub, Rauch und Dampf. Die Wörter Duft und Dunst hängen damit zusammen. Der Duft kommt und verstiebt gleich wieder. Der Dunst ist feiner Rauch, der verdampft. Die erweiterte Wortwurzel #Dheubh soll stieben, rauchen, neblig, verdunkelt gemeint haben. Wenn es neblig und verdunkelt ist, kann man sich nicht orientieren. Der Nebel verhindert und hemmt die normale Bewegung. Daher  stammt  von #dheubh das griechische Wort  typhlós mit der Bedeutung verstopft,  blind, stumpf und unsinnig ab. Verwandt damit ist toub, das im neunten Jahrhundert gehörlos, unempfindlich, stumpf und unsinnig bedeutete. Es ist zu erkennen, daß das griechische typhlós blind, das althochdeutsche toub aber gehörlos bedeutet. Beide Wörter meinen also Behinderungen, wenngleich nicht mehr bezogen auf den Nebel außen, sondern Behinderungen verschiedener Körperteile, im Griechischen der Augen, im Deutschen der Ohren. In beiden Fällen sind die Organe stumpf, unbrauchbar, weshalb toup, toub im Mittelhochdeutschen auch leer, wertlos, abgestorben und dürr  bedeutete. Heute noch ist eine Taubnessel eine Nessel, die nicht einmal brennt. Im Neuhochdeutschen hat sich bei taub die Bedeutung „gehörlos“ erhalten, ein taubes Glied ist aber wie abgestorben, ohne Wert, ohne Empfindung und eine taube Haselnuß ist leer, gehaltlos und von daher ohne Nutzen. Da man sich mit tauben Menschen aber nur schwer verständigen kann, galten sie fälschlicherweise als geistig beschränkt und dumm. Dumm wurde ursprünglich tumb geschrieben und bedeutete unwissend, unbegabt, unvernünftig, später schwach von Sinnen oder Verstand, töricht und stumm. Es wurde später zu dumm nasalisiert  und bedeutet dasselbe wie das Wort „doof“ , (niederländisch doof = taub), das sich  erst im 20. Jahrhundert von Berlin aus im ganzen deutschen Sprachgebiet verbreiterte. Da doof mit taub zusammenhängt, bedeuten englisch deaf und schwedisch döv auch taub. Erinnern wir uns an #dheubh = stieben und an die dem griechischen typhlós und dem altgermanischen toub gemeinsame andere Bedeutung „unsinnig“, so verstehen wir, daß jemand, der eine Tobsucht hatte, von Geist und Sinnen vernebelt, deshalb außer sich war, tobte  und raste.

Auch das Wort toll soll weitergehend von  der indoeuropäischen Wortwurzel indoeuropäisch #dheu abstammen. Toll meint verrückt, nicht bei Sinnen, ausgelassen, wild und großartig. Näherliegend soll es auf germanisch #dwula = getrübt, vernebelt, verwirrt zurückgehen. Wir erkennen die Behinderung, wenn wir uns die damit zusammenhängenden Wörter althochdeutsch twellen = zurückhalten, aufhalten, sich aufhalten und weilen, altsächsisch dwellian = aufhalten, hindern, altnordisch dvelja = verzögern, sich aufhalten und  althochdeutsch tw-ala  = Verzug, Verzögerung und Überdruß  anschauen. Dazu gehört griechisch tholós = der Schlamm, in dem man steckenbleibt und die Tinte des Tintenfisches, die einen umnebelt und am Fortschwimmen hindert. Griechisch tholerós ist daher schlammig, trübe und verwirrt.  Wer toll ist, ist also umnebelt, daher gehemmt und verwirrt. Das Gehemmte ist noch im englischen Wort dull = dumm, schwerfällig und stumpfsinnig spürbar. Althochdeutsch hieß daher ir-twelan auch betäubt und kraftlos sein. Aber das Wort toll ist durchaus ambivalent. Wer geistesverwirrt ist, kann aus seiner Starre und Betäubung erwachen und  plötzlich eine tolle Wut, wie man im 18. Jahrhundert sagte, also eine Tollwut entwickeln  und wegen seiner Tollheit, seiner Verrücktheit, seinem verrückten Tun oder seiner dulköne (15. Jh.), seiner Tollkühnheit (17. Jh.) oder Unbesonnenheit also, im17.Jahrhundert ins Tollhaus kommen. Tollheit ist aber ansteckend, man fühlt sich oft toll, also großartig und kann es manchmal seit dem 16. Jahrhundert genießen, ganz ungehemmt zu tollen, fröhlich, lärmend und ausgelassen zu lärmen, zu spielen und herumzuspringen.

Wer aber lahm ist, kann das nicht. Er ist bewegungsuntüchtig, behindert, matt oder langweilig. Er ist lami (altnordisch) = verkrüppelt. Es ist, als seien seine Glieder zerbrochen. Slawisch lomitis bedeutet brechen, russisch heißt lom der Bruch.  Schon althochdeutsch lam hieß daher lahm, gelähmt, abgestumpft. Lomóta heißt auf Russisch das Gliederreißen. Derjenige, dessen Glieder ein Gliederreißen hat, dessen Füße also lahm, kraftlos und ohne Funktion sind, der lahmt, er hinkt. Er hat, wie ein hinkendes Pferd eine Lähme. Im 16. Jahrhundert war ein schlaff herabhängendes Ohr ein Lummelohr. Genauso sieht ein Lümmel aus, einer, der in nachlässiger Haltung herumsteht und sich lümmelhaft und  lahmarschig, kurz  wie ein Flegel  benimmt und herumlümmelt. Vielleicht hört er gerade meinem Vortrag zu und findet ihn ausgesprochen langweilig und lahm, kann sich aber nicht anders als durch diesen lahmen  Protest ausdrücken.

Vielleicht fühlt er sich aber auch durch eine Bemerkung von mir verletzt. Das Wort verletzen geht auf ein althochdeutsches Verb lezzen = aufhalten, hemmen, hindern verletzen zurück. Noch heute heißt holländisch letten hindern, beletten verhindern  und schaden und letsel der Schaden und die Verletzung sowie belet die Abhaltung. Auch auf englisch war früher to let verhindern.  Die Wörter haben Beziehung zu den Wörtern lasch und lässig. Wer laß war oder lässig ist, ist träge, gleichgültig, matt und schlaff.  Er ist schlaff und energielos und läßt alles zu, erlaubt alles, gibt, was er hat, ab oder auf. Aufgrund seiner Lässigkeit verhindert er, daß etwas vorangeht. Diese Verhinderung und Hemmung hieß mittelhochdeutsch letze. Letze bedeutete auch das Ende, der Abschied, das Abschiedsgeschenk. Deshalb wurde aus zuo letze = zum Abschied unser zu guter Letzt = zum guten Ende. Wenn man etwas zu Ende brachte und sich verabschiedete, konnte man sich erholen und Freundlichkeiten erweisen. Deshalb nahm das Wort letzen die Bedeutung sich erquicken und laben an. Mit dem Präfix ver- bei verletzen bedeutet es aber verwunden, beschädigen, kränken, wogegen verstoßen. Und das Wort Verletzung meint seit dem 15. Jahrhundert sowohl das Verletzen als auch die Körperwunde.

Früher sagte man für verletzt  auch versehrt. Ein Versehrter ist ein Verletzter, Verwundeter, der großen Schmerz, althochdeutsch s-er , ertragen muß. Damit hängt das Adverb sehr zusammen, das früher schmerzlich, gewaltig und heftig bedeutete. Ein Kriegsversehrter ist daher ein durch Wehrdienst beschädigter und körperlich beeinträchtigter Soldat, der durch die Wehrdienstverletzung körperbehindert ist.

Er ist dann ein Invalide. Und aufgrund seines Gebrechens (hören Sie lom, den Bruch mit?) dienst-  und arbeitsunfähig. Das Wort Invalide kommt ursprünglich vom lateinischen invalidus = kraftlos, schwach und krank. In Spanien wird der Invalide minusválido genannt, also der, welcher weniger wert ist. Validus war jemand, der stark, kräftig und gesund, der wohlauf, einflußreich und wirksam war. Wer Latein gelernt hat oder Asterix gerne liest, kennt den  Abschiedsgruß vale = lebe wohl! Lateinisch valere bedeutet wert sein, stark sein, gelten, die italienische Valuta ist ein Zahlungsmittel ausländischer  Währung, ein Zahlungsmittel mit Wert also. Verwandt mit validus sind die deutschen Wörter walten = ursprünglich herrschen, verwalten =  in Gewalt heben, für etwas sorgen, seit dem 15. Jahrhundert die abgeleiteten Wörter Verwaltung, aber auch der Anwalt und die Gewalt. Der Anwalt ist eigentlich der, welcher über etwas Gewalt hat, seit dem 19. Jahrhundert auch der Rechts- und Staatsanwalt.

Im Mittelhochdeutschen gab es aber noch ein anderes Wort für lahm, nämlich gekrüpelt. Gekrüpelt geht auf ine indoeuropäische Wortwurzel zurück, von der sich deutsche Wörter wie kriechen, krumm, Krücke, Kringel, Krippe, Kropf und  Krüppel ableiten. Der Krüppel als mißgebildeter, gehbehinderter Mensch ist eigentlich einer, der gewunden, zusammengekrümmt, krumm und lahm ist. Er ist jemand, der kriecht, sich einzieht, sich in niedriger Haltung am Erdboden schmiegt und schleicht. Schwedisch krypa heißt kriechen. Wir denken an Victor Hugos Glöckner von Notre Dame. Wenn er geht, mit seinem Buckel, sieht er  gewunden aus wie ein Kropf. Er braucht eine Krücke oder einen Krückstock, einen Stab also, der wie er selbst krumm ist, nämlich einen krummen Griff hat. Vielleicht bietet er auf dem Markt in seiner Krippe, seinem geflochtenen Futtertrog, der entstand, indem man Flechtwerk immer krümmte und krümmte und so in Form brachte, Waren feil. Vielleicht war er auch, wenn er im 19. Jahrhundert gelebt hat, in einer Krippe, einem Heim für Findelkinder abgegeben worden. Diese Bezeichnung für eine Unterbringungsanstalt leitet sich von der Krippe der Heiligen Familie ab und wird seit dem 19. Jahrhundert auch für die Kinderkrippe als Einrichtung zur Betreuung von Säuglingen und Kleinstkindern und für Kleinstkinder arbeitender Mütter gebraucht. Diese Krippen sind Aufbewahrungsorte, in denen die Kinder auch ernährt werden. Wie gesagt, eine Krippe ist ein Futtertrog. Auch der Kropf, die krankhaft vergrößerte Schilddrüse des Menschen, hat zwar ihren Namen von der gekrümmten, gewundenen Form, bedeutet zugleich aber auch den Vormagen der Vögel. Der Kropf hat also wie der Futtertrog „Krippe“ etwas  mit der Nahrungsaufnahme zu tun. Raubvögel kröpfen, sie nehmen die Nahrung mit dem Kropf auf und fressen.

Wenn Menschen einen Kropf hatten, waren sie Kretins. Kretins galten als durch einen Kropf mißgebildete Schwachsinnige. Der Ausdruck Cretin stammt aus den Alpentälern im Wallis und Savoyen, in denen aufgrund des vorherrschenden Jodmangels oft Kröpfe auftreten. Der Ausdruck Cretin  ist ursprünglich positiv konnotiert Ein Cretin war ursprünglich ein Christ, französisch chrétien, altfranzösisch cresti(i)en, von lateinisch Christianus = der Christ oder, wie Luther gesagt hat, der Christenmensch. Ein Cretin war ein menschliches Wesen, ein Mensch, durchaus auch im Unterschied zum Tier. Durch Verknüpfung mit altfranzösisch crestien = der Leidende, der Kranke wird Cretin, nachdem das Wort um 1800 als Kretinismus ins Medizinerlatein eingegangen ist, seit dem 19. Jahrhundert in Deutschland und Frankreich eingeengt und mit negativer Wertung als Ausdruck für dumme, beschränkte Schwachsinnige gebraucht.

Der Ausdruck  Schwachsinn   bezeichnete  seit dem 18. Jahrhundert einen Mangel an Empfindung und Verstand. Die Ausdrücke schwachsinnig oder geistesschwach wurden gleich benutzt, wobei die Störung einmal im Bereich der Sinne, das andere Mal im Bereich des Geistes liegen sollte. Man erkennt daran, daß der Ort der Störung  nicht festlag. Kraepelin  benutzte den Ausdruck, um eine Vielzahl von psychischen Störungen zu bezeichnen. Er kannte unter anderem einen intellektuellen, einen moralischen und einen anergetischen Schwachsinn und zählte auch verschiedene Demenzformen dazu, wie die paralytische, die senile und eine akute Demenz sowie die Dementia praecox, die später von Bleuler mit einem Kunstwort als Schizophrenie bezeichnet wurde. Der Ausdruck  Schwachsinn wurde immer mehr auf eine intellektuelle Behinderung eingegrenzt und später als psychiatrischer Terminus dem Ausdruck Blödsinn entgegengesetzt. Schwachsinn bedeutete um 1920 als psychiatrischer Fachausdruck die geringeren, Blödsinn bedeutete die höheren Grade der geistigen Behinderung.  Heute wird in der Psychiatrie der Ausdruck Blödsinn nicht mehr benutzt.

Das Wort blöd hieß dagegen  althochdeutsch bl-odi = körperlich schwach, träge und furchtsam. Es soll Beziehungen haben zum Wort  bleuen = schlagen, zum Bleuel, dem Wäscheklopfer, zur Pleuelstange und zum Wort bloß, das nackt, unbedeckt und rein bedeutet und dessen Substantiv Blöße die Nacktheit noch zeigt. Wen man bloßstellt, der ist ungeschützt, den kann man schlagen.  Altnordisch blautr bedeutet weich, zart, schwach, furchtsam und wie bei dem deutschen Wort blöd, das es seit dem 16. Jahrhundert gibt, auch schon geistesschwach.  Unklare Beziehungen ergeben sich zu skandinavischen Wörtern, die etwas mit Feuchtigkeit zu tun haben.  Jedenfalls stammt das Wort blöd  von einer Wortsippe, die etwas Schwaches, Ungeschütztes, auch Schüchternes und Verzagtes und damit etwas Gehemmtes ausdrückt. Im 17. Jahrhundert wurde das Wort blödsinnig für schwachsinnig benutzt,  das Hauptwort Blödsinn kam erst im 18. Jahrhundert auf. Die alte Bedeutung blöd = furchtsam kommt in dem Spruch „sich oder sich nicht entblöden“ zum Vorschein. Jemand, der sich nicht entblödet, versucht, seine Furcht zu überwinden. Die Bedeutung vom Wort blöd hat sich ansonsten im Deutschen auf schwachsinnig eingegrenzt, was auch in den Wörtern blödeln  und verblöden, das ursprünglich einschüchtern bedeutete, deutlich wird.

Jetzt kommen wir zu den Wörtern oligophren, debil, imbezil und idiotisch.  Das Wort Oligophren wurde wie das Wort Schizophren als Kunstwort von Kraepelin geschaffen und bedeutet wenig Geist oder Seele. Es ist eine moderne Wortschöpfung aus alten, griechischen Wörtern. Ich möchte nicht näher darauf eingehen.

Das Wort debil für den leichtesten Grad der geistigen Behinderung ist interessanter  Es  bezog sich ursprünglich nicht auf den Geisteszustand. Wer, lateinisch gesprochen, debilis war, war gelähmt, gebrechlich, schwach und haltlos. Im Wort debilis steckt de = weg von und habilis = tauglich, behende, beweglich. Habilis stammt vom Verb habere, das „vermögen, können und die Fähigkeit und Mittel haben“ bedeutet. Das Verb debilito  bedeutete daher lähmen, schwächen, der Fassung berauben und entmutigen. Das dazu gehörige Substantiv debilitas = die Lähmung, Gebrechlichkeit und Schwäche  wurde in der Form Debilität im Deutschen als körperliche Schwäche und Gebrechen seit dem 17. Jahrhundert gebraucht. Seit dem 19. Jahrhundert wird auch das Adjektiv debil verwendet. Es bedeutete damals körperlich schwach und gebrechlich. Seit den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts werden die Wörter Debilität und debil auf die leichteste Form der Geistesschwäche eingeengt und zu einem psychiatrischen terminus technicus. Die Römer benutzten das Wort debilis aber auch noch in einem festen Ausdruck in Kombination mit dem Wort mancus. Sie nannten einen Körperbehinderten einen homo mancus ac debilis. Mancus bedeutet gebrechlich, verstümmelt, unvollständig, mangelhaft und schwach. Ein homo mancus ac debilis ist also jemand, der gebrechlich, verstümmelt und daher geschwächt war. Von mancus ist spanisch manca =die linke Hand, französisch manchot und spanisch manco einarmig sowie baskisch mangu  und holländisch mank = hinkend, und italienisch manco = mangelhaft abgeleitet. Wir kennen das Wort Manko  im Geschäftsleben als den Fehlbetrag  und  Mangel. Wie wir oben gesehen haben, ist für Spanier  also die linke Hand manca wie eine mangelhafte, verstümmelte Hand. Wenn man an die Bedeutung von mancus als behindert denkt, ist es aussagekräftig und bedenkenswert, daß auf Kalabresisch und auf Sizilien manka der Norden bedeutet.

Jetzt zum Wort Imbezil. Das Wort imbezil  kommt aus dem Latein. Und zwar  von in = ohne und bacillus, baculum = der Stab. Gemeint ist ohne stützenden Stab. Wir kennen das Wort baculum von den aus dem Griechischen stammenden Wörtern Bakterium oder Bazille. Es sind Stäbchenbakterien.

Imbezil bedeutet also = ohne Stab. Wer aber ohne Stab und ohne Stütze ist, ist schwach, kraftlos und kränklich. Ich habe nicht finden können, wer diesen Ausdruck geschaffen hat.

Auffällig ist, daß diese beiden Wörter debil und imbezil beinahe das gleiche ausdrücken. Aber nehmen wir das letzte dieser psychiatrischen Fachwörter. Das Wort Idiot stammt aus dem Griechischen. Hier meinte idiotes den einfachen Bürger, gewöhnlichen Menschen und den Nichtfachman und später auch den Nichtwisser. Der idiotes wurde als Privatmann, von idios = eigen, privat, als Gegensatz zum Mann gesehen, der im öffentlichen, staatlichen Dienst stand und daher als klüger und gebildeter galt. Auch in Deutschland  war vom 16. Jahrhundert bis 1800 ein Idiot einfach ein Ungelernter oder Laie, später auch ein Stümper. Ende des 17. Jahrhunderts kam das Wort Idiotismus auf, das die Mundarteigentümlichkeit oder Eigenart einer Sprache meinte. Zum „Schwachsinnigen“ wurde das Wort  Idiot erst im 19. Jahrhundert. Damals kamen auch die Wörter idiotisch,  und als Ersatz für den Idiotismus das Wort Idiotie auf. Dieser Bedeutungswandel wurde im Englischen angeregt. Hier hatte sich der Bedeutungswandel vom einfachen Bürger zum Narren, Blöd-, und Schwachsinnigen schon um 1300 vollzogen.

Soweit die ausgewählten  speziellen Wörter, die  etwas mit Behinderung zu tun haben. Wie wir gesehen haben, wird bei den Wörtern oft die Behinderung schon durch die Etymologie selbst deutlich. Bisher haben wir aber doch nur besondere Wörter für Behinderungen zu erklären versucht Jetzt möchte ich  die Frage stellen, was das Wort Behinderung und die Wörter, welche in verschiedenen Sprachen damit zusammenhängen, selbst bedeuten. Das deutsche Wort Behinderung  ist das Substantiv des Wortes behindern. Behindern wird erklärt mit hemmen, störend aufhalten, jemandem im Wege stehen, einer Sache hinderlich sein. Das Grundverb „hindern“  bedeutet jemanden von etwas zurückhalten. Im 9. Jahrhundert gab es das Wort gihintaren mit der Bedeutung betrügen, herabwürdigen. Im 10. Jahrhundert findet sich das Verb hintaren, welches  hemmen, vorenthalten, herabwürdigen und erniedrigen bedeutete. Man kann erkennen, daß schon althochdeutsch mit hintaren neben einer Hemmung eine Herabwürdigung  und ein Betrügen verbunden ist. Das Wort firhintaren aus der gleichen Zeit  bedeutet dem entsprechend beeinträchtigen, unterschlagen, aber auch betrügen. Viel klarer als bei  dem späteren Wort hindern  kann man erkennen, daß diese Wörter von der Präposition „hinter“ abgeleitet sind. Hinter als Präposition zeigt ursprünglich ein konstantes Lageverhältnis  in Ruhe oder gleichlaufender Bewegung, wie es in dem Satz:  „Ich stehe hier am Rednerpult“ zum Ausdruck kommt oder  die Richtung auf einen Zielpunkt an, wie in dem Satz: „Der Hund sprang hinter das Haus“.  Hinter kann aber auch zeitlich gemeint sein , wie in dem Ausdruck „hinter sich bringen“. Und es kann auch adjektivische Bedeutung haben, also der Hintere. Althochdeutsch hintar-i war das hintere Ende, der Schwanz. Daraus entwickelte sich im 18. Jahrhundert der Hintern. Wir kennen aber auch die Wortzusammensetzungen Hintergrund, hintergründig und Hintertreffen. Ein Treffen war früher ein Kampf. Wer im 18. Jahrhundert bei Kampf und Sieg nur am Rande oder gar nicht teilnahm, war im Hintertreffen, er gehörte zur letzten Schlachtlinie oder Reserveeinheit. Der militärische Terminus Hintertreffen wurde später verallgemeinert und bedeutet als „ins Hintertreffen kommen oder geraten“ in eine ungünstige Position oder in Rückstand geraten. Wer nach hinten fällt, fällt zurück. Altenglisch hinder und neuenglich behind  heißt =  hinten, nach hinten und zurück. Wer oder was einen behindert, hemmt einen, ist hinderlich, steht einem im Wege und wirft einen zurück. Es verhindert, daß man etwas macht oder daß etwas geschieht. Jedenfalls muß man wie Pferde, die über Gräben, Hecken und andere Barrieren beim Hindernisrennen springen müssen, zuerst Hindernisse oder Hemmnisse überwinden, damit man etwas bewegt.

Das kann das Pferd aber nicht, wenn ihm die Vorderfüße zugebunden sind, um es am Fortlaufen zu hindern. Genau dieses bedeutet oberdeutsch das Wort hemmen. Isländisch hemlil ist die Beinfessel. Mittelniederdeutsch ist ham  ein abgegrenztes Stück Weideland wie englisch mundartlich ham ein umzäumtes Feld. Im Wort hemmen ist also die durch eine Fessel oder einen Zaun verhinderte Bewegung, die Bremse und der dadurch bewirkte Stillstand enthalten. Der Psychoanalytiker Harald Schultz-Hencke hat in seinem weltberühmten Buch „Der gehemmte Mensch“  Menschen beschrieben, die aufgrund innerer Zwänge und Fesseln durch nicht aufgelöste Konflikte unfähig sind, ihr Leben in +-eigenem Recht zu gestalten.

Hindern heißt auf isländisch hindra und aftra. Wir denken bei aftra an  das englische aft = achtern, after = hinterher, nach, danach, nachdem und später und an das deutsche Wort der After = der Hintern. Dazu passend heißt auf isländisch fyrir aftan  hinter und hinten und aftur zurück. Man könnte sich vorstellen, daß statt von dem Wort hinter auch von after in den verschiedenen germanischen Sprachen Wörter  mit dem Bedeutungsinhalt „Behinderung“ hätten gebildet werden können. Daß dies naheliegt, erkennt man auch beim Griechischen. Hier wird ein Wort für hindern zwar nicht vom Wort für hinten ópisthen oder píso abgeleitet. Neugriechisch  k-ólos  heißt aber der Hintern, der Steiß und Popo und k-ólyma das Hindernis, Hemmnis zu k-olý-o, verhindern, hemmen. Ein anderes griechisches Wort für Hindernis, Hemmnis próskomma meint eigentlich den Anstoß. Denn das dazugehörige Verb proskópt-o bedeutet anstoßen. Woran man anstößt, erlebt man als Sperre, Schranke oder Hindernis.

Die Bretonen nennen dies Hindernis  harz, das man mit Stop übersetzen könnte. Mit dem Wort harz bilden sie neue Wörter, so harz-labour = Stop die Arbeit = Streik, oder harz-debrin, = Stop-essen = Hungerstreik, auch   harz-lamm = Stop-Sprung =der Fallschirm. Ein anderes bretonisches Wort für Hindernis skoilh meint den Bremsklotz und ungelegenen Zwischenfall. Wenn wir an das Hindernisrennen denken, so können wir nachvollziehen, daß ungarisch gátol = hemmen, hindern von gát = Damm, Deich, Hürde, Einhalt kommt. Mit gát hängt auch akad = steckenbleiben, stoßen, sich vorfinden und akadály = das Hindernis zusammen. Das schon genannte gátol und akadályoz bedeutet daher ebenfalls behindern. Auch im Polnischen wird ein Wort für hemmen, hindern = tamowa´c  von einem Wort für Damm =  tama abgeleitet.

Das Wort für den  Behinderten, wie wir es medizinisch gebrauchen, heißt japanisch sh-ogáisha. Es gibt drei Grundworte, die alle gleich shogai  heißen: Shogai  bedeutet das „Hindernis, die Verletzung“ und „das ganze Leben, der Lebensweg“. Es wäre möglich, hieraus eine Psychologie zu machen. Wer lebt, erleidet stets Verletzungen. Diese Verletzungen begleiten ihn sein ganzes Leben, so daß sein Leben immer als Hindernis aufgefaßt werden kann.

Was einen hindert, steht einem im Weg. Griechisch empódisma das Hindernis ist vom Wort empod-on abgeleitet. Es ist das, was einem em = im oder hier vor dem pous = Fuß steht. Genau die gleiche Bedeutung hat lateinisch impedire. Es bedeutet aber auch fesseln, verwickeln, unzugänglich machen und versperren. Das Substantiv impedimentum heißt daher Hindernis. Wenn man schnell vorankommen will, können einen Packpferde und jedes Gepäck sehr hemmen. Diese Bedeutungen hat der Plural von impedimentum, das Wort impedimenta. Italienisch impedito, spanisch impedido und rätoromanisch impedi heißt der Körperbehinderte. Auch eine  Schwangerschaft kann als  hinderlich empfunden werden, deshalb heißt kastellanisch anpedia = schwanger. Ein weiteres lateinisches Wort für hindern obstare bedeutet einfach ob = dagegen stare = stehen, also dagegenstehen. Obstaculum ist daher das, was entgegensteht, das Hindernis. Es kommt im Italienischen als ostacolo,  aber auch im Englischen als obstacle vor. Griechisch könnte man „ob“ mit „antí“ übersetzen. Antí heißt gegenüber, hinter und anstelle. Von enantíos gegenüberliegend oder –stehend wird enantí-oma das Hindernis gebildet.

Die alten Griechen hatten übrigens noch ein anderes Wort für Behinderung, das zeigte, was ihnen wichtig war. Sie waren freie Menschen, die für niedere Arbeiten Sklaven hatten und ihre freie Zeit, ihre Muße mit Vorträgen, Gesprächen und Studium verbrachten. Alles dieses, die Muße und die freien Tätigkeiten  nannten sie scholä. Wir haben von diesem Wort scholä  unser Wort die Schule abgeleitet. Mangel an Muße, also Arbeit und Beschäftigung empfanden die alten Griechen als Behinderung ihrer Freiheit und ihres Dranges zum freien Tun. Ascholía, also Mangel an Muße und freier Betätigung war daher ein Wort, das wir mit  Behinderung übersetzen können.

Die alten Griechen sind für ihre Fähigkeit bekannt, durch Muße sich freieren Problemen, z. B. der Philosophie zuwenden zu können und für ihre Begabung dazu bekannt. Die Engländer kennen wir als das Volk, das den Ausdruck fairness geprägt hat. Sie haben einen sense of fairness, einGerechtigkeitsgefühl also. Auch das Wort handicap stammt von ihnen. Es gibt zwei Erklärungen für dieses Wort. Entweder soll es vom lateinischen manucaptus kommen. Manucaptus heißt mit der Hand (manus) ergriffen (captus) und war der Rechtsausdruck für die Eigentumserwerbung durch Handauflegung bei der Gefangennahme. Der manceps war der, welcher einen als Beute erworbenen Sklaven, den man als Sache auffaßte und deshalb mit einem neutralen Ausdruck manicipium nannte, im Krieg durch Handgriff zum Eigentum erklärte. Daher war manceps der Aufkäufer, Pächter und Besitzer. Durch Austausch von lateinisch manus = Hand zu germanisch hand sei es zum englischen

Wort  handicap gekommen. Das liegt nahe, denn auch althochdeutsch war munt  Hand und Schutz, wie  es bei uns heute noch in den Wörtern Mündel, Vormund und bevormunden deutlich ist. Die andere Erklärung für handicap ist aber spannender. Danach geht das Wort darauf zurück, daß im 17. Jahrhundert das bei einer Art Lotterie gesetzte Geld oder Wertsachen in eine Mütze gegeben wurde, daher hand in cap = Hand in die Mütze, aus der der Schiedsrichter anschließend das gewonnene Geld verteilte. Dieser Schiedsrichter wurde handicapper genannt. Ende des 19. Jahrhunderts wurden handicap races =  Pferderennen geritten.  Der Schiedsrichter wurde auch hier handicapper genannt.  Er versuchte, ein faires Spiel zustandezubringen, indem er die stärksten Pferde belastete und den schwächeren Pferden Strecken- oder Zeitvorgaben genehmigte. Das bedeutete einen Vorteil für die schwächeren und einen Nachteil für die stärkeren Pferde. Dadurch wurde das Wort handicap allmählich  mit Benachteiligung, Nachteil, Behinderung gleichgesetzt. Das Wort drang auch in andere Sprachen ein. In Italien ist handicappato der Behinderte, im Deutschen kennen wir  handikapen und schon eingedeutscht gehandicapt als behindert, benachteiligt.

An diesem Wort handicap ist zu sehen, daß oft die Bedeutung von Wörtern sich verschlechtern. Handicap hätte genauso gut die Bedeutung Vorteil annehmen können. Interessant ist dabei auch, daß es hierbei um den Ausgleich von Vorteil und Nachteil geht. Ist jemand im Nachteil, so geht es darum, ihm durch Vergünstigung  eine Chance zu geben. Wer hinten liegt, behindert ist, bekommt einen Vorsprung, wird nach vorne gesetzt. Zugleich gibt es aber auch die andere Möglichkeit, nämlich die, den Stärkeren,  Bevorteilten nach hinten zu setzen, zu benachteiligen. Nur wenn man das tut, gibt es fair play und damit  Gerechtigkeit.

Was ist aber der Gegensatz von hindern – nun fordern. Im Althochdeutschen war fordar-on begehren, verlangen,  sich bemühen um, fördern. Es ist ähnlich wie das Wort hindern vom Wort hinter abgeleitet ist, vom Wort vorder, mit der Bedeutung vorn, am Anfang befindlich und früher abgeleitet. Die ursprüngliche Bedeutung ist verlangen, daß etwas herauskommt. Später bedeutete es zum Zweikampf auffordern. Für unseren Zweck ist bedeutsam. daß, wie die Wörter sagen, wer behindert ist, gefordert und gefördert werden sollte. Man muß sich um ihn bemühen. Wichtig ist, ihn zu fordern, seinen Kräften gemäß herauszufordern, aber darauf zu achten, ihn nicht zu über- oder unterfordern. Die Forderung muß auf den Grad und die Art der Behinderung eingestellt sein.

Ferner verwandt mit fordern ist das Wort fördern. Es soll vom Wort „fort“ stammen, das wie das Wort vorder mit dem Wort vor zusammenhängt. Fördern heißt ursprünglich vorwärts bringen, wohin bringen. Genau das wollen wir mit den Behinderten, sie vorwärts bringen und dadurch unterstützen und begünstigen. Auch englisch heißt furtherance Förderung. Das Wort fördern nahm aber auch  die Bedeutung „Bodenschätze zutage bringen und abbauen“ an. Wenn wir Behinderte fördern, können wir das so auffassen, als würden wir in ihnen vorhandene Schätzem bergen. Wenn wir ihnen helfen, sich zu bewegen, werden sie aktiv und lebendig. Das ungarische Wort für fördern „elömozdit“ ist von élö = lebendig und mozdit = bewegen, rühren, regen abgeleitet. Èlömozdit = fördern könnte man also mit „zum Leben bewegen, lebendig machen“ übersetzen. Viele Wörter für helfen, unterstützen und fördern  haben diesen vorwärtstreibenden Sinn. So englisch promote und  rätoromanisch promover von pro vorwärts und movete, mote = bewegen, dänisch fremme  (von frem = vorwärts), französisch activer (aktivieren) oder faire avancer (vorwärts bringen) von spätlateinisch ab-ante = vorweg.

Wir müssen aber vorsichtig sein. Zu große Forderung ist Überforderung. Ich präge hier ein neues Wort, indem ich sage, zu große Förderung ist Überförderung. Wir wissen, wie lähmend eine overprotecting mother sein kann. Die Bretonen, jenes altertümlich keltische Volk in der Bretagne, das ich sehr schätze, sagen harp!, wenn sie stop! sagen. Harp ist die Stütze, die Hilfe und Unterstützung, aber auch der Halt, die Pause und das Hindernis, die Hürde. Stützen, helfen und unterstützen ist gut. Zu viel  Unterstützung und Hilfe kann aber auch ein Hindernis sein. Bei Behinderten kann zu große Unterstützung, Hilfe und Überförderung verhindern, daß ein ausreichendes und /oder mögliches Maß an Selbständigkeit gewonnen wird.

Wir müssen also den Behinderten den ihnen gemäßen Stab (den baculum) in die Hand geben. Und müssen sie unterstützen, wo dies nötig und möglich ist. Wir müssen uns bemühen,  Abhilfe zu schaffen, wo dies möglich ist. Sorge heißt nämlich einmal dieses, nämlich Hilfe, Abhilfe schaffen. Mit der anderen Bedeutung von Sorge, nämlich Kummer und Gram und der Angst könnten wir die Behinderten überlasten und durch Angst und Schuldgefühle von uns abhängig machen. Deshalb ist Fürsorge, tätige Bemühung um jemanden, der ihrer bedarf, eine sehr menschliche Haltung. Wenn wir aber sorgenvoll sind und  statt den Behinderten nach ihren Bedürfnissen beiseite zu stehen, sie als Sorgenkind betrachten, damit also nicht, vor allem wenn es sich um erwachsene Behinderte handelt, als Gleichberechtigte, sondern immer wie Kinder behandeln, werden wir ihnen nicht gerecht. Wir müssen nämlich  schauen, wo sie statt „debilis“ zu sein, „habilis“ sind, also Fähigkeiten haben oder müssen ihnen die Mittel geben, wieder oder neue Fähigkeiten zu erwerben, sich also zu rehabilitieren. Wir müssen ihnen ihre Validität, ihren Wert und ihre Würde geben. Wir müssen sie, da wo sie schwach sind, stärken. Sie allerdings manchmal auch psychisch tragen, und dadurch stützen. Das italienische Wort sostenere = stützen, tragen, unterstützen stammt vom lateinischen Wort sustineo, aus sub = empor und tineo = halten ab. Manchmal bedeutet Hilfe und Unterstützung einfach nur eine Schulter zum Anlehnen zu geben bzw. zu haben, was beim bretonischen Wort skoaz deutlich wird, das Hilfe, Unterstützung, aber auch die Schulter bedeutet.

Das geht aber nur, wenn wir nicht von negativen Ausdrücken ausgehen. Die oben genannten Wörter für Behinderungen sind zumeist im Laufe einer langen Zeit gewachsen. Immer wieder wird ein Ausdruck eingeengt. Wir sehen, wie Kraepelin  und andere Kunstwörter wie Schizophren und Oligophren geschaffen haben, um einen neuen Sachverhalt zu beschreiben. Ich persönlich finde die Wörter Störung und Behinderung sperrig. Wahrscheinlich waren sie nach den Erfahrungen mit dem, Umgang mit Behinderten im Dritten Reich, auf den die Bilder der Pflegeanstalt Rastatt verweisen, notwendig. „Schizophrene“ und „schwachsinnige“ Patienten und andere damals sogenannte „Ballastexistenzen“ wurden sterilisiert und später durch die sogenannte „Euthanasie“ wie es hieß, „ausgemerzt“. Nach dem Zweiten Weltkrieg versuchte man, von diesen mörderischen Vokabeln wegzukommen. Man empfand auch die psychiatrischen Bezeichnungen als demütigend. So versuchte man, neue, zusammenfassende  Bezeichnungen zu finden, die nicht diskriminieren. Ich finde aber, daß das Wort Störung, das an Stelle des Wortes Krankheit neu benutzt wird, mich stört. Bei dem Wort „behindert“ stört es mich, daß immer noch  ein weiteres definierendes Wort dazukommen muß, also körperlich, geistig, seelisch und dann behindert. Ich empfinde das Wort „behindert“ auch wie ein Kunstwort, so wie es die Wörter Schizophrenie und Oligophrenie sind. Die Wörter für die einzelnen Behinderungen haben eine Geschichte, die das Wort „der Behinderte“ noch nicht hat. Es ist aber auffällig, daß unsere Ursprache, das Indoeuropäische, offensichtlich noch keine Wörter für Behinderungen gekannt hat und daß die  in den Einzelsprachen entstandenen Wörter bei gleichem Urwort so stark differieren, wie griechisch typhlós = blind und deutsch taub. Zudem besteht offensichtlich eine Tendenz zur Einengung und Verschlechterung der Begriffe, auch ohne die Nazis. Interessant ist auch, daß viele Wörter wie oben dargestellt den modernen Satz: „Behindert ist man nicht. Behindert wird man.“ direkt zum Inhalt haben, wie das deutsche Wort „hemmen“, wie lateinisch „obstare“ und andere. Letztlich  könnte es sein, daß auch das Wort „Behinderter“  trotz unserer Bemühungen, das Wort neutral und freundlich  zu verwenden, im Laufe der Zeit einen negativen Sinn bekommt. Deshalb ist für mich der Satz im Grundgesetz : „Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.“ auch  sprachlich schwierig. Er hat drei Wörter, die negativ konnotiert werden können, nämlich die Wörter niemand, Behinderung und benachteiligt.

Ich würde deshalb die Behinderten positiv konnotiert die Förderungswürdigen nennen. Dann könnte der Satz im Grundgesetz lauten: „Jeder  Förderungswürdige muß gefördert werden.“ Allerdings wäre es möglich, daß auch dann ein negativer Ton hereinkommt. Denn man könnte sich fragen, wer denn würdig ist, gefördert zu werden. Jedenfalls kommt es darauf an, positive Begriffe zu benutzen, allerdings ohne euphemistisch zu sein, ohne also die Realität zurechtzubiegen. Ich hoffe, Ihnen ist deutlich geworden, wie sehr Sprache unser Verständnis von Behinderung beeinflußt bis hin zu politischen Entscheidungen und daß es nicht ausreicht, bestimmte Begriffe, weil sie mißachtend zu sein scheinen oder sind, nicht zu verwenden. Wir müssen uns immer damit auseinandersetzen, welche Begriffe wir verwenden. Und wir sollten uns auch darüber im Klaren sein, daß alle benutzten Wörter positive und negative Implikationen haben, die unser Handeln beeinflussen, und zwar, je unbewußter sie bei uns sind, desto eher in negativer Hinsicht. Deshalb ist es erfreulich, daß es Patrick Werner gelungen ist, uns bildlich die Bedeutung „Behinderter“ so zu vermitteln, daß wir bei Behinderten an lebensfrohe, individuelle Menschen mit Partnerproblemen und anderen Problemen des täglichen Lebens denken, an dich und mich eben. Nach dem Besuch dieser Ausstellung werden Sie, so hoffe ich, Behinderte mehr schätzen  und vielleicht auch einen liebevollen Blick auf ihre eigene Hemmung oder Behinderung werfen. Ich hoffe aber auch, daß Sie bewußter auf Ihre Sprache achten.

Danke