Gehaltene, bisher nicht veröffentlichte Vorträge

Die folgenden bisher nicht in schriftlicher Form vorliegenden Vorträge sind als Folge meiner Dissertation entstanden. Ich hatte damals die Möglichkeit, bei verschiedenen Gelegenheiten Vorträge zu halten.

Ich gehörte damals dem Verein „Migration und seelische Gesundheit“ an, der von dem Dolmetscher und migrationspsychiatrischen Autor Antonio Morten geleitet wurde. Im Rahmen der psychiatrisch-psychotherapeutischen Gütersloher Fortbildungswochen Klaus Dörners konnten wir 1983 und 1985 zu migrationspsychiatrischen Themen einen Nebenkongress halten. 1983 beim Ende des Ost-West-Konflikt ergab sich damit das Thema 1993 wie von selbst
„Displaced persons und heimatlose Ausländer des Zweiten Weltkriegs und durch das Ende des Ost-West-Konflikts entheimatete Ausländer – ein Vergleich“

Zwei Jahre später interessierte mich die Frage, wie Migration die Lebensgestaltung beeinflusst. Deshalb 1995 der Titel
„Möglichkeiten aktiver und passiver Lebensgestaltung am Beispiel der Migration.“

In den Rahmen dieses Generalthemas fällt auch der Vortrag von 1994
„Relevanz oder Irrelevanz der Frage: Ist die erzwungene Migration eine Frage für die soziale Psychiatrie.“

Das Buch „Schrecks Anstalt“ zeigt an Beispiel der Pflegeanstalt Rastatt auf, wie nationalsozialistische Politik aus Kostenersparnisgründen zuerst psychiatrische Langzeitkranke in eine damals zu diesem Zweck in Baden gegründete Sparanstalt steckte, um sie bei Kriegsbeginn der Euthanasie, das heißt der geplanten Mordaktion zuzuführen.
Ich bekam eine Einladung zum Dreiländerkongress in Karlsruhe und nahm Gelegenheit, beim Kongress der Frage nachzugehen, wie reduktionistisches Denken auch Jahrzehnte nach dem Dritten Reich den Umgang mit psychisch Kranken und Behinderten beeinflusst, das heißt, dass auch damals (wie auch heute noch) Kostenersparnis wie im Dritten Reich eine Rolle spielte. Damals ging es gerade um die Frage, ob und wie man Fallpauschalen zur Regelung und Kostenersparnis einsetzen könne. Deshalb 1998 mein Titel
„ICD 10 und Fallpauschalen – über das reduktionistische Denken der heutigen Psychiatrie und Psychotherapie“

In diesen Zusammenhang gehört auch „Das Menetekel nationalsozialistischer Sparpolitik am Beispiel der Pflegeanstalt Rastatt“, ein Vortrag von 1994, der aber schon in schriftlicher Form vorliegt.
Das Buch „Schrecks Anstalt“ gab das Stadtmuseum/Stadtarchiv Rastatt heraus. Ich wurde gebeten, bei der Eröffnung der Fotoausstellung „Einblicke“ von  Patrick Werner zum Thema Behinderung zu sprechen. Daher 1999 mein Thema
„Was versteht man unter Behinderungen und Behinderung und wie kann man helfen?   – eine Analyse aufgrund sprachlicher Befunde“.

Ich durfte am 16. November 2017 im Generallandesarchiv Karlsruhe anlässlich der Eröffnung der Wanderausstellung „Krankenmord im Nationalsozialismus. Die Euthanasie-Aktion T 4 in Deutschland der Gedenkstätte Grafeneck“ einem Vortrag „Schreck und Schrecken – Baden und die ‚Euthanasie‘-Morde 1940“ halten. Hier finden Sie ihn.

Franz Peschke
AG 16: Psychiatrische Aspekte der Aus- und Übersiedlung

GwG Fachtagung „Interkulturelle Beratung und Therapie“

Pädagogische Hochschule Freiburg 03. bis 05. Oktober 1991

 

AG 16: Psychiatrische Aspekte der Aus- und Übersiedlung

6.Februar 1990 kündigte Bundeskanzler Kohl völlig überraschend in der CDU CSU Bundestagsfraktion seine Absicht an mit der DDR unverzüglich über eine Währungsunion und wäre so Form zu verhandeln er begründete dies mit der wirtschaftlichen Situation der DDR und den nach der Öffnung der Mauer ständig steigenden Übersiedlungszahlen Übersiedlerzahlen diese Argumentation benutzte Kohl auch in den Verhandlungen mit der Sowjetunion um Druck auszuüben danach ging alles Schlag auf Schlag. Die Wahl in der DDR dann die Währungsunion schließlich heute vor einem Jahr die Vereinigung der besten da beiden deutschen Staaten unter Ausnutzung des Artikels 23 des Bonner Grundgesetzes .

Die schon bei der Öffnung des Eisernen Vorhangs durch Ungarn erfolgte Massenflucht von DDR Bürgern der bald die Flucht über deutsche Botschaften anderer Länder wie der CSSR Und dann die überraschende Öffnung der Berliner Mauer folgte hohen Stolz als Abstimmung mit den Füßen bezeichnet.

Am Anfang der deutschen Einheit stand also eine massenhafte Übersiedlung die in der Bundesrepublik Angst erregte aber zusammen mit der krisenhaften wirtschaftlichen Situation der DDR bewirkte dass die deutsche Einheit viel schneller als erwartet kam.

Zur gleichsam organischen Zusammenfassung der beiden Deutschlands blieb keine Zeit Punkt Warne vor dem noch völlig unklaren Folgen wurde nicht beachtet Punkt die Wirtschafts und Währungsunion Kram schlagartig Punkt die Blockparteien wurden einfach übernommen die Frage des Eigentums an Haus und gut das ehemals Westdeutschen gehörte blieben genauso unbeantwortet für die Frage Wer als Stasi-Agent zur Verantwortung gezogen werden sollte und wer nicht.

Trotzdem war die Stimmung anfangs gut Punkt Kohl strahlte Zufriedenheit aus Komma und das wurde ihm gelohnt durch Jubelrufe bei Besuchen in der DDR und Ost-Berlin besonders aber durch hohe Wahlsiege der bürgerlichen Parteien bei der Volkskammer- und dann nach der Einigung erfolgten Bundestagswahl.

Schon bei der Flucht über Ungarn besonders deutlich aber bei der Öffnung der Berliner Mauer konnte man sehen wie glücklich die Menschen waren. Die letzten Jahre seit Gorbatschow war die DDR Bürger viel mutiger geworden Komma ich die ihnen nachgesagte zwanghaftigkeit hatte hatte nachgelassen die Angst vor der Obrigkeit war weniger geworden. Jetzt bei Öffnung der Mauer lief gleichsam der Kochtopf über Komma die DDR Bürger die immer diszipliniert diszipliniert mit wenig Geld jeden Urlaub bestenfalls in befreundeten sozialistischen Ländern verbringen mussten auch hier unter Kontrolle dass der Stasi nutzen sie jetzt jede Gelegenheit die Grenze zum Klassenfeind zu überschreiten. Und anfangs war diese Grenzüberschreitung eine Massenveranstaltung Punkt auch nach der vollzogenen Währungsunion Punkt hier schon gab es nach der ersten freundlichen Aufnahme im Westen den ersten Ärger. Die Bewohner grenznaher Städte wie Lübeck beschwerten sich über die Autoabgase der Trabis und darüber dass durch die DDR Bürger die Geschäfte Nähe gekauft wurden oft mit der Bemerkung jetzt sein zuerst einmal sie dran sie hätten ja Jahrzehnte warten müssen.

Diese Schwierigkeiten regelten sich als in der DDR Geschäfte wie Aldi aufmachten und so die Fahrt in den Westen allein fürs Einkaufen nicht mehr nötig war.

Jetzt kamen aber auch immer wieder Westdeutsche zu ihnen. Ich selber konnte zum ersten Mal in meinem Leben im Februar 1990 als Kohl in Moskau war als gebürtiger Lübecker bei Schlutup was mit schließe Grenze auch assoziiert wird noch mit Passierschein der mir dann abgenommen wurde und voller Angst vor den DDR Behörden nach Schwerin fahren. Später konnte ich dann beim Gasthof zum Ende der Welt den Todesstrafe überschreiten den mein Vater immer mit vielen Fern stecher Geste gezeigt hatte und erkennen dass es möglich war das Ende der Welt zu überschreiten.

Ich aber kam nur als Tagesgast. Andere blieben. Besonders nach der Vereinigung und dem Aufbau der neuen Bundesländer gingen als Ostexport westdeutsche Politiker wie Biedenkopf nach Osten, aber auch clevere Firmengründer aus dem Westen kauften sich gleich ein. Zur gleichen Zeit gab es ein neues Phänomen. Nämlich eine neue Sorte von Gastarbeitern. Bürger der neuen Länder die in Wohlsitz zum Beispiel in Thüringen behielten aber wegen des Lohngefälles in Frankfurt am Main arbeiteten.

Diese Art des Umgangs von Wessis Ossis gegenüber wurde als demütigend empfunden schon zu alten DDR Zeiten waren die DDR Bürger die armen Brüder und Schwestern denen man verwesten ausgekehrt Pakete schickte Punkt jetzt wurden sie von Western regiert verloren aufgrund unklarer Regelungen im Einigungsvertrag ihre Arbeit krabbeln unter Stasiverdacht und fühlten sich mit einem Mal im eigenen Land das ist nicht mehr gab fremd. Man darf ja nicht übersehen dass bei Ablehnung auf die die DDR bei vielen Bürgern stieß die DDR auch eine gewisse Geborgenheit bot das Zusammenleben war geregelt Punkt der Lebensstandard war zwar gering die Wohnung schlecht bis miserabel aber wenn nach Mann kein Quertreiber war kein Republikflüchtling hatte man seinen geregelten Arbeitsplatz und sein auskommen. Überall bis in die privatesten Bereiche Schnüffelten zwar die Stasi herum aber ähnlich wie in einer paranoiden Festungsfamilie hielt man nach innen zusammen solange es einen Außenfeind gab der durch die Mauer abgehalten werden konnte . Mann war genügsam und hatte sich mit der Situation arrangiert ähnlich wie Westdeutsche für die die 2 Staaten BRD und DDR eine ewige Realität darstellten an der nicht zu rütteln war und die sich unter Stasi nichts vorstellen konnten.

Trotzdem war seit Gorbatschow die Realität der DDR immer bedrückender erlebt worden besonders da die alten Holzköpfe der DDR allen voran Honecker stramm ballini geblieben. Bei Lini blieben. Die Hoffnungen die Hoffnung lag im Westen der Anschluss war vorprogrammiert wurde die  Kohl-lonie oder auch Kohl-landien.

Jetzt aber kam nach übergroße Hoffnung und Erwartung ja Realisierung der Bundesrepublik die große Enttäuschung das Große Erwachen Punkt die alten DDR Werte wenn sie denn etwas gehalten galten nicht mehr der Sozialismus war international verloren die eigene Arbeitsleistung war entwertet. Berechtigte Rentenanrechnungen wurden vorerst nicht gewährt. Ein Rechte das heißt richtig Orientierung wurde nicht wollte nicht aufkommen. Früher hatte man seinen Trott jetzt die Arbeitslosigkeit. Die erhoffte Solidarität durch die Westdeutschen ließ sehr zu wünschen übrig. Bei vielen sank das Selbstbewusstsein so, Dass sie Suizid machten. Bei zunehmendem Verfall der Staatsgewalt die von alten Polizisten aus DDR Zeiten vertreten wurde fuchse Kriminalitätsrate rasch der früher geschmähte Außenfeind war nicht mehr da und so richtete sich die Furcht und da hast du nicht mehr gegen die Bösen den bösen West hin sondern gegen sexuell anders geartete und Ausländer eine Entwicklung übrigens den nach dem Ende des Ost West Konfliktes europaweit auch in der alten Bundesrepublik anzutreffen ist und die durch die unselige Asyldebatte angeheizt wurde. Die allgemeine Verunsicherung und Angst nahmen durch die Entwurzelung zu Punkt zudem wuchs das Misstrauen da einerseits alte Seilschaften als gute Wendehälse Erneut gute Stellen besetzen andererseits die neue Ordnung nicht hielt was sie zu versprechen schien. Überhaupt wer trug am meisten davon? Die über liefer die Mitläufer des alten Systems die Anpasser die Wendehälse oder die Quertreiber

Übersiedler die unmittelbar vor der Wende in den Westen kamen sind manchmal besonders enttäuscht Punkt sie haben oft lange unter Einsatz ihrer Freiheit und der Aufgabe ihrer Berufswünsche gekämpft und den anderen den Anpassern viel zum Sozialaufstieg in der DDR jetzt auch der soziale Aufstieg in der neuen BRD in die Hände. Deshalb sind sie auch besonders an der Aufklärung von Stasi Verbrechen interessiert.

Aber auch für Politiker und Bürger der alten Bundesrepublik ist eine neue Situation entstanden. Jetzt geht es darum die Probleme und Nöte der ehemaligen DDR Bürger ernst zu nehmen nicht hochmütig und unsensibel zu sein nicht einfach so zu tun als sei der westliche Weg der einzig mögliche vor allem aber den Stasi Betroffenen zu helfen dass eine Vergangenheitsbewältigung wirklich möglich ist Punkt es darf keine eierkuchen Atmosphäre entstehen mit dem Gedanken wir sind doch alle Brüder schwamm drüber. Nur Offenheit und Ehrlichkeit ist Psychohygiene hilfreich weshalb wir Westdeutschen wenn wir auch ich früher nicht viele Informationen hatten oder haben konnten jetzt zuhören müssen was uns die DDR Bürger beziehungsweise ehemaligen DDR Bürger und Übersiedler zu sagen haben.

Das betrifft im Übrigen auch die Aussiedler aus den anderen ehemaligen Postgebieten. Die Erfahrungen Sollten unbedingt ernst genommen werden Punkt die Folge der staatlichen Einheit Deutschlands und der politischen Umwälzungen im ehemaligen Ostblock mit diesen Staaten Verträge geschlossen wurden oder werden hat sich die rechtliche Situation der Deutschstämmigen stark gewandelt. Die Deutschen in Oberschlesien beziehungsweise Polen können jetzt nicht mehr hoffen dass sie in der Heimat bleiben können die später durch einen Friedensvertrag erneut deutsch wird Punkt sie sind jetzt rechtlich wie auch die sich selbst  Slazacy Linden Schlesinger polnische Staatsbürger haben aber Minderheitenschutz Punkt von Autochthonen also undefinierten Eingeborenen wollen sie jetzt eigene wurden sie jetzt als eigene Volksgruppe wurden sie jetzt zu einer eigenen Volksgruppe. Noch aber ist die Vergangenheit nicht aufgearbeitet die Oberschlesien wollen dass die Vertreibung der deutschen 1945 46 von der polnischen Seite anerkannt wird Punkt bei ihnen kann man sich mir vorstellen dass sie in den alten Siedlungsgebieten bleiben und wie von Bonn verlangt einen Folgefunktion einnehmen trotz der Diskussion um die Helmuts seit der 70er Jahre als bei den Rumäniendeutschen die seit 850 Jahren als Siebenbürger Sachsen und seit 52 Jahren als Banater Schwaben in Rumänien gesiedelt haben die jetzt aber eine verschwindende Minderheit geworden sind Punkt 800000 Deutsche lebten 1900 dort unter 45 die Hälfte mit der 89 210000 von ihnen wanderten 1990 erneut Hundertfünfzehntausend in die alte Heimat aus jetzt leben noch 80000 Deutsche im Verwaisten Osten deren Infrastruktur zusammengebrochen ist deren Zentrum die evangelische oder katholische Kirche oft ohne Pfarrer ist Punkt die Rumäniendeutschen anders als die Schnee Seher die so lange miteinander verheiratet und verschwägert waren dass der Name nichts aus sagt man denke zum Beispiel an die Tegernseer Übersiedler Schark Golkowski oder die Fußballer Grabowski da also die Rumäniendeutschen ihre Identität als Deutsche durch ihren Namen durch ihre Sprache oder eben durch ihre katholische oder evangelische Religion bewiesen da die anderen Rumänen außer den Ungarn orthodox waren bricht mit dem leerstehenden Häuser eine der zentralen Eckpfeiler in der Identität weg. Zudem sind durch den Weggang ihrer Landsleute familiäre und nachbarschaftsverbände Bande Nachbarschaftsbande in einem Maße zerbrochen den wir uns gar nicht vorstellen können. Die Menschen vereinsamen dort zunehmend auch die wirtschaftliche Situation ist verheerend. Deshalb wirkt es wie ein Hohn wenn westdeutsche Politiker wie Lafontaine oder Kohl diese Menschen jetzt raten durch dort in ihre Heimat zu bleiben. Es erzeugt zugleich Wut und Enttäuschung über diese verständnislosigkeit. Zudem haben wir gerade die Rumäniendeutschen durch die Ausgliederung der letzten Jahre viele Verwandte in der BRD die Ihnen bei allen Schwierigkeiten zum Beispiel unterschiedlicher kulturellen Standpunkt altertümliche Sprache usw bei der nicht einfachen Integration helfen können Punkt da sind die Voraussetzungen einfacher als bei vielen Sowjetdeutschen die ihre Sprache lange unterdrücken mußten und deshalb nur wurde mit ihr sprechen was bei der Aussiedlung schwere Anpassungsprobleme bedeuten könnte da auch sie als fremd empfunden werden oder bei vielen Helmut die keine Deutschen was immer das ist sind sondern eigentlich polnische Wirtschaftsflüchtlinge Punkt im bei und zum Abschluss möchte ich noch darauf hinweisen dass in der Lausitz sorgen leben ein eigenständiger slawischer Stamm Punkt die Sorgen sind Slawen aber deutsche. Ihre kulturelle Identität ist gefährdet.

Franz Peschke
Psychisches Elend als Kriegsfolge in Europa - am Beispiel der psychisch kranken Wieslocher displaced persons und heimatlosen und Ausländer

Die Nazis nutzten den von ihnen ausgelösten Zweiten Weltkrieg dazu, ihre Verbrechen auszuweiten: Sie verschleppten Bürger der von ihnen besetzte Länder zum Zwangsarbeitereinsatz ins Deutsche Reich, ließen kriegsgefangene Sowjetsoldaten hungern und verhungern, ermordeten psychisch Kranke und verschleppten Juden, Sinti, Roma, Polen und andere Menschen in neu errichtete Konzentrationslager, um sie dort durch Gas zu ermorden.

Durch den Zweiten Weltkrieg wurden ganze Städte und Regionen verwüstet und unbewohnbar. Die Folge war millionenfaches unsägliches Leid, war massenhaftes Elend.

Mit Herbert Maas wird die Etymologie des Wortes „Elend“ wie folgt gedeutet:

„Elend. Althochdeutsch eli lenti bedeutet „im anderen Land, im Ausland“, nämlich wie das andere Rheinufer Elisazzi =  Elsass hieß. Althochdeutsch eli  ist mit lateinisch alius = ein anderer, griechisches allos, tocharisch alyak und altirisch aile  urverwandt. Noch im Gotischen wird der Begriff „anders“ durch das indogermanische Wort gedeckt: aljis, später aber im Althochdeutschen durch andere verdrängt. Mittelhochdeutsch ist also der ellende = der aus dem fremden Land Kommende, der Hilflose, der Unglückliche. Vergleiche dazu die urnordischen Parallelbildung alja markiR = Ausländer. –  Die Bezeichnung der aus der räumlichen Verpflanzung sich ergebenden Schwierigkeiten, d. h. des Zustandes der Verbannung, werden auf jede Art von Not und schwere Entbehrung übertragen.“

Die von den Nazis Verschleppten, Kriegsgefangenen und im Konzentrationslager Ermordeten waren ellende,  waren Menschen in schwerer Not der Entbehrung, Hilflose, Unglückliche.

Eine weitere Vergrößerung des Elendes ist ein psychisches Elend, ein Elend, das Folge von psychischem Druck, von Konflikten ist und wobei neben einer räumlichen Verpflanzung ein psychisches Außer-Sich-Sein eine Rolle spielt.

Schon während des Zweiten Weltkrieges kamen von den Nazis verschleppte Zwangsarbeiter in psychiatrische Kliniken. 82 Zwangsarbeiter wurden im Zweiten Weltkrieg in die damalige Heil- und Pflegeanstalt Wiesloch aufgenommen. Die meisten hatten eine Schizophrenie, sehr oft werden auch folgende Diagnosen angegeben: reaktiver Erregungszustand, reaktive Depression, Depressionszustand und Suizidversuch, Suizidabsichten. Wenn man die erhaltenen Aufnahmebemerkungen nach Gruppen ordnet, kann man sie in vier Gruppen ordnen:  die Zwangsarbeiter kamen aus folgenden Gründen in die Klinik: 1. als Reaktion auf die Verschleppung, 2. aus Heimweh, 3. weil sie nicht arbeitsfähig waren und 4. weil sie mit dem Gesetz in Konflikt gerieten.

Für die Nazis am entscheidendsten war die vorhandene oder mangelnde Arbeitsfähigkeit. Die Zwangsarbeiter aber als zwangsweise Verschleppte, von ihren Familien Getrennte, Entwurzelte reagierten mit einer Depression, weil sie verschleppt worden waren und sie hatten Heimweh.

Dieses kann verdeutlicht werden durch die einzige noch erhaltene Krankengeschichte eine zwangsverschleppten Polin:

„Abschrift des ärztlichen Aufnahmezeugnisses:

Über die weitere Vorgeschichte sind wir nicht unterrichtet. Es handelt sich um eine 17jährige Polin, die vor etwa 3 Wochen zusammen mit ihrer Schwester nach Deutschland geschickt und dem Landwirt N.N. in O.  zugeteilt wurde. Das Mädchen, das kein Wort Deutsch spricht, legte von Anfang an Verbitterung, Unlust und stille Opposition an den Tag. Nach knapp 8-tägiger nachlässiger Arbeit behauptete die L.,  krank zu sein. Sie wurde daraufhin im … Spital versorgt. Ein Organbefund konnte nicht erhoben werden.  Nach der Rückkehr in ihre Arbeitsstelle äußerte die L.  Zeichen heftigen Heimwehs, so daß sie sie für die Familie N.N. ein immer schwieriger werdendes Problem wurde. Gestern früh lief nun die Nachricht ein, daß ihre Mutter in Polen gestorben sei. Nachmittags veränderte sich die L. ganz plötzlich in einer ihrer Quartiersleute erschreckenden Weise. Sie geriet in eine Art „Starrkrampf“, glotzte finster-leer vor sich hin,  reagierte auf nichts mehr. Der zugezogene Arzt ordnete ihre Überführung in die Heidelberger Psychiatrischen Klinik an, die jedoch ihre Aufnahme wegen Platzmangels ablehnte. Infolgedessen gelangte die L. gestern abend gegen 22.30 Uhr in Begleitung der O.-er Gemeindeschwester (von der die vorstehenden Angaben stammen) in die hiesige Heilanstalt. Bei der Ankunft bot sie das Bild eine sog. psychogenen Stupors. Siel verhielt sich steif unzugänglich und ignorierte alle Bemühungen, sie aufzulockern. Heute morgen gelang es mit Hilfe einer anderen polnischen Patientin, u. die ein wenig Deutsch gelernt hat, ihre mürrische Feindseligkeit zu durchbrechen. Sie klagte bei dieser Gelegenheit über unerträgliche Schmerzen in der Hals- und Magengegend und fordert ihre sofortige Entlassung in ihre polnische Heimat. Die diagnostische Sachlage ist klar: wir haben es mit einer wunsch-zweck-bedingten (also hysterischen) abnormen seelischen Reaktion zu tun, die hart an glatte Simulation grenzt. Ein kurzer Aufenthalt der L. in der geschlossenen psychiatrischen Anstalt ist nicht zu umgehen, da das Mädchen in seinem augenblicklichen Zustand draußen eine empfindliche Störung der öffentlichen Ordnung bedeutet. Selbstgefährlichkeit, Allgemeinlästigkeit,  Behandlungsbedürftigkeit. Die Voraussetzungen des § 5 IFG sind gegeben.

Wiesloch, Datum, gez. Med.Rat Dr. Overhamm.

Datum. Die Kranke wurde gestern Abend gegen 22.40 Uhr von der O.-er Gemeindeschwester angeliefert. Zu deren Angabe vergl. die vorstehende Abschrift des offiziellen Zeugnisses. Heut früh präsentiert sich die Kranke, die gleich nach FU 2 geleitet worden war, ein wenig gnädiger. Sie nennt  durch Vermittlung einer als Dolmetscherin fungierenden anderen polnischen Patientin wenigstens ihre engeren Personalien. Ihre Klagen beziehen sich nunmehr auf Herz und Magen. Der Kopf sei in Ordnung. Sie wolle schleunigst nach Polen zurück oder, wenn sich das nicht so rasch ermöglichen lasse, zum mindesten in ein richtiges Krankenhaus. Hier sei sie ja von lauter Verrückten umgeben. Während ihre gestrigen Demonstrationen als hysterische Reaktion (Motive: Heimweh, fressende Wut über die ihr zudiktierte Zwangsarbeit, Kummer über den Tod der Mutter, Haß gegen alles Deutsche usf. Ziel Rücktransport nach Polen) imponieren, hat man angesichts ihres heutigen Sichgehabens den Eindruck eines fließenden Hinübergleitens ins glatt Gemachte, bewutseinshell Inazenierte, glatt Simulatorische.

Körperlich: Junges Ding. Kratzbürstiges, aufrührerisches, freches Gesicht. Tadellose Bezahnung. Keine Struma. Herz und Lungen o.B. RR 10/60 mm Hg. Bauchdecken straff. Extremitäten regelrecht. Neurologisch: völlig durchschnittliche Verhältnisse. -Ov.“

Wie man sieht, hatte der behandelte Arzt kein Verständnis für die Not der Patientin. Der Ton der Krankengeschichte ist hämisch. Trotzdem erkennt man gut die Motive, die zur Einweisung in die Klinik geführt hatten. Leider fehlen andere Krankengeschichten, so daß ich es bei diesem Beispiel bewenden lassen muss.

Als direkte Kriegsfolge sind Bombenangriffe und psychische Reaktionen darauf zu bezeichnen. Fünft displaced persons erklärten nach dem Zweiten Weltkrieg, sie seien durch einen Feindangriff (Bombenangriff) verletzt worden, einer von ihnen wird als durch den Bombenangriff vorzeitig gealtert, fast hilflos bezeichnet. Zwei Kranke bekamen durch einen Bombenangriff eine reaktive Depression bzw. einen Zustand, der als Nervenzusammenbruch bezeichnet wurde. Bei diesen Kranken hängen die psychischen Reaktionen also direkt mit Kriegseinwirkungen zusammen.

Schon während des Zweiten Weltkrieges gründeten die gegen das kriegsführende Deutsche Reich verbündeten Vereinten Nationen eine eigene Organisation, um falls möglich, von den Nazis verschleppte Bürger der Vereinten Nationen zu suchen, zu finden und in ihre Heimat zurückzubringen. Die 1943 gegründete Organisation wurde UNRRA (United relief and rebalitation administration) genannt. Sie errichtete in Wiesloch ein eigenes Krankenhaus für die psychisch Kranken displaced persons der amerikanischen Besatzungszone Deutschlands. Der Gründungstermin, Februar 1947, fällt mit dem Beginn des Kalten Krieges zusammen. In dieses Mental Hospital Wiesloch wurden 782 displaced persons aus 28 Nationen aufgenommen.

Unter den 782 displaced persons waren auch 119 Juden aus 11 Nationen. Die Anamnesen behandeln vier Themen: 1. Anamnesen über KZ-Aufenthalte, 2. Anamnesen über die Flucht nach Sibirien, 3. Anamnesen über das Untertauchen während des Zweiten Weltkrieges und 4. andere Anamnesen.

Die folgende Anamnese zeigt deutlich die starke Zerstörung des Persönlichkeitskerns eines polnischen Juden, der im KZ Auschwitz war:

„Patient war im KZ Auschwitz und arbeitete im ´Verbrennungskommando´ im Krematorium. Früher war er sehr fromm, hat bis zu seiner Einbringung ins KZ in einer religiösen Schule Talmud gelernt. Im Lager … war er als völlig unbeherrschter und sehr leicht in wilde Erregung verfallender Mensch bekannt. Seine stereotype Äußerungen war: ´Wie schade, daß ich Dich nicht in den Ofen geworfen habe.´ Weiter fiel auf seine starke sexuelle Erregtheit, er brachte sich sehr oft Mädchen für die Nacht, ohne Rücksicht auf Nachbarn und Lager-Vorschriften. Im auffallendem Gegensatz zu seinem In-Wut-Geraten war eine kolossale Ängstlichkeit:  er fürchtete den Anblick eines Messers, fürchtete sich vor Hunden, erklärt das durch die Erlebnisse im Lager.“

Um den deutschen Verfolgern zu entgehen, versuchten verschiedene Juden unterzutauchen. Eine Jüdin versuchte unter arischem Pass zu leben. Dadurch erlebte sie Fürchterliches:

„Patientin habe in Polen während des Krieges und arischem Pass gelebt. Bei Kriegsende hätten Ukrainer ihren Mann, der ebenfalls als Jude unter arischem Pass gelebt habe, in Baldrodt  bei Sanok als vermeintlichen Polen bestialisch ermordet. Patientin habe den Leichenteile ihres Mannes selbst zusammentragen und sie bestatten müssen. Sie habe das psychisch damals ohne Schädigung überwunden. In …  habe die Schwägerin zusammen mit der Patientin ein gutgehendes Geschäft gehabt. Sie hätten sich auch damals noch als Nichtarier (aus Furcht vor Pogromen durch die Polen) bekannt. Später sei die Patientin nach Deutschland und habe die Schwägerin in die amerikanische Zone nach Deutschland zu holen vermocht.“

Die Patientin bekam 1946 eine Depression, die als endogen bezeichnet wurde. Es dürfte sich um eine reaktive, erst später einsetzende Entwurzelungsdepression, also ein Psychotrauma gehandelt haben.

Das Mental Hospital wurde, wie gesagt 1947 errichtet. Es waren zwei Jahre Kriegsende vergangen. Deshalb rückten andere Themen in den Vordergrund. Viele sowjetische Soldaten hatten sich als Kriegsgefangene „umdrehen“ lassen und hatten auf deutscher Seite gekämpft, weil sie einerseits so dem Verhungern entkamen, andererseits, weil sie von Stalin keine Hilfe erwarten konnten. Schon ab Ende 1944 und dann verstärkte nach dem Jalta-Abkommen wurden Millionen Sowjetbürger von den Briten oder Amerikanern zwangsweise repatriiert. Es handelte sich um Russen und Ukrainer. Diese Menschen, die zuvor aus einer Zwangslage heraus die Seite gewechselt hatten (als Ukrainer auch in der Hoffnung auf nationale Unabhängigkeit) gerieten jetzt zwischen alle Fronten. Deshalb steht in der Krankengeschichte eines Ukrainers:

„Exploration durch eine Dolmetscher ergab, daß der Patient Angst hat, nach Russland zurückzukehren. Er ist Ukrainer und anscheinend Überläufer. Diese Tat, die aus sprachlichen Gründen bestehende Isolierung und das völlig Ungewisse seiner Zukunft mag die Gründe für den Erregungszustand abgeben, dessen Inhalte von Versündigungsideen sprechen.“

Und ein anderer berichtete:

„Sei als Sohn eines Popen im sibirischen Dorf … im Kreis … geboren. Während seiner Jugendjahre sei die Familie in das Heimatdorf das Vaters nach Westrußland in die Gegend von … zurückgezogen. Einige Jahre später hätten die Sowjets den Vater, der in seinem Dorf als Pope sehr beliebt gewesen sei, weggeholt und man habe nichts mehr von ihm gehört. In der Folgezeit sei die Familie wegen der damals in der dortigen Gegend vorherrschenden Hungersnot in der Ukraine, und zwar in ein Dorf in der Gegend von Charkow, zum Arbeiten gezogen. Wieder später habe man ihn auf ein Technikum zum Studium geschickt. Während des russisch-finnischen Krieges habe er einen Lehrer auf einem Dorf vertreten müssen und so habe er sich die Befähigung zum Diplom und das Diplom zum Volksschullehrer geholt. Kurz vor Ausbruch des deutsch-russischen Krieges sei er mit seinen Angehörigen in die Gegend von  … gezogen. Bei Kriegsbeginn habe man ihn nach Zentralrußland auf eine Fliegerschule geschickt. Er habe aber keine Lust gehabt, für die Sowjetregime zu kämpfen und habe sich vor der Vereidigung drücken können. Schließlich habe er sich –  nur um wieder mit seinen Angehörigen, die in den von den Deutschen besetzten Gebieten waren, zurückzukommen –  als ich gewöhnlicher Soldat ohne Vereidigung an die Front gemeldet und sei auch dahin gekommen. Bereits in den ersten Tagen sei er zu den Deutschen in die Gegend von Kursk übergelaufen und sei in ein Gefangenenlager gekommen. Die 1 1/2  Monate darin sei es ihm nicht gut gegangen. Es sei denn ausgerissen und habe sich nach …  zu seinen Angehörigen begeben. Der dortige deutsche Oberkommandierende habe ihn, da er ohne Papiere gekommen sei,  sehr mißtrauisch empfangen und habe ihn als möglichen Partisanen gesehen. Er habe ihm jedoch Arbeit gegeben und habe gesagt, er müsse ihn, für den Fall. daß es im Dorf zu Sabotagehandlungen oder anderer Partisanentätigkeit kommen sollte, sofort verhaften. Es sei aber nichts gewesen. Im Frühjahr 1942 (oder 1943, weiß es nicht mehr genau) sei er als freiwilliger Arbeiter nach Deutschland gefahren und sei  nach … gekommen. Er habe aber bald bemerkt, daß er wieder einen Fehler gemacht habe und habe beschlossen, wieder nach der Ukraine zurückzukehren. In … habe er in einer Fabrik gearbeitet, später sei er in die Gegend von … gekommen, auch in eine Fabrik. Er habe mit dem Gedanken gespielt, sich bei der deutschen Wehrmacht für eine Freiwilligeneinheit zu melden, nur, um so wieder zu seinen Angehörigen zu gelangen. Zur Ausführung seines Planes sei es aber nicht gekommen.Bei Kriegsende sei er durch die Engländer in ein DP-Lager gekommen und habe sich bald zu Repatriation entschlossen gehabt. Bei einem solchen Transport sei er dann auch bei Lübeck über die britisch-russische Zonengrenze. Er habe aber bald bemerkt, daß die Sowjets  nichts Gutes vorgehabt hätten und sei bei Rostock dann dem scharf bewachten Transport entsprungen und habe sich wieder in die britische Zone zurückbegeben. Später habe er als Russe in amerikanischen Zone ziehen müssen. Da er gemerkt habe, daß er als Russe keine Auswanderungsmöglichkeit nach England, Kanada oder Australien habe, habe er sich einen neuen Namen, nämlich E.K., zugelegt und habe sich als Ukrainer bezeichnet. Sein richtiger Name sei B.E. Bis jetzt sei es ihm jedoch nicht gelungen auszuwandern. – – Er spricht gelegentlich auch von ´Schuld´ gegenüber seinem Heimatland bzw. gegen die sowjetische Regierung, die er aber im Hinblick auf das seinem Vater angetan Unrecht nicht voll anerkenne. meint aber, daß er nichts zu bereuen habe. Was weiter mit ihm geschehe, wisse er nicht.“

Ich habe diesen dieses Beispiel gewählt,  weil ein ihm deutlich wird, unter welchen Ambivalenzen viele dieser Menschen litten. Es kommt keine eindeutige Entscheidung zustande. Weder für die Heimat noch ganz gegen sie, weder für die deutsche Seite noch völlig gegen sie. Dieser Mann war intelligent und konnte seine  Ambivalenz gut schildern. Andere bekamen bei oder vor der geplanten Repatriierung starke Ängste, besonders Verfolgungsängste, die real waren, oder auch wahnhafte Verfolgungsideen. Auch Suizide, ja gar Massensuizide wie bei den Kosaken im Drautal aus Angst vor der Repatriierung in die Sowjetuinion kamen vor. Auch obiger Patient gab zu, er habe sich einen neuen Namen zugelegt, da er „fürchtete, als Kriegsverbrecher ausgeliefert zu werden.“ Ich habe auch den Fall eines Russen geschildert, dessen sich rasch chronifizierende  Psychose begann, als Amerikaner das DP-Lager umstellten, um die Leute herauszufinden, die mit den deutschen zusammengearbeitet hatten, und als die Amerikaner zuvor die Lagerkartei von Sowjetagenten überprüfen ließen.

Das Mental Hospital Wiesloch wurde Ende 1951 aufgelöst, die 171 chronisch psychisch kranken, jetzt als heimatlose Ausländer bezeichneten displaced persons  wurden in der Heil und Pflegeanstalt Wiesloch, das spätere Psychiatrische Landeskrankenhaus Wiesloch [und jetzige Psychiatrische Zentrum Nordbaden] übernommen. Die IRO (International Refugee Organisation) als von der UNO gegründeten Nachfolgeorganisation der UNNRA befand sich im Stadium der Auflösung. Im April 1952 besuchten IRO-Vertreter nochmals die Patienten des ehemaligen Mental Hospital Wiesloch. Dabei stellten sie fest: „It is evident that a number of these people became mentally sick in connection with forcible repatriation to Russia in 1945/1946, as  some of the patients are continously repeating some sentences about  horrors of forcible repatriation.“

Sehr starke Ängste hatte auch ein 1963 in die UdSSR repatriierter Ukrainer. Er war 1949 als Rückkehrer vom Arbeitseinsatz in Belgien in eine Heil- und Pflegeanstalt aufgenommen worden. Hier berichtete er, er sei bei Kriegsbeginn zum Militär eingezogen worden. 1943 habe er sich nicht wohl gefühlt, sei immer traurig verstimmt gewesen, habe sie aber nicht krank gemeldet. 1944 sei er verwundet worden und in deutsche Gefangenschaft geraten. Seitdem wisse er von seinen Eltern nichts mehr. Zuletzt sei in Belgien gewesen. Er habe in einem Bergwerk gearbeitet. Um repatriiert zu werden, sei er nach Deutschland in ein Lager gekommen. Hier sei er aber krank geworden und in den Heil- und Pflegeanstalt verwiesen worden. Im Lager sei ihm gesagt worden, dass Stalin nach Sibirien verschleppt worden sei und dass ihm nichts passieren könne. Anfang 1950 fängt er bei einer Vernehmung durch die IRO plötzlich zu weinen an. Kurze Zeit später wird er ins Mental Hospital Wiesloch verlegt. Bei der Aufnahme ist er geordnet, gut gelaunt.  lässt sich freiwillig aufnehmen. Zur Person macht er geordnete Angaben. Dem Direktor des Mental Hospital, Professor Buduls, gegenüber erklärt er, er sei 1943 als russisches Soldat verwundet und von den Deutschen kriegsgefangen worden, von ihnen ein Hospital gebracht und von dort im gleichen Jahr nach Deutschland geschickt worden. Nach der Genesung sei er von der deutschen Wehrmacht als Küchenarbeit eingesetzt worden („It appears he joined the Wlassow Army“). Einige Tage, nachdem der Patient diese Angaben machte, wurde vom Arzt des Mental Hospital Wiesloch  eine Vorgeschichte nach eigenen Angaben erstellt. Mittels Dolmetscher ließ sich nicht ohne Schwierigkeiten folgendes zu Vorgeschichte erheben: Der Patient sei 1939 bis 1940 Soldat gewesen. Nähere Angaben hierzu seien nicht zu erfahren. Der Dolmetscher äußerte, dass die Angaben hierzu „völlig zerfahren“ seien. 1943 (die Jahreszahl wurde nicht sehr sicher angegeben) sei er nach Deutschland gekommen und bei Kriegsende in ein Lager gebracht worden. 1947 sei er in ein Bergwerk nach Belgien geschickt worden. Er sei dort krank geworden und in ein Krankenhaus eingeliefert worden. Das Leben sei für ihn damals sehr schwer gewesen. Er habe ja kein Vater und keine Heimat mehr. Außerdem würden „die anderen“ immer auf ihn schimpfen. Im psychischen Befund steht:

Während des Beginns Exploration zeigt Patient eine ausgeglichene, indes etwas ratlose Mimik. Er ist sichtlich bemüht, die Fragen nach bestem Wissen und so weit er sie überhaupt versteht, zu beantworten. Bald geriet er in einer weinerlich-depressive Stimmung, hält die Hände wie zum Gebet, neigt den Kopf. Es treten im ihm dabei Tränen in die Augen. Besonders, als er auf seine Eltern (er spricht von ´Papa´ und ´Mama´) zu sprechen kommt, wird er weinerlich. Der Gedankengang ist nur schwer beurteilbar, da nur geisteskranke Dolmetscher zur Verfügung stehen. Dennoch lässt sich aus den Worten des Patienten auch ohne Bestätigung des Dolmetschers entnehmen, daß der Gedankengang deutlich zerfahren ist. In den chronologischen Daten wirkt Patient sehr ungenau. Er ist über seine Situation nur angenähert orientiert, macht sich über Vergangenheit und Zukunft kaum Gedanken und verhält sich, sich selbst überlassen, stumpf, teilnahms- und antriebslos. Auf entsprechende Anregungen ist er zu leichteren Verrichtungen zu bringen. Auch verhält er sich bei der körperlichen Untersuchung einigermaßen situationsgemäß.“

Jahrelang blieb der Patient in Wiesloch. Im April 1962 erhielt er Post von seinen Angehörigen aus der UdSSR. Der Kranke hatte vorher an seine Angehörigen geschrieben. Der Brief des Vaters lautete:

„Wir dachten, daß Du nicht mehr lebst. Da erhielten wir Deine Karte, daß Du lebst und Dich in  Westdeutschland befindest. Ich kann jetzt nicht mehr ruhig schlafen, ich weiß nicht, wie ich Dich in die Heimat zurückführen könnte. Du sollst Dich an das Rote Kreuz wenden und uns schreiben, daß Du einverstanden bist, in die Heimat zurückzukehren. Dann werden die sich um Deine Rückkehr bemühen.“

Auch der Bruder bat den Patienten dringend heimzukehren. Frau Buduls, die Witwe des ehemaligen Direktors des Mental Hospital, leitete daraufhin die Repatriierung ein, Der Kranke selbst äußerte im Jahr 1963 auf die Frage des Oberarztes, ob er selbst nach Hause wolle, er könne sich noch nicht so recht entschließen, da ihr immer noch befürchte, von dort nach Sibirien verschleppt zu werden. Zwei Monate später bat der Vater um eine ärztliche Auskunft, ob der Patient alleine mit der Bahn nach Rußland fahren könne. Frau Buduls half dem Kraken bei der Beantwortung seiner Briefe. Daraufhin entschloß er sich doch zur Heimkehr und wartete mit Sehnsucht auf die Antwort der russischen Botschaft. Ein Jahr später kam die Genehmigung zur Rückkreise in die UdSSR. Kurz bevor der Patient repariert wurde, vermerkt ein Krankenblatteintrag:

„Vor wenigen Wochen kam die Nachricht,  daß Patient Passbild und seine endgültige Zustimmung zu seiner Repatriierung nach Bonn mitteilen soll. Pat. konnte sich nur schwer dazu entschließen, da er selbst noch Folgen seiner Kriegseinsatzes nach seiner Rückkehr befürchtete, andererseits der Vater aber derart drängte und ihm mit seinem Fluch bedrohte, wenn er nicht zurückkäme, daß er sich doch zur Heimkehr entschloß.“

Man kann die Stärke der Angst vor der Repatriierung ermessen, wenn erst die Verfluchung durch den Vater bzw. die Angst davor die Angst vor den Folgen des Kriegseinsatzes gegen die Heimat überwand und der Kranke doch nach Hause zurückkehrte.

Ähnliche wie die oben geschilderten Ängste und Ambivalenzen hatten auch andere Patienten Ich habe oben Beispiele gewählt nicht, um Vollständigkeit in der Beschreibung zu erhalten, sondern um an ausgewählten Beispielen die Problematik klarzumachen.

Man kann nämlich meiner Meinung nach, wenn man die psychischen Reaktionen auf Kriegsereignisse schildern will, die direkte psychische Reaktion auf spezielle Kriegsereignisse nicht einfach isolieren. Menschen sind in einen Lebensweg eingebettet. Ob das Erlebnis eines eines Krieges verkraftet wird oder nicht, hängt auch entscheidend davon ab, ob für den einzelnen schon vorher oder auch nachher Situationen bestanden haben, die zur Verunsicherung führten. So war für die Juden im Deutschen Reich die zunehmende Isolierung ab 1933, die Zerstörung der wirtschaftlichen Existenz, die zunehmenden Diskriminierungen verunsichernde Eingriffe, die auch ohne Krieg psychische Folgen herbeiführten. Es ist auch nicht so, dass das, was dann von den Nazis im Krieg mit diesem Menschen getan wurde, zwangsläufig Folge eines Krieges sein musste. Der Krieg dient aber dazu, Verbrechen großen Ausmaßes zu rechtfertigen und durchzuführen. Ein Mittel dabei war die Verschleppung. Juden wurden in die um das Generalgouvernement angesiedelten KZs verschleppt und dort ermordet. Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter aus der Bevölkerung der besetzten Länder wurden zum Arbeitseinsatz ins Deutsche Reich verschleppt. Psychische Folge war immer eine Entwurzelung, die je nach dem Grad der Verunsicherung verschieden stark war. Von den KZ-Opfern ist das KZ-Syndrom als chronische Erkrankung bekannt. Dieses Syndrom kann verschiedene Züge tragen (paranoide, mehr depressive, die Lebensdynamik verringernde.) Es sind aber auch paranoide Entwicklungen und ein zunehmendes Abgleiten im Psychosen beschrieben worden. Entscheidend dabei ist immer der Einzelfall, die Kasuistik, weil alle Lebensumstände) auch die erbmäßige Veranlagung zur Krankheit) berücksichtigt werden müssen.

Ähnlich wie das Verschleppen in KZs nicht zwangsmäßig mit dem Kriege verbunden war (KZs gab er schon 1934), aber doch durch den Krieg begünstigt wurde, war die Verschleppung zum Arbeitseinsatz nicht zwangsläufig kriegsbedingt, aber der Arbeitskräftemangel konnte von den deutschen Industrie so am ehesten gemildert werden. Auch die Angst vor einer Repatriierung von Sowjetbürgern kam nur deshalb im zustande, weil die Menschen zwischen die Machtblöcke kamen und ihnen klar war, dass sie in ihrer Heimat als Verräter angesehen wurden und entsprechende Konsequenzen zu fürchten hatten, auch wenn sie den Frontwechsel nur vollzogen hatten, um zu überleben. Und da ihnen klar war, dass Stalin ein Massenmörder war.

Man muss davon ausgehen, dass die Entwurzelung bei den meisten Kranken des Mental Hospital Wiesloch sehr groß war. Für die 171 bei Auflösung des Mental Hospital noch dort  zurückgebliebenen Patienten gilt zudem, dass sie zum hard core, zum harten Kern der Nicht-Repatriierbaren gehörten. Man müsste auch die Juden, die als Patienten in Gruppe nach Israel emigrierten, eigentlich dazurechnen. Die Hard-core-Gruppe hatte folgende gemeinsame Merkmale: sie kamen bereits als chronisch Kranke ins Mental Hospital Wiesloch. sie hatten oft schwerste Verläufe ihrer Krankheit (meist Schizophrenie), sie hatten Begleitdiagnosen(Debilität. Tuberkulose), sie waren Rückkehrer aus Emigrationsländern, sie waren aus politischen Gründen nicht repatriabel, sie waren alleine und/oder ohne Beziehung zu Verwandten, sie hatten nach Auflösung der DP-Lager keinen Wohnsitz mehr. Es ist verständlich, dass diese sozialen Kriterien allesamt die Entwurzelung verstärkten oder chronifizierten. Denn alle diese Kriterien bedeuten, dass die Kranken mit ihrer Krankheit allein dastehen. Zudem kommt noch die sprachliche Isolierung bzw. das Unvermögen, sich im fremden Land  in fremder Zunge sprachlich adäquat ausdrücken zu können. Auch die Juden blieben in Israel chronisch krank.

Somit bedeutet eine Entwurzelung als psychisches eli lenti, dass die davon Betroffenen ver-rückt sind, aus der Bahn geworfen, ohne Sicherheit, ständig in Abmivalenz und Angst, sodass als Folge davon die Seele zerstört wird im Sinne von „Angst fressen Seele auf“. Dieses lehren uns die Wieslocher diplaced persons und heimatlosen Ausländer.

Franz PeschkeP
Zur Dynamik echter Verlassenheit in Familiengeschichten

Sehr geehrte Damen und Herren!

 

In der Klinik für dynamische Psychiatrie in München werden vorwiegend Patienten mit archaischen Ich-Störungen, das heißt mit schizophrener Reaktion, mit narzisstischer Depression, mit Borderline-Syndrom und psychosomatischen Störungen einschließlich Anorexia nervosa behandelt. Alle Patienten mit diesen (und wohl auch anderen Störungen) empfinden im Laufe der Behandlung ein starkes Gefühl der Verlassenheit, das überaus intensiv ist und dass bei Kenntnis der Primärgruppe der Familie als reales Alleingelassenwerden aufgefasst werden muss. In diesem Sinne wird bei der Arbeit in der Klinik für die Dynamische Psychiatrie nicht davon ausgegangen, dass es sich nur um ein Verlassenheitsgefühl handelt, sondern um echte emotionale Verlassenheit.

Nun fällt oft auf, dass bestimmte Patienten nicht in der Lage sind, das Beziehungsmuster und das emotionale Klima in ihrer Familie in ausreichendem Maße zu schildern. Aufgabe des Sozialarbeiters ist es deswegen, neben der Sozialanamnese auch eine Familienanamnese durchzuführen und Angehörigengespräche zu vereinbaren. Die dabei zusammengetragenen Angaben werden dazu benutzt, die Dynamik weiter zu erhellen und therapeutisch nutzbar zu machen. Für die Casekonferenz (Fallbesprechung) werden die ärztliche Anamnese, die Ergebnisse der bisherigen Therapie. die psychologischen Tests, die Materialien des Sozialarbeiterteams und die Angaben der Milieutherapeuten, des Maltherapeuten, Reittherapeuten  und so weiter zusammengefügt, um das weitere Prozedere zu besprechen. Ausgehend von einer solchen Casekonferenz,  bei der die von Herrn Kleylein, dem Sozialarbeiter, erhobene Familienanamnese Wesentliches zur Klärung der Primärgruppendynamik beigetragen hat, bei der auch die echte emotionale Verlassenheit des Patienten sehr deutlich wurde, schaute ich mir die vorhandenen Krankengeschichten der stationären Patienten daraufhin durch, welche Angaben zur Primärgruppendynamik sehr erhielten. Zu meinen Erstaunen fand ich, dass die Patienten oft keine Angaben über das Alter der Eltern gegeben hatten oder dass diese nicht erfragt worden waren. Das ist nur ein Beispiel für unklares Arbeiten oder unklare Angaben. Erstaunt war ich aber darüber, bei wie vielen Patienten reale frühkindliche Personenverluste durch Scheidung der Eltern, Suizid oder anderen Tod eines Elternteils, auch durch uneheliche Geburt des Patienten mit anschließendem Verlassenwerden der Mutter das Patienten durch den Kindesvater, aber auch wie viele Heimkindsituationen zu verzeichnen waren. Hier schien eine echte Verlassenheit auf, die anders als die emotionale Verlassenheit eine reale Verlassenheit durch echte Personenverluste war.

Über die emotionalen Reaktionen von Kleinkindern auf Trennung von Mutter und Kind hat besonders John Bowlby berichtet. Er beschreibt Reaktionen von Kindern unter günstigen und ungünstigen Umständen. Besonders wichtig dabei ist, dass es zu einer normalen Trauer nur kommen kann, wenn in der Restfamilie Offenheit herrscht und der verbleibende Elternteil Gefühle der Trauer zu lassen kann. Er meint, dass sich die Reaktionen der Kinder von denen Erwachsene nur unwesentlich unterscheiden. Bowlby zitiert für Erwachsene Perkes, der folgende Abwehrprozessor bei Trauer unterscheidet:

  1. a) Prozesse, die dazu führen, dass ein von einem schmerzlichen Verlust betroffener Mensch sich betäubt und unfähig fühlt, an das zu denken, was geschehen ist,
  1. b) Prozesse, die Aufmerksamkeit und Aktivität von schmerzlichen Gedanken und Erinnerungen fort und auf neutrale oder angenehme Gedanken und Erinnerungen lenken,
  1. c) Prozesse, die den Glauben aufrechterhalten, der Verlust sei nicht von Dauer und Wiedervereinigung noch immer möglich,
  1. d) Prozesse, die zu der Erkenntnis führen, dass der Verlust tatsächlich eingetreten ist, kombiniert mit dem Gefühl, dass die Verbindungen zu dem Toten dennoch weiter bestehen, was sich häufig manifestiert in dem tröstlichen Gefühl der fortdauernden Anwesenheit des verlorenen Menschen.

Zusätzlich zu diesen von Parkes genannten Prozessen führt Bowlby noch zwei weitere auf:

  1. e) Prozesse, die Wut von der Person ablenken, die sich hervorgerufen hat und sie auf jemand anderen richtet, ein Vorgang, der in der psychoanalytischen Literatur gewöhnlich als Verschiebung bezeichnet wird und
  1. f) Prozesse, durch die alle emotionalen Reaktionen auf Verlust kognitiv von der Situation losgelöst werden, die sie hervorgerufen hat. Vorgänge, die in der traditionellen Terminologie als Verdrängung, Spaltung oder Dissoziation bezeichnet werden können.

Wie man sieht, beschreibt Bowlby die Reaktionen auf individueller Ebene, jedenfalls nicht im Sinne einer gruppendynamischen Beschreibung. Auch nicht bei der Beschreibung der gestörten Varianten von Trauer bei Kindern, bei denen er folgende Symptome beschreibt: dauerhafte Angst;  Hoffnungen auf Wiedervereinigung mit dem Wunsch zu sterben; dauerhafte Anschuldigungen als Schuldgefühle; Überreaktivität mit Aggression und destruktiven Ausbrüchen;  zwanghafte Fürsorge und Selbstgenügsamkeit; Euphorie und Depersonalisierung und identifikatorische Symptome wie Unfälle. Aus der Literatur weist Bowlby nach, dass bei Trauerfällen in der Kindheit ein erhöhtes Risiko für psychiatrische Störungen in späteren Lebenslagen besteht. Er schreibt:

„Bei solchen Personen, die in der Kindheit einen Verlust durch Tod erlitten haben und die im Erwachsenenalter zu psychiatrischen Fällen werden, ist die Wahrscheinlichkeit größer als bei anderen, dass sie

– dauerhaft den Gedanken an Suizid äußern;

– einen hohen Grad von Angstbindung (oder Überabhängigkeit) aufweisen;

– schwere und als psychotisch klassifizierbare depressive Zustände entwickeln.“

Da die Patientin in der Menterschwaige Patienten mit archaischen Ich-Störungen sind, ist es notwendig, die Dynamik mit adäquaten Ausdrücken zu beschreiben. Ausgegangen werden darf bei den beschriebenen Patienten davon, dass der Verlust eines Elternteils durch Tod, Scheidung und so weiter in den ersten sechs Lebensjahren als echte Verlassenheit noch vor der emotionalen Verlassenheit und über sie als Vermittlung einen echten dynamischen Faktor darstellt, der bei allen Patienten nicht mit einer gesunden Trauer verarbeitet werden konnte, weshalb alle Patienten später psychisch sehr vulnerabel auf Trennungserlebnisse reagierten.

Zu bedenken ist dabei, dass die beschriebenen Verluste schon an sich unterschiedliche psychische Wirksamkeit haben, je nach der Situation. So kann ein plötzlicher Tod einen akuten Schock auslösen, auf einen langsam erfolgten Tod kann man sich besser vorbereiten, ein asthmakranker Vater kann aber aufgrund seiner Erkrankung schon lange vor seinem Tod real als Ernährer und durch Eigenbezug auf seine Krankheit auch emotional ausfallen. Andererseits kann ein Suizid stark mit Schuldgefühlen erlebt und deshalb besonders stark tabuisiert und mystifiziert werden. Bei Scheidung entgeht oft eine Zeit sehr belastender Auseinandersetzungen voraus mit gegenseitigen Anschuldigungen und dem Versuch, die Kinder auf seine Seite zu bringen.

In jedem Fall aber geht eine Bezugsperson, Vater oder Mutter, verloren. Bowlby geht davon aus, dass die Reaktion auf einen solchen Personenverlust unterschiedlich altersabhängig ist und dass für ein Mädchen der Verlust der Mutter beziehungsweise für die Jungen der Verlust des Vaters an bedeutsamsten ist.

Nun gehe ich davon aus, dass bei den Patienten der Menterschwaige diese Faktoren auch eine Rolle spielen, dass also der Verlust der Mutter bei Geburt durch Tod anders erlebt wird als der des Vaters im fünften Lebensjahr. Meiner Ansicht nach kommen Fälle vor, bei denen schon bei Geburt durch Ablehnung durch die Mutter (zum Beispiel, weil sie selbst von ihrem Freund verlassen wurde) und anschließende Einweisung in ein Kinderheim emotionale Bindungen vom Kind gleich als traumatisch erlebt werden, weshalb es sich schon weigert, eine primär symbiotische Verbindung einzugehen. Bei diesen Kindern (und späteren Patienten) ist deshalb mit einem stark gestörten pathologischen defizitären oder destruktiven Narzissmus zu rechnen. Überhaupt bedeutet offensichtlich die Entwicklung der verlassenen Kinder dynamisch in jedem Falle ein Rückfall  auf die symbiotische Phase mit Ausbildung eines Symbiosekomplexes und bei Verlust des Vaters (real oder emotional) auch eines Ödipuskomplexes, wodurch die Identität stark gestört ist und es zu starken Störungen in vielen oder allen Bereichen der zentralen, der primären und eventuell auf der sekundären Ich-Funktionen kommt. Die von Bowlby beschriebenen Prozesse und Symptome passen durchaus dazu. Bei den Patienten der Klinik Menterschwaige sind diese Prozesse, Symptome und Störungen im Bereich der Ich-Funktion jedenfalls regelmäßig anzutreffen.

Man kann also folgendes konstatieren: Entweder nach einem längeren Prozess der Verunsicherung (Krankheit eines Elternteils, Scheidungsauseinanderersetzungen oder plötzlich durch Tod, eventuell bei Suizid auch nach längerer psychischer Krankheit, kommt es zu einem Personenverlust von Vater oder Mutter. Wie der Personenverlust bearbeitet wird, hängt unter anderem auch vom Verhalten des übrigbleibenden Elternteils ab. Er kann zum Beispiel Trauer zulassen, kann ohne zu idealisieren ein lebendiges Bildnis des verlorenen Elters übermitteln und kann seinerseits ohne Überfürsorglichkeit dem Kind Vertrauen und Verlässlichkeit vermitteln. Dies alles scheint bei den Patienten der Metterschwaige aber nicht vorgekommen zu sein. Aufgrund eigener emotionaler Schwierigkeiten konnten sie keine Trauer zulassen, gaben dem Kind keine realen Informationen über den verlorenen Partner, sprachen auch oft nicht über ihren ehemaligen Mann oder Frau und waren selbst depressiv, hatten selbst starke Ängste und hängten sich überanhänglich und überfürsorglich, schuldgefühlachend und den späteren Patienten als Partnerersatz ansehend,  an ihn  wodurch die starke, bei Patienten zu beobachtende symbiotische Tendenz zustande kommt. Im milderen Fall, der zum Borderlin-Syndrom führt, sind vorwiegend die zentralen Ich-Funktionen gestört, bei der schizophren Reaktion auch die sekundären Ich-Funktionen einbezogen. Ich verweise hier auf das Handbuch der dynamischen Psychiatrie 1.

Vielleicht kann man alle psychischen Krankheiten unter diesem Aspekt bei den Patienten, die früher Elternverluste hatten, als verschiedenen intensive Arten „gefrorener Trauer“ und auch verschiedene Arten „gefrorener Trauer“ überhaupt auffassen.

II.Bei der Betrachtung der eben gegebenen Dynamik nach echtem Verlassenwerden habe ich gesagt, dass der übriggebliebene Elternteil aufgrund eigener emotionaler Schwierigkeiten dem späteren Patienten keine Hilfe geben konnte und ihn damit nach dem realen Personenverlust auch emotional allein gelassen hat. Wie ist das zu verstehen? Woher kommen die emotionale Schwierigkeiten? Nun ist zu beobachten dass ein Teil der Patienten offensichtlich keine Eltern verloren hat, dass sie trotzdem krank sind und dass sie zwar nicht real durch Tod und so weiter, aber doch auch emotional verlassen worden sind. Gibt es einen Zusammenhang?

Die Primärgruppe wird normalerweise aufgefasst als Gruppe des Patienten, seiner Eltern und Geschwister, in bestimmten Fällen erweitert um Großeltern und andere Personen. Nun hat es sich bei der Arbeit in der Klinik Menterschwaige gezeigt,  dass Anamnesen, die nur diese Personen umfassen, besonders auch dann, wenn nur nach einer Dynamik innerhalb dieser Primärgruppe gesucht wird (Sündenbock, Bindungsverhalten, engere Anbindung an Vater oder Mutter und so weiter,  die Dynamik oft nicht recht erfasst wird. Es zeigt sich zwar, dass die Patienten aus Elternhäusern mit Spaltung und Strukturverschiebung in der Ehe kommen, dass in den Familien Mystifizierung, Konfusion und Konflikt vorkommt, dass auch sie in den Familien eine Pseudo-Gemeinschaft vorkommt, dass das Kind oft der Sündenbock ist und dass Double-Bind-Situationen beobachtet werden und all dies genauso im Familien von Schizophrenen wie denen anderer Patienten, wie Patienten mit Bordeline-Syndrom. Wie kommt es dazu?

Ich habe nun die Anamnese nicht einfach auf die genannte Primärgruppe bezogen, sondern habe erstens neben der Dynamik auch exakte Daten wie das genaue Geburtsdatum der Eltern und Großeltern, Heiratsdaten, Sterbedaten, Berufsdaten, Wohnortswechsel und so weiter mit erfasst. Das heißt auch, der Dynamik ein Gerüst gegeben. Zugleich habe ich auch nach der Dynamik der Eltern geforscht mit der Frage, warum sie emotionale Schwierigkeiten hatten und haben. Auch dazu erfragte ich genaue Daten. Es stellte sich nun heraus, dass oft schon die Patienten bei genauer Anamnesetechnik gute Auskunft zu bringen in der Lage waren, dass in bestimmten Fällen die Familienanamnese des Sozialarbeiters weiterhilft,  dass aber oft auch zusätzliches Material wie  Heiratsurkunden und Ahnentafeln erforderlich ist. Dieses Material ist nun schwer zu ordnen. Um das vorhandene Material übersichtlich zu gestalten, erfand ich den Beziehungsstamm und reduzierten Beziehungsstammbaum nach Peschke. Ich ordnete die gefundenen (möglichst exakten) Daten unter Zusatz der dynamischen Angaben in einen Stammbaum des Patienten an, der kein „genetischer“ Stammbaum ist und damit nicht statisch, sondern der die Geschichte der Familie dynamisch erfassen erklären soll, weshalb zum Beispiel auch Stiefeltern, die er nicht genetisch verwandt sind. im Stammbaum erscheinen. Wenn man nun auf diese Weise das Material ordnet, zeigt sich etwas Erstaunliches: In vielen Fällen haben zwar nicht die Patienten selbst reale frühkindliche Personenverluste erlitten, aber die Eltern (oder ein Elter) selbst haben Vater oder Mutter oder andere wichtige Personen verloren. In der Generation der Eltern der Patientin sind vielfach Verluste des Vaters in den ersten Lebensjahren der Eltern durch Vermissen oder Fallen im Krieg zu verzeichnen. Das weist auf äußere gewaltsame überindividuelle Faktoren hin. Zusätzlich waren viele Eltern der Patienten Flüchtlinge, haben also Krieg und Flucht erlebt, konnten sich selbst nicht ohne nostalgische Reaktion von ihrer Heimat trennen. Krieg, Flucht und frühkindlicher Verlust eines Elters können die emotionalen Schwierigkeiten der Eltern der Patienten erklären. Sie selbst sind ihrer Trauer stecken geblieben, haben sich so symbiotisch an ihre Mütter geklammert, die später eingegangene Ehe war so auch symbiotisch angelegt mit mangelnder Ablösung der Person, die den realen Personenverlust erlitten hat als Kind, von der zurückbleibenden Mutter, mit Eifersucht auf den Schwiegersohn, der der zurückbleibenden Mutter die Tochter (auch sie Partnerersatz für den gefallenen Mann) die Tochter entreißt und so weiter. Langsam versteht man, wie es zur Spaltung und Strukturverschiebung und zu ähnlichen Mechanismen der Ehe der Eltern der Patienten kommt. Es ist hier ein überindividueller familiärer Wiederholungszwang im Gange, der nur verständlich wird, wenn man über den Rahmen der kleinen Primärgruppe hinausschaut und auch reale Daten erfragt.

Es ist nun merkwürdig, dass die beschriebenen realen frühkindlichen Personenverluste in bestimmten Fällen noch eine oder mehrere Generationen zurückliegen, dass es auch Beziehungsstammbäume gibt, in denen über mehrere Generationen hinweg frühkindliche Personenverluste aufgetreten sind und die man nur herausarbeiten kann, indem man die Geburtsdaten der aufeinanderfolgenden Generationen mit den Sterbedaten der vorigen Generationen vergleicht, wozu sich die Anordnung in Beziehungsstammbaum gut eignet. Das ist eine Feststellung. Es wird sich in den meisten Fällen die eigentliche Dynamik nicht rekonstruieren, sondern nur konstatieren lassen, dass reale Personenverluste vorliegen. Zu untersuchen wäre mit einer Kontrollgruppe, wie häufig solche Fälle in der Bevölkerung vorkommen.

III.Das leitet über zu der Frage, ob reale frühkindliche Personenverluste ein ätiologisches Moment für die Entwicklung von psychischen Krankheiten darstellen. Nach Bowlby ist ja bei frühkindlichen Personenverlusten die Inzidenz späterer psychischer Krankheiten erhöht. Ich betone ausdrücklich, dass ich zur Untersuchungen der erweiterten Primärgruppe auch Ahnentafeln aus dem Dritten Reich verwende. Um den Kindern die genetische Auffassung, wie sie die Nazi-Ideologie vorsah,  beizubringen,  ließ der Autor des Buches „Familienkunde und Rassenbiologie“ von 1934 die Kinder Lebensläufe, Bilder, Handschriften, Urkunden über Heirat, Tod, Jubiläum und so weiter sammeln und fragte auch, an welchen Ereignissen die Eltern teilgenommen hatten. Er fragte zum Beispiel nach dem Ersten Weltkrieg. All das tue ich auch, aber nicht, um nach einem genetisch verursachten Erbleiden zu suchen, sondern, um zu sehen, wo dynamische Momente vorliegen, die erklären könnten, wie es zu den psychischen Krankheiten kam. Eben dabei entdeckte ich, dass in vielen Fällen zwar nicht bei den Patienten selbst, wohl aber bei deren Vorfahren reale frühkindliche Personenverluste aufgetreten sind. Sollte die Frage auftauchen, wie es kommt, dass ähnliche Ereignisse in der Bevölkerung in derselben Häufigkeit vorkomme (falls das der Fall ist), so möchte ich Freud zitieren,  der in seinem Aufsatz „Zur Ätiologie der Hysterie“, in dem er noch annimmt, dass die Kinder real verführt worden sind , während er später die Verfügung in der die Fantasie verlegt. Es liegt hier allein ein ähnliches Problem vor: Realität der Verführung gegen Fantasie über Verführung (siehe Masson 1964) und hier: Verlassenheitsfantasien versus reale emotionale Verlassenheit versus echte Verlassenheit durch frühkindliche Personenverluste.

Freud also schreibt:
„Nun wenden wir uns zu dem anderen Einwand, welcher gerade auf der zugestandenen Häufigkeit infantiler Sexualerlebnisse und auf der Erfahrung fußt, dass viele Personen sich ein solcher Szenen erinnern, die nicht hysterisch geworden sind. Dagegen sagen wir zunächst, dass die übergroße Häufigkeit eines ideologischen Moments unmöglich zum Vorwurf gegen dessen ätiologische Bedeutung verwendet werden kann. Ist der Tuberkulosebazillus nicht allgegenwärtig und wird von weit mehr Menschen eingeatmet, als sich an Tuberkulose erkrankt zeigen? Und wird seine ätiologische Bedeutung durch die Tatsache geschädigt, dass es offenbar der Mitwirkung anderer Faktoren bedarf, um die Tuberkulosen seine spezifischen Effekt hervorzurufen? Es reicht für seine Würdigung als spezifische Ätiologie aus, dass Tuberkulose nicht möglich ist ohne seine Mitwirkung. Das Gleiche gilt wohl auch für unser Problem. Es stört nicht, wenn viele Menschen infantile Sexualszenen erleben ohne hysterisch zu werden;  wenn nur alle, die hysterisch werden,  solche Szenen erlebt haben. Der Kreis des Vorkommens eines ätiologischen Faktors darf gerne ausgedehnter sein als der seines seines Effekts,  nur nicht enger Es erkranken nicht alle an Blattern, die einem Blatterkranken berühren oder ihm nahe kommen, und doch ist Übertragung von einem Blatterkranken fast die einzige uns bekannte Ätiologie der Erkrankung.“

Dieses Zitat eingedenk, bin ich der Meinung, dass, sollte sich herausstellen, dass frühkindliche Personenverluste in Familiengeschichten psychisch Kranker regelmäßig wiederkehren (auch in den vorliegenden Generationen), dies als ätiologisches Moment betrachtet werden muss. Wobei ich eine dritte Gruppe Kranker, die reale Personenverluste und viel Gewalt oder Vernachlässigung in früher Kindheit erlitten haben (es handelt sich aber nicht um unbedingt um Eltern) aufgrund mangelnder Materialien noch nicht richtig einordnen kann.

IV.Deshalb bin ich weiter dabei, Anamnesen zu erheben und Beziehungsstammbäume herzustellen. Diese und die dadurch entstandenen Kenntnisse gehen direkt in die Arbeit mit dem Patienten ein. Zuerst einmal werden sie angeregt, Klarheit zu gewinnen über ihre Familie (oft ist das reale Wissen über familiäre Dinge stark defizitär). Dann auch können so Mystifizierungren abgebaut werden, die Patienten können sich real mit ihrem toten Vater oder dem Suizid des Großvaters auseinandersetzen, es kann oft auch zum ersten Mal über tabuisierte Themen gesprochen werden. Über die Kenntnis des Hintergrundes werden die Angehörigengespräche lebendiger, oft verstehen die Patienten die Eltern zum ersten Mal auch in ihrer eigenen Verlassenheit. Zudem dient es dazu, Schuldvorwürfe abzubauen. Klar ist natürlich, dass dies nicht bedeuten soll, dass zu früh oder überhaupt eine verstandesmäßige Anpassung erreicht werden soll bei den Patienten. Die emotionale Auseinandersetzung soll eher angeregt als unterbunden werden. Das heißt aber auch, dass es bei den Patienten um die Auflösung des Symbiosekomplexes geht, wozu Symbiosewut erforderlich ist und dass auch nach Durchleben der Symbiosewut auf einer höheren Ebene klar werden kann, dass das zentrale Problem das Problem der Trennung, die arretiert war, und damit das der durch die „gefrorene Trauer“ und die defizitär oder destruktiv  „gefrorenen“ Ich-Funktion mangelnden Identität ist, die in ihrer Verformung erstanden ist entweder direkt in Folge pathologischer Trauer nach Personenverlust oder/und indirekt durch Verformung der Familiendynamik (Pseudogemeinschaft und so weiter),  die so betrachtet wieder hinweisen auf reale Verlassenheit und pathologische Trauer eine oder mehrere Generationen zuvor.

V. Zum Abschluss möchte ich noch zwei Tabellen erklären und drei kurze Falldarstellungen geben.

Franz Peschke
Psychiatrie und „Euthanasie“ in Baden zur Zeit des Dritten Reiches am Beispiel der Pflegeanstalt Rastatt

Vortrag zur Einführung des Buches „Schrecks Anstalt“ am 15.03.1992 im Stadtmuseum Rastatt

Erste Bücher über die Psychiatrie und „Euthanasie“ im Dritten Reich sind nach dem Zweiten Weltkrieg in den vierziger Jahren erschienen. Eines davon war Alexander Mitscherlichs und Fred  Mielkes Bericht über die Ärzteprozesse beim Nürnberger Prozess. Eine zusammenfassende Dokumentation über die Nürnberger Ärzteprozesse und die Verbrechen von Ärzten im Dritten Reich wurde im März 1947 unter dem Titel Das Diktat der Menschenverachtung. Eine Dokumentation von Alexander Mitscherlich und Fred Mielke. (Der Nürnberger Ärzteprozeß und seine Quellen) an die deutschen Ärzte verschickt, ohne dass von dort eine Reaktion kam.

Erst seit Ernst Klee seine Bücher über die Ethanasieaktion herausbrachte, wuchs das Interesse an diesem Thema und es kam zu so etwas wie zu einer Unterbrechung der Verleugnung. Seitdem nimmt die Zahl der Publikationen zu diesem Thema zu. Es sind Bücher oder Artikel zu unterschiedlichen Aspekten dieses Themenkomplexes erschienen, unter anderem Bücher über psychiatrische Anstalten wie Eglfing-Haar oder Stecknitz bei Lübeck.

Über die Psychiatrie im badischen Raum gibt es bisher nur wenige Erkenntnisse. In diesem Monat ist die erste zusammenfassende Arbeit über die badische Psychiatrie im Nationalsozialismus in diesem Jahrhundert von Heinz Faulstich erschienen. Er hat darin auch mein Manuskript „Schecks Anstalt“, das heute hier als Buch eingeführt wird, mitverarbeitet.

In Baden gab es bis zum Zweiten Weltkrieg verschiedene psychiatrische Kliniken und Anstalten:  die Universitätskliniken Heidelberg und Freiburg, die Heil- und Pflegeanstalten Wiesloch, Emmendingen, Reichenau bei Konstanz, Illenau und im Zweiten Weltkrieg dem Badischen Raum angeschlossen die Anstalten Stefansfeld und Hördt. Seit 1934 hatte Baden die Pflegeanstalt Rastatt.

Mein Thema ist nun diese Pflegeanstalt Rastatt. Wie kam ich nun zu diesem Thema?

Während in meiner Arbeit als Assistenzarzt am PLK Wiesloch schrieb ich eine Doktorarbeit über sogenannte Displaced Persons und heimatlosen Ausländer, die von 1939 bis 1982 als Patienten in Wiesloch waren. Hier hatte noch nach dem Zweiten Weltkrieg Amerikaner das UNNRA bzw. IRO Mental Hospital Wiesloch errichtet, um die psychisch  kranken Angehörigen der Vereinten Nationen des Zweiten Weltkrieges aus der amerikanischen Besatzungszone Deutschlands  zusammenzufassen,  um sie repatriieren oder oder emigrieren lassen zu können.

Schon bei dieser Arbeit kam ich mit der Frage der „Euthanasie“ in Berührung, da von Wiesloch aus Ostarbeiter unter anderem nach Hadamar verschubt wurden.

Als ich die Doktorarbeit fast fertig hatte, musste ich meine Unterlagen an die Kripo Heidelberg abgeben, da damals gerade eine gerichtliche Untersuchung gegen Professor Hans-Joachim Rauch, einen Heidelberger Universitätspsychiater, der im Zweiten Weltkrieg an der Heidelberg-Wieslocher   Forschung Carl Schneiders mitgearbeitet hatte,  lief und die Kripo bei mir belastendes Material vermutete. Angeregt dadurch, entschloss ich mich, über die Forschungsabteilung Recherchen einzuholen. Etwas zur gleichen Zeit fand ich Originalakten der Pflegeanstalt Rastatt in einem Stapel von Dokumenten auf dem Dachboden des Zentralgebäudes, das abgerissen werden sollte, um einem Neubau zu weichen. Es waren Unterlagen, die in den Reißwolf sollten. Ich entschloss mich, diese Akten nach dem Ende der Arbeit an meiner Doktorarbeit zu bearbeiten, wohl wissend, dass über die Pflegeanstalt Rastatt bis auf einige unbedeutende Bemerkungen in Büchern der 40er Jahre und bei Ernst Klee nichts bekannt war. Mein Chef, der Direktor des PLK Wiesloch, Herr Dr. Hans Gebhardt, gab mir die Erlaubnis dazu.

Die badische Psychiatrie der zwanziger Jahre war schon fortgeschritten. Hier wurde schon eine aktive Psychiatrie versucht und es gab unter anderem den Versuch von Frühentlassungen und ambulanten Wohngemeinschaften wie in Mingolsheim bei Kronau.

Der Beginn des Dritten Reiches markiert eine Wende. Die Versuche mit aktiver Therapie wurden abgebrochen, die Mingalsheimer Wohngemeinschaft wurde aufgelöst, und Kislau wurde ein Konzentrationslager. Von jetzt an bestimmte die Ideologie der Nazis das weitere Vorgehen. Psychisch Kranke galten als unnütze „Fresser“, die wegen ihrer „Degeneration“ zu isolieren und absondern waren. Am 14. Juli 1933 beschlossen die Nazis das „Gesetz gegen gefährliche Gewohnheitsbrecher und über Maßregeln der Sicherung“ und das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“, womit ein enger Zusammenhang zwischen KZs und Zwangssterilisation  psychisch Kranker hergestellt war.

In Baden waren zu diesem Zeitpunkt die Heil- und Pflegeanstalten überfüllt. Mit der Begründung, die badischen Anstalten Emmendingen, Wiesloch, die Illenau und die Anstalt bei Konstanz zu entlasten, wurde deshalb in Rastatt eine neu Anstalt, die Pflegeanstalt Rastatt, gegründet. Sie sollte auch die vorgesehenen Sterilisierungen ermöglichen.

Bis dahin hatte es den Gegensatz von Universitätspsychiatrien und Heil- und Pflegeanstalten (und Kreispflegeanstalten) gegeben. Mit der Gründung der Pflegeanstalt Rastatt war etwas Ungewöhnliches geschehen. Jetzt traten Heilen und Pflegen auseinander, und in Opposition zueinander. Was bedeutet dieser Unterschied?  Auch heute ist der Begriffen Pflegefall unklar. Er kann entweder in dem Sinne verstanden werden, dass jemand  medizinische Pflege braucht, oder  aber als ein kostenrechtlicher Begriff.

Bei der bei der Gründung der Pflegeanstalt Rastatt wurde folgende Definition gegeben:

„Da in Rastatt anstaltsbedürftige Personen untergebracht werden, bei welchem es sich um abgelaufene Fälle handelt, ist hier eine Heilbehandlung nicht mehr nötig. Die Anstalt Rastatt ist deshalb keine Heil- und Pflegeanstalt, sondern lediglich eine Pflegeanstalt.“

Das heißt, die Patienten für Rastatt waren „abgelaufene Fälle“, für die man nichts mehr im Sinne einer Heilbehandlung tun konnte oder wollte. Zugleich waren sie aber auch kostenrechtliche Pflegefälle. Sie sollte keine aktive Therapie mehr gelten, denn aktive Therapie kostet Geld. Es gab einen sogenannten Halbierungserlass, der bedeutete, dass die Behandlung in Heil- und Pflegeanstalten nur halb so viele kostete wie in Universitätspsychiatrien. Zusätzlich dazu wurde in Rastatt der Pflegekostensatz von 3,0 RM im Jahre 1934 auf 1,60 RM im Jahre 1938 gesenkt. Damit gab es eine Dreiklassenpsychiatrie in Baden. Universitätskliniken –  Heil- und Pflegeanstalten – die  Pflegeanstalt Rastatt.

Entsprechend dieser Kostenminimierung wurde die neue Anstalt in einer alten Rastatter Festung, die ein Ruine war, gegründet. Sie arbeitete mit einem Minimum an Personal und Pflegekräften, die sich im Dienst aufrieben und oft Magengeschwüre hatten. Die psychisch Kranken wurden, wo immer es ging, zur Arbeitstherapie eingesetzt, die aber nicht im Sinne der aktiven Therapie der zwanziger Jahre verstanden wurde,  sondern als zusätzliche Möglichkeit, die Kosten zu reduzieren.

Das Land Baden hatte also schon früh das Programm der Nazis erkannt und umgesetzt. Sie bestellten deshalb als Leiter der Anstalt Dr. Josef Arthur Schreck, der zuvor Oberarzt in der Anstalt  Illenau war und der voll vom Programm der Nazis überzeugt war. Er hatte als hervorstechendstes  Persönlichkeitsmerkmal, dass er ein rationaler Planer war, der immer im Sinne von Kostenminimierung und im Sinne des Staatsfiskus dachte und tätig war.Dafür gibt es viele Beispiele.

Rastatt war also nur eine Aufbewahranstalt.  Sie diente vorwiegend der Entlastung der anderen badischen Anstalten. Eigentlich hätte sie gut ein Beispiel für das ganze Deutsche Reich gewesen sein können, wie Kostenminimierung gelingt. Außerdem war sie ein gutes Beispiel dafür, wie sich die Nazis in Friedenszeiten psychisch Kranken gegenüber verhielten. Trotzdem wurde die Pflegeanstalt Rastatt von der Naziführung des Dritten Reiches nicht recht anerkannt. Bei Pflegesatznachverhandlungen gab es Probleme, und eine seiner Funktion entsprechende finanzielle Höhereinstufung des Leiters der Pflegeanstalt, Dr. Schreck, wurde lange torpediert.

Wahrscheinlich war die Kostenminimierung in Rastatt zwar für die Naziführung radikal,  aber nicht radikal genug. Die radikale Kostenminimierung begann mit Beginn des Zweiten Weltkrieges. In Berlin begann die euphemistisch und verschleiernd „Aktion T 4“ genannte Ermordung der psychisch Kranken. Schon vorher; das heißt vor Beginn des Krieges; war geplant; die Pflegeanstalt als der Rastatt zu verlegen. Schon am 5.9.1939 wurde die Pflegeanstalt Rastatt mit 579 Kranken nach der württembergischen Anstalt Zwiefalten verlegt. Von hier aus wurde sie bis Juni 1940 in mehreren Transporten „mit unbestimmten Ziel“ nach Grafeneck, das in der Nähe von Zwiefalten liegt, verschubt und dort ermordet.

Was war geschehen? Verlegungen „mit unbestimmten Ziel“ erfolgten direkt oder indirekt in eine als „Reichsanstalt“ bezeichnete Einrichtung, in diesem Falle nach Grafeneck. Jetzt war die alte Opposition Heilen und Pflegen“ nicht mehr ausreichend. Jetzt ging es um Heilen oder Vernichten. Im Sprachgebrauch der Nazis um Ausmerzen, das heißt um Kostenminimierung durch Mord. Die Opposition Heilanstalt und Pflegeanstalt (Rastatt) verwandelte sich in Heilanstalt, wie jetzt die Heil- und Pflegeanstalten genannt wurden (sie fungierten als Zwischenanstalten für „Euthanasie“- Transporte und Reichsanstalt, das heißt, „Euthanasie“-Anstalt. Heilanstalten wie Wiesloch hatten zudem innerhalb ihrer Anstalt „Kinderfachabteilungen“, die zur Ermordung von „minderbegabten“ oder anderen „unnützen“ Kindern dienten. In Wiesloch wurde die Kinderfachabteilung später von Dr. Schreck geleitet, der hier stellvertretender Direktor wurde.

Nach dem offiziellen Ende der „Euthanasie“-Aktion wurde die „Euthanasie“ nicht mehr durch Vergasung der psychisch Kranken wie in Grafeneck znd Hadamar, sondern durch Luminalspritzen und Verhungernlassen fortgeführt. Die Verbrennungsöfen aber, die zur Ermordung der py chisch Kranken gedient hatten, wurden ins Generalgouvernement gebracht und dort in den Konzentrationslagern  zur Verbrennung der ermordeten Juden, Zigeuner und anderen Opfern  eingesetzt. Dabei wurden die Gegenstände und Goldzähne der Ermordeten dem Fiskus des Dritten Reiches einverleibt. Es ging also auch hier um finanzielle Interessen.

Im Raum Nord- und Mittelbaden ging aber das Programm, das die Nazis mit dem psychisch Kranken vor vorhatten, weiter. Im Frühjahr 1942 gründete der Heidelberger Psychiatrieprofessor Carl Schneider eine Forschungsabteilung, die in Wiesloch eine Außenabteilung hatte und die unter dem Programm „Forschen und Töten“ stand: Über die Wieslocher Seite der Forschungsabteilung will ich demnächst berichten, eine Heidelberger Gruppe arbeitet die Heidelberger Seite auf.

Dr. Schreck ging nach Auflösung der Pflegeanstalt Rastatt zuerst zurück an die Ilmenau und half bei den Transporten zur Auflösung dieser altehrwürdigen Anstalt. Danach ging er nach Wiesloch und tötete auf der von ihm vom November 1940 bis Juli oder Dezember 1941 geleiteten „Kinderfachabteilung“ von den hier ermordeten 15 Kinder eigenhändig zwei oder drei. Für die anderen getöteten Kinder kam ein Arzt aus München. Weitere Kinder wurden durch Verlegung nach Kaufbeuren und Egkfing-Haar dort getötet. Dr. Schreck wurde nach dem Krieg wegen der Tötung der Wieslocher Kinder, aber nicht wegen der Auflösung der Pflegeanstalt Rastatt und der Verlegung der Patienten in den Tod verurteilt.

Was ist in diesen dargestellten Zusammenhang die Bedeutung meines Buches „Schrecks Anstalt“

Es handelt sich nicht um eine Aufarbeitung von politisch-ideologischen Hintergründen der Psychiatriegeschichte des Dritten Reiches im Sinne einer Übersichtsarbeit. „Schrecks Anstalt“ ist vielmehr eine lokal-regionale Untersuchung, eine Dokumentation der Pflegeanstalt Rastatt und gehört in diesem Sinne zur Anstaltsgeschichte, zur Psychiatriegeschichte Badens, zur Stadtgeschichte Rastatts. Es handelt sich um eine Untersuchung eines engen Zeitraumes, von 1934 bis 1940, im zeitlichen Zusammenhang von fast 60 Jahren. Sie soll Baustein sein für größere Arbeiten, wie zum Beispiel die von Heinz Faulstich.

Es handelt sich um eine Dokumentation, die nahe an dem vorhandenen Quellen bleibt. Es ist also keine Arbeit im polemischer Absicht, weder eine Abrechnung mit den Nazis noch speziell mit Dr. Schreck. Trotzdem habe ich als Haupttitel „Schrecks Anstalt“ gewählt denn Schreck wurde als „Schreck der Heilanstalten“ bekannt, der Titel hat auch eine Konnotation an „schreckliche Anstalt“,  wegen der radikalen Kostenminimierung und der Auflösung der Anstalt im Rahmen der „Euthanasie“. DerUnteritel sagt dann, um welche Anstalt es sich handelt. Der Aufbau des Buches ist chronologisch.

Das Buch „Schrecks Anstalt“ behandelt beispielhaft Tendenzen der Nazis im Umgang mit psychisch Kranken von 1934 bis zur Höhe der !Euthanasie“–Aktion im Zweiten Weltkrieg. Es ist, wie gesagt, nahe an die Quellen und die Quellen sprechen für sich. Es sind vorwiegend Verwaltungsakten. Die Sprache der Akten ist eine Verwaltungssprache, eine Sprache der verwalteten Welt. Sehr viel Schriftwechsel stammt von Schreck, der die Verwaltungssprache perfekt beherrscht. Diese Sprache ist eine Anordnungs- und Vollzugssprache. Sie ist erschreckend unpersönlich und geht über Menschen hinweg.  Das Individuelle fehlt, Menschen werden nicht greifbar, selbst Schreck als Täter es nicht zu fassen. Leider fehlen die Krankenakten. Auch ich konnte deshalb die Patienten nur statistisch-tabellarisch erfassen. Beschäftigt man sich mit einer derartigen Sprache, gerät man selbst in Gefahr, darin stecken zu bleiben und die Inhumanität zu vermehren. Ich weiß nicht ,ob die fehlenden Krankengeschichten dabei etwas geändert hätten.  Sollten sie auftauchen, würde ich gerne über sie eine Untersuchung machen wie auch eine Biographie Schrecks schreiben.

Untersuchungen dieser Art sind heute besonders wichtig,

da Rechtsradikale Asylantenheime abbrennen und KZ- Gedenkstätten zerstören,

da Republikaner bei der Kommunalwahl in Hessen 8,3 %  der Stimmen bekommen,

da in Holland die „Euthanasie“ legalisiert wird,

da in Michigan, USA einen Arzt,  Dr. Kevorkian, genannt Dr. Tod, Selbstmordmaschinen baut und sich andere Menschen damit töten lässt,

da Dr. Severink als Kandidat für den Kosten des Präsidenten des Weltärztebundes wegen des Verdachts, im Dritten Reich für ein Kind der „Euthanasie“ zugeführt zu haben, zurücktreten muss,

da Hans Henning Atrott von der Deutschen Gesellschaft für Humanes Sterben wegen des 87maligen Verkaufs von Gift für den Zweck der „Euthanasie“, wobei der jedes Mal 3000 DM bekam, zurücktreten muss,

da es im Gesundheitswesen wieder um Kostendämpfung geht.

Die Probleme der Dreißiger Jahre sind, wenn auch verändert, wieder da. Seien wir deshalb wachsam und gehen wir anders als zur Zeit des Dritten Reiches mit diesen Problemen um.

Ich danke allen, die mir bei der Realisierung der Dokumentation „Schrecks Anstalt“ geholfen haben, meinem ehemaligen Chef, Herrn Dr. Hans Gebhardt, jetzt Nußloch für die Überlassung der Quellen, Herrn Paprotka vom Wehrgeschichtlichen Museum Rastatt für die Ermöglichung des Kontaktes zur Stadt Rastatt, Herrn Dr. Amann, Frau Baumgärtner und Herrn Reiß für die gute und enge Zusammenarbeit, Herrn Matthias Hoffmann für die Bilder und Herrn Wafzig und dem Oberbürgermeister der Stadt Rastatt, Herrn Klaus Eckert-Walker für die Möglichkeit, „Schrecks Anstalt“ bei der Stadt Rastatt herauszugeben und heute hier vorstellen zu können.

Möge das Buch einen großen Leserkreis finden.

Franz Peschke
Pflegen und Vernichten - Die antihumane nationalsozialistische Haltung gegen psychisch Kranke am Beispiel der Pflegeanstalt Rastatt in Baden

Vortrag am 13.03.1992 im Vortragssaal der Erinnerungsstätte für die Freiheitsbewegung in der deutschen Geschichte im Schloss Rastatt bei dem Freundeskreis zur Gründung einer Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit

Sehr geehrte Damen und Herren!

Zum ersten möchte ich mich bei den Veranstaltern dieser Vortragsreihe zur Woche der Brüderlichkeit, Herrn Oberbürgermeister Klaus-Eckhard Walter und dem Leiter des städtischen Kulturamtes Herrn Doktor Amann bedanken. Ebenfalls Frau Baumgärtner.

Es ist heutzutage ja immer noch nicht selbstverständlich, dass eine Stadt sich so der Vergangenheit stellt. Umso mehr habe ich mich über die Einladung zu diesem Vortrag gefreut. Er soll am Beispiel der Pflegeanstalt Rastatt die Haltung beziehungsweise Politik der Nazis gegen psychisch Kranke aufzeigen.

Wie komme ich auf diese Problematik? Ich habe von 1977bis 1985 als Arzt im Psychiatrischen Landeskrankenhaus in Wiesloch gearbeitet. Schon anlässlich meiner Dissertation beschäftigte ich mich mit der Psychiatrie im Dritten Reich. Nebenbei entdeckte ich die Akten der Pflegeanstalt Rastatt, die von 1934 bis 1940 bestand und entschloss mich, diese zu bearbeiten. In den letzten Jahren meine Arbeit in Wiesloch war ich auf zwei Langzeitstationen eingesetzt. Die Patientinnen waren vorwiegend chronisch psychisch kranke Frauen. Auf den beiden von mir betreuten Stationen wurden aber auch Patientinnen verlegt, die nach Anbehandlung auf Akutstationen noch einer Zeit das Stabilisierung bis zur Entlassung brauchten.

In den letzten Jahren trat eine starke Beunruhigung unter den Patientinnen ein denn, sie es waren in der Bundesrepublik und auch im Baden-Württemberg Forderungen aufgestellt worden nach einer strikten räumlichen Trennung von sogenannten Behandlungsfällen und Pflegefällen, wobei unter anderem vorgeschlagen wurde, die chronisch Kranken entweder geschlossen als nicht mehr behandlungsbedürftig in Altersheime zu verlegen oder mit (bei schon  reduziertem Personal) noch weiter reduziertem Personal die Stationen als Häuser mit nur chronisch Kranken, also ohne sogenannte Behandlungsfälle, zu belassen, die ärztliche Betreuung aber durch niedergelassene Ärzte erfolgen zu lassen.

Hintergrund dieser Vorschläge waren die Kostendämpfungsmaßnahmen. Solange ich in Wiesloch war, wehrte ich mich gegen diese Aufteilung. Ich vertrat und vertrete die Ansicht, dass die Langzeitkranken auf ihre Stationen ein Heimatrecht hatten und auch nach Jahren bei chronisch Kranken Besserungen zu erreichen sind. Für mich ist es inhuman,  Kranken aus Kostengründen eine Behandlung zu verweigern.

Im anderen Zusammenhang spricht man von Triage. Auch heute ist die Diskussion um diese Probleme noch in vollem Gange. Ich erinnere an die Forderung nach Kostendämpfung durch Ermöglichung von Grundpflege, die unter anderem Angehörige zu Hause leisten, während Behandlungspflege im Rahmen eines medizinischen Heilplans zu erfolgen habe.

Eine andere Entwicklung ergab sich mit dem neu in Kraft getretenen Betreuungsgesetz, durch das unter anderem die Unterbringung von psychisch Kranken geregelt wird. Ein wesentlicher Teil dieses neuen Gesetzes beschäftigt sich mit der Frage der Sterilisation von nicht einwilligungsfähigen Betreuten. Gerade nach den Erfahrungen mit dem Dritten Reich war hier die vorhergehende Diskussion sehr sorgfältig erfolgt, um ein Gesetz zu schaffen, das demokratischen Regelungen entspricht. Grundsätzlich verboten sind nach diesem Gesetz Sterilisationen Minderjähriger, „Zwangssterilisationen“, Sterilisiationen im „Interesse der Allgemeinheit“, im Interesse der Verwandten und des „ungeborenen Kindes“ sowie Sterilisationen  vorübergehend Einwilligungsunfähiger. Auch die rechtlichen Voraussetzungen für eine Sterilisationen wurden geregelt. Unter anderem kann eine Sterilisation  nur dann erfolgen, wenn sie dem Willen der Betreuten nicht widerspricht.

Gerade das Beispiel der Pflegeanstalt Rastatt ermöglicht, historisch aufzuzeigen, wie mit solchen Regelungen in eine Diktatur verfahren wird, wobei wir uns kritisch fragen müssen, ob wir unter demokratischen Verhältnissen sorgfältig mit ihnen umgehen.

Die gesetzliche gesetzliche Regelung der Nazis in Bezug auf die Zwangssterilisation bezog sich auf ein Zitat aus Hitlers „Mein Kampf“. Darin schreibt Hitler im Zusammenhang mit angeblicher Prostitution und Syphilis als vermeintlicher Ursache für den Zusammenbruch des Deutschen Reiches im Ersten Weltkrieg: „Es ist ein Halbheit, unheilbar kranken Menschen die dauernde Möglichkeit einer Verseuchung der übrigen Gesunden zu gewähren. Es entspricht dies einer Humanität, die um dem anderen nicht weh zu tun, hundert andere zugrunde gehen läßt. Die Forderung, daß defekten Menschen die Zeugung anderer, ebenso defekter Menschen, unmöglich gemacht wird, ist eine Forderung klarer Vernunft und bedeutet ihrer  planmäßigen Durchführung die humanste Tat der Welt . Sie wird Millionen vor Unglücklichen unverdiente Leiden ersparen, in der Folge aber zu einer steigenden Gesundung überhaupt führen“; an anderer Stelle ergänzt er: „Wer  körperlich und geistig nicht gesund und würdig ist, darf sein Leid nicht im Körper seines Kindes verewigen“.

Diese Sätze wurden in den Jahren nach der 1925/1927 geschrieben, zur gleichen Zeit, als in der Weimarer Republik eine Diskussion um die freiwillige Sterilisation psychisch Kranker im Gange war.

Am 30. Januar 1933 ergriffen die Nazis die Macht. Schon wenige Monate später, am gleichen Tag, an dem das Gesetz gegen den Neubildung von Parteien und das später in Kraft getretene „Gesetz gegen gefährliche Gewohnheitsverbrecher und über Maßregelungen Maßregeln der Sicherung“ beschlossen wurde  – am 14. Juli 1933 – wurde auch das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“,  dass die Zwangsterilisation vorsah, erlassen.

Mit diesem Gesetzeskomplexe drückt sich die charakteristische Kombination von Diktatur (die NSDAP war nun die einziger Partei), Gefängnis,  Konzentrationslager, Rassenwahn  und Beziehung zur Psychiatrie aus, die in immer größerer Verschärfung die Politik der Nazis gegen psychisch Kranke, Sozialdemokraten, Kommunisten, Homosexuelle, Juden, Zigeuner und andere Verfemte bestimmen sollte.

Kurze Zeit, nachdem am 24. November 1933 das“ Gesetz gegen gefährliche Gewohnheitsverbrecher und über den Maßregelungen der Sicherung und Besserung“ in Kraft trat, fasste Anfang 1934 das badische Innenministerium den Beschluss: „Um die neuen und wichtigen Aufgabe,, die im Vollzug des Reichsgesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses  sowie des Reichsgesetzes gegen gefährliche Gewohnheitsverbrecher und über Maßnahmender Sicherung und Besserung … den badischen Irrenanstalten zugefallen sind,  in Angriff nehmen zu können mit dem Ziel, sie einer einigermaßen befriedigende Lösung entgegenführt zu können“  und zur Entlassung der bis 30 Prozent überfüllten vier badischen Heil- und Pflegeanstalten – Illenau, Wiesloch,  Reichenau und Emmendingen – in Rastatt eine „besondere Verwahranstalt für dauernd anstaltsbedürftige Geisteskranke“ zu errichten.

Die Anstalt sollte zuerst mit 500, später mit 800 „Insassen“ bzw. „geistig Minderwertigen“ belegt werden. Als Anstaltsgebäude wurde das ehemalige Garnisonslazarett am Leopoldsplatz Nr. 3 in Rastatt ausgesucht. Dieses Lazarett war der Verfall anheimgegeben geworden und musste 1934 als Ruine betrachtet werden und wurde auch so betrachtet. Nach Genehmigung der Umbaukosten, wobei die Kosten auf das Allernotwendigste eingeschränkt werden sollten, wurde mit dem Umbau des Lazaretts zur Pflegeanstalt begonnen. Dabei sollte die Unterbringung der Belegung im einfachster Art unter  tunlichste Belassung der alten Zustandes erfolgen. Man dachte an die Belegung mit 500 „ruhigen, geisteskranken Pfleglingen“.

Am 17.04.1934  nahmen der Anstaltsleiter, Dr. Arthur Schreck, der Verwalter Schmitt, die Oberin Schönenberger und der Pflegeinspektor Strübel ihren Dienst auf. Von nun ein organisierte Dr. Schreck den weiteren Ausbau der neuen Anstalt. Die nötigen Pfleger und Pflegerinnen wurden von den vier badischen Anstalten abgezogen. Auch die Patienten kamen in mehreren Schüben aus der Illenau, aus Wiesloch und Emmendingen. Über sie schrieb das Innenministerium in Karlsruhe:

„Die Pflegeanstalt ist dazu bestimmt, die Heil- und Pflegeanstalten zu entlasten und ihnen ihre Eigenschaft als Heilanstalten zusichern. In die Pflegeanstalt Rastatt sollen alle diejenigen Kranken überführt werden, die nach Art ihres Leidens keiner psychiatrischen Behandlung mehr zugänglich sind. Erregte, tobende und der dauernden Überwachung bedürftige Kranke können jedoch wegen der baulichen Einrichtungen nicht in die Pflegeanstalt Rastatt übernommen werden. Dagegen ist es möglich, neben ruhigen Kranken auch halbruhige und nicht ganz geordnete Kranke aufzunehmen,  sofern diese keine Wachsaalbehandlung bedürfen. Auch körperlich sieche Kranke – ausgenommen solche, die an übertragbaren Krankheiten leiden – kommen für Rastatt in Frage. Arbeitsfähige Männer sollen nicht in die Pflegeanstalt überführt werden, es sei denn solche, die sich für leichtere häusliche Arbeiten eignen. Dagegen ist es zur Entlastung des Personals erwünscht, wenn eine Anzahl arbeitsfähiger Frauen übernommen werden kann“.

In dem ersten Satz dieses Zitates: „Die Pflegeanstalt ist dazu gestimmt, da Heil- und Pflegeanstalten zu entlasten und ihnen ihre Eigenschaften als Heilanstalten zu sichern“, ist ein ganzes Programm enthalten. Denn die seit 1929 mit dem Psychiater Hermann Simon (1867-1947) – er arbeitete damals in der Provinzialheil- und Pflegeanstalt Gütersloh – verknüpfte „aktivere Krankenbehandlung in der Irrenanstalt“, bei der die Arbeitstherapie ein wichtiges Mittel war, sollte auch bei den Nazis in den Heilanstalten versucht werden. Sie verband sich sowohl mit der „Neuen Deutschen Heilkunde“ als auch in den nächsten Jahren mit den neu erfundenen Schockbehandlungen (Kardiazolschock 1934, Insulinschock 1935 und Elektroschock 1938). Wer arbeitsfähig war, bei dem sollte eine aktive Heil- und Anstaltsbehandlung versucht werden;  die neuen Rastatter Patienten waren unter diesem Gesichtspunkt therapeutisch aufgegeben, sie galten als „abgelaufene Fälle“.

Am 15.06. 1934 wurde die Anstalt Rastatt, in der sich zu diesem Zeitpunkt 235 Kranker befanden, mit einer Feier offiziell eröffnet.

Die nächsten Jahre – 1935 bis 1939 – dienten dem Aufbau der Anstalt. Baulich war sie nur grob eingerichtet. Schon im Spätherbst 1934 regnete es durch die Löcher des Daches auf den Speicher. In den Gängen, in verschiedenen Krankenzimmern und in einem Pflegerinnenzimmer fanden sich feuchte Flecken. Zahlreiche Dachrinnen waren defekt. Fensterrahmen schlossen nicht. da das Holz morsch war. Die Wände und die Decke des Wäschereigebäudes waren, ebenso wie elektrische Leitung, feucht, sporig und zeigte Schimmelbildung. Die Küchenanlage war überfordert und es entstand dadurch ein gefährlicher Kesselbrand. Schreinerei und Anstreicherei befand sich in schlecht beleuchteten und feuchten Kellerräumen. Die Waschküche war im Leichenhaus untergebracht;  ein teilweise unter Wasser stehender Kellerraum diente als Leichenhalle. Die Fassade des Gebäudes bröckelte. Im Trocknen verunreinigter Matratzen fehlte eine Trockenanlage. Das Fundament war undicht und es drang Grundwasser ein. Die unruhigen Frauen mussten auf dem Weg zum Abort an der Küche vorbei.

Wegen dieser und andere Mängel mussten ständig Reparaturen und bauliche Änderungen durchgeführt werden. Die Anstalt blieb trotz aller dieser Maßnahmen ein Provisorium, obwohl Direktor Schreck Verbesserungen erreichte und es ihm auch gelang, zusätzliche Räume, zum Beispiel ein leer stehendes Wagenhaus, für die Anstalt zu erwerben und Schweineställe zu errichten. Zu allen Umbauten wurden als Hilfskräfte Patienten beigezogen. Bei allen Reparaturen gab es lange Verzögerungen, da, wie Dr. Schreck schrieb, „die Primitivität einer Anstalt für Geisteskranke aus heutiger damaliger (damaliger) Sicht zweifellos durchaus gerechtfertigt ist“  und es dem badischen Staat und dem Staatsfiskus vor allem darauf ankam, zu sparen.

Sparen war auch das Prinzip beim Personal der Anstalt. Dr. Schreck äußerte sich dazu mehrfach: „Die Pflegeanstalt Rastatt solle den Beweis erbringen, daß sich der Betrieb einer Anstalt auch mit erheblich reduziertem Personal aufrechterhalten lasse.“ Aus diesem Gründe weigerte sich Schreck auch, alte Kämpfer aus der NSDAP einzustellen und beharrte auf seinem, von den anderen badischen Anstalten übernommenen erfahrenen Pflegepersonal. Nach 1935 waren 47 Personen beschäftigt, darunter sechzehn Pfleger und fünfzehn Pflegerinnen. Dr. Schreck bemühte sich, seine Pfleger unter Hinweis auf die personell angespannte Lage von der SA und vom Motorsturm zu befreien. Auch versuchte er, sie von der Teilnahme am Reichsberufswettkampf freizustellen. Er teilte mit, „daß auch aus dienstlichen Gründen kein Personal entbehrlich ist. Während an den anderen vier badischen Heil und Pflegeanstalten auf 5,5 Kranke ein Pfleger oder eine Pflegerin kamen, entfielen in Rastatt auf 25 Kranke ein Pfleger oder eine Pflegerin.“

Dieses schwierige Verhältnis verschlechterte sich mehr nochmals im Jahr 1939 durch Kündigungen, Versetzungen und militärische Einberufungen. Das Personalverhältnis betrug jetzt nur noch 1:30. Das führte dazu, dass einige Tage vor Kriegsbeginn statt Pflegern kurzfristig auch Hilfspolizei eingesetzt wurde, um den Anstandsbetrieb aufrechtzuerhalten. Auch ärztlich war die Anstalt unterversorgt. Bei bis zu 580 Kranken und der Betreuung von über 200 Zöglingen in drei Stiften war Schreck allein verantwortlich und hatte nur zeitweise einen Assistenzarzt.

Die obere genannte Zahl von 580 Patienten wurde aber erst allmählich erreicht. Ende 1935 waren bei 560 planmäßigen Betten für 477 belegt. Deshalb bat Schrecken um Einweisung von Patienten aus dem Bezirk Karlsruhe, wobei es sich um „Schwachsinnige, rückfällige Alkoholiker, Sittlichkeitsverbrecher, erneut auftretende Schübe von Schizophrenie handeln“ sollte, kurz: Um ältere, chronische Fälle, die vom Amtsarzt ausdrücklich als für die Pflegeanstalt Rastatt geeignet bezeichnetet wurden. „Diese Maßnahme“, so Schreck, „sei für den Staat außerordentlich wirtschaftlich und würde sich auch aus dem Grunde empfehlen, weil sich die Pflegeanstalt Rastatt bei einer Belegung mit 450bis 460 Kranken mit einem Pflegesatz von RM 1,50 selbst unterhalten könne. Bei höherer Belegung sei der Betrieb natürlich noch rentabler.“

Nach einigem Zögern und mehreren Anweisungen aus Karlsruhe erhöhte sich die Belegung. Dabei wurden aber auch Sicherungsverwahrte untergebracht, im Januar 1938 siebzehn Personen, die als gemeingefährlich galten. Das führte bei der angespannten Personallage zu gefährlichen Situationen.

Die Anstalt war ein vier Abteilungen auf zwei 140 Meter langen Gängen mit 37 Sälen mit bis 16- oder 17-Betten-Zzimmern aufgeteilt. Es befanden sich viele halbruhige Kranke dabei. Vor allem bei den weiblichen Kranken gab es viele unruhige Kranke. Ein Tagessaal war nicht vorhanden. Für alle Kranken gab es nur einen Garten. Dr. Schreck versuchte, die Kosten möglichst zu senken. Deshalb setzte er so weit wie möglich,  die „positive Arbeitstherapie“ ein, unter der er „keine Beschäftigung um jeden Preis, sondern nur eine einigermaßen produktive Tätigkeit“ verstand. Ca. 140 Kranke arbeiteten so in verschiedenen Abteilungen, so in der Gärtnerei, Korbflechterei, Schlosserei, Anstreicherei, als Maurer, in der Küche, der Verwaltung oder im Nähsaal, in der Waschküche, bei Hausarbeiten oder Strümpfestopfen. Die Anstalt unterhielt sich so selbst. Im Januar 1936 wurde deshalb für die Anstalt Rastatt eine allgemeine Kostensenkung durchgeführt, während der Pflegesatz in den vier badischen Anstalten für die dritte Klasse weiter mit RM 3,05 verblieb, wurde er in Rastatt jetzt auf RM 1,60 gesenkt. Damit wurde Rastatt jetzt auch kostenrechtlich aus der Gruppe der Heil- und Pflegeanstalten ausgeschieden. Dr. Schreck fand sich aber damit ab, „daß vor der Sorge für die heilbare, körperlich Kranken die Art der Unterbringung von unheilbaren Geisteskranken unbedingt zurücktreten müsse“.

Aber die Anstalt Rastatt war ja auch nicht als Heilanstalt geplant. Sie sollte ursprünglich neben einer Entlastung der anderen badischen Anstalten die neuen Gesetze zur Verhütung des erbrkranken Nachwuchses sowie gegen gefährliche Gewohnheitsverbrecher und über die Sicherung und Besserung erfüllen helfen. Wie wir sahen, waren in der Pflegeanstalt auch Sicherungsverwahrte untergebracht. Zu Sterilisationen äußerte sich Schreck: „Schon im Jahre 1993 erließ unser Führer Adolf Hitler das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses, das den Zweck verfolgt, wertvolles Erbgut dem Volkskörper möglichst zu erhalten, minderwertiges  nach Möglichkeit auszuschalten und auszumerzen“. „In erbbiologischer  Hinsicht hat das großzügige Gesetz unseres Führers Adolf Hitler zur Verhütung erbkranken Nachwuchses neue Wege gewiesen“.  Trotz dieser positiven Wertung und obwohl er über die „Erfolge“ bei Fürsorgezöglingen, die er vermehrt  sterilisieren ließ, schrieb er: „Doch sind die Erfolge der Fürsorgeerziehung im Allgemeinen – ganz besonders bei den Mädchen,  die nicht sehr selten mit Syphilis und Gonorrhoe behaftet sind , meines Erachtens keine günstigen zu nennen. Wir neiden wohl noch an einer übertriebenen Humanität des verflossenen Regimes und das viel Geld, das der Staat für jugendliche Fürsorgezöglinge ausgibt, ist in vielen Fällen nutzlos vertan“. Trotzdem wurden in der Pflegeanstalt bis 1939 etwa 40 Patienten sterilisiert. Über die Begründungen für Sterilisationen äußerte sich Schreck folgendermaßen: „Ich beabsichtige, im Laufe des Jahres noch eine Reihe von schizophrenen, fluchtverdächtigen Kranken sowie von schwachsinnigen Sittlichkeitsverbrechern sterilisieren. zu lassen. Es handelt sich in diesen Fällen nicht um Entlassungen oder Überführungen in Kreispflegeanstalten, sondern lediglich um fluchtverdächtige Feldarbeiter, bei denen durch die erfolgte Sterilisierung im Falle einer gelungenen Flucht zumindest die Voraussetzung des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchs erfüllt sein würden“.

Wie deutlich wurde,  arbeitetete die Anstatt Rastatt von 1934 bis 1939 in einer Ruine mit allergeringsten Mitteln und Pflegekostenreduktion sowie mit zunehmend weniger Pflegepersonal. Die Kranken wurden nach dem Grundsatz „Die Guten ins Töpfchen, die Schlechten ins Kröpfchen“ nur gepflegt, das heißt aber überwacht und aus ökonomischen Gründen zur Arbeitstherapie angehalten, da sich bei ihnen als „abgelaufenen Fällen“, eine moderne Cardazol-  und Insulinbehandlung nicht lohnte.

Mit Kriegsbeginn trat nun eine neue Situation ein. Bisher ging es im Pflegen – Pflegen besonders als Krankheitsminimierung betrachtet – , wobei die antihumane  Haltung gegen die psychisch Kranken gerade im Aufgeben einer aktiven Therapie besteht.

Jetzt aber mit Kriegsbeginn, zeigte sich, dass auch die Kostenminimierung in der Pflegeanstalt Rastatt nur eine vorläufige Maßnahme der Nazis war. Die folgenden Maßnahmen trafen sowohl Patienten der Heil- und Pflegeanstalten der Kreispflegeanstalten  als auch die der Pflegeanstalt Rastatt. Schon am 04. September 1939 bekam die Pflegeanstalt Rastatt Räumungsbefehl. Einen Tag später, am 05. September, wurden alle 579 Kranken, 303 Männer und 276 Frauen, nach Zwiefalten in Württemberg verlegt. Offiziell wurde das mit der Freimachung des Frontlaufs bei Kriegsbeginns erklärt. Im Zwiefalten wurden die Kranken provisorisch auf Stroh gelagert. Die Pflegeanstalt Rastatt blieb offiziell als „Pflegeanstalt Rastatt in Zwiefalten“ bestehen. Um die Raststätte Kranken in Zwiefalten unterzubringen, mussten 150 Kranke der Anstalt Zwiefalten nach der Anstalt Schussenried verbracht werden.

Schon am 27.02.1940 wurden die ersten 42 Rastatter Männer mit „unbestimmtem Ziel“, das heißt zur „Euthanasie“ fortgebracht. Da inzwischen durch Tod und andere Entlassungen der Bestand der Kranken reduziert war, wurde Rastatt in Zwiefalten kurz Zwischenstation für „Euthanasie“-Transporte und übernahm 103 Patienten aus anderen badischen Anstalten. Im April wurden 117 Patienten, im Mai 500 Kranke, darunter die 102 aus anderen Anstalten aufgenommen, „mit unbestimmten Ziel“ verlegt. Bis zum Juni waren die Transporte abgeschlossen. Die letzten 81 Kranken wurden am 15.06.1940 in der Heil- und Pflegeanstalt bei Konstanz gebracht und damit die Anstalt Rastatt,  die schon zuvor ihr Gebäude an die NSV und später an das Heer zur Einrichtung eines Kriegsgefangen-Lazeretts verloren hatte, „definitiv aufgelöst“.

Der Direktor Schreck, der später als „Schreck der Heilanstalten“ in die Geschichte eingehen sollte, ging zuerst kurz nach Berlin an die Zentrale der „Euthanasie“,  der „Aktion T 42“, löste dann als kommissarischer Direktor etwa hundert Jahre nach ihrer Gründung die Badische  Heil-  und Pflegeanstalt Ilmenau, von der er selbst nach Rastatt gekommen, ebenfalls durch „Euthanasie“ auf und ging dann nach Wiesloch, wo er als Oberarzt eine eigene Kinderstation hatte, auf der er mit dem Münchner Arzt Fritz Kühnke Kinder tötete.

So ist zu sehen, dass ein Beginn der von den Nazis sogenannten „Ausmerze“, also der Tötung von Menschen (neben psychisch Kranken auch Homosexuelle, Juden, Zigeuner, Sozialdemokraten und andere) die Absonderung stand, wobei die Anstalt Rastatt als Absonderungsanstalt zu betrachten ist. Die Absonderung hatte sich in dem Moment im Moment erledigt, in dem nicht nur die gewissermaßen individuelle, sondern die planmäßige, in großem Maßstab betriebene Möglichkeit zur „Ausmerze“ bestand , die durch den Krieg und die Kriegsmaßnahmen nach außen hin gedeckt, aber schon lange zuvor geplant war. Dabei spielten neben erbhygienischen Begründungen Kostendämpfungsmaßnahmen eine große Rolle. Das Beispiel Rastatt ist besonders deshalb wichtig, weil es meines Wissens nach keine Anstalt im ganzen deutschen Bereich gab, die unter ähnlichen Umständen und mit denen ähnlichen Zielen gegründet wurde und bei der beide Aspekte – Pflegen und Vernichten – gleichermaßen eine Rolle spielte.

Franz Peschke
Probleme der Persönlichkeitsbildung und Identitätsfindung von Migrantenkindern

Seit Migration ein weltweiter Prozess geworden ist, stellt sich auch für den Bereich der Psychiatrie zunehmend die Frage nach den Folgen für die Betroffenen. Ein Sonderproblem dabei ist die Frage nach den psychischen Folgen für die Migranten der zweiten oder nachfolgenden Generationen. Für den Migranten der ersten Generation ist Migration eine schwere Entscheidung, die oft unfreiwillig, zum Beispiel aus politischen Gründen oder aus wirtschaftlichen Ursachen erfolgt. Diese Migranten haben dann, wenn sie selbst in ihrem Heimatland aufgewachsen sind, dort ihre Inkulturation erfahren und bringen in die neue Heimat ihre sprachliche, kulturelle und psychische Identität mit, die natürlich je nach der Vorgeschichte auch unterschiedlich sein kann.

Die Kinder dieser Migranten wachsen in im neuen Heimatland/ Arbeitsland der Eltern auf und geraten schon durch die Umstände zwischen die Kulturen. Während ihre Eltern, zum Beispiel türkische oder italienische Gastarbeiter, in der Bundesrepublik sich oft nur beschränkt an die neuen Umstände gewöhnen können und unter Umständen besonders die Türken nur wenig Deutsch lernen und gettoisiert leben, werden die Kinder schon durch die Schulpflicht gezwungen, die Anpassung sehr viel weiter zu verfolgen. Dabei kommen sie natürlich bald in Konflikt mit ihren Eltern. Diese – und darüber ist besonders bei Türken viel geschrieben worden –  erleben die neue Umwelt oft als feindlich und wenig Vertrauen gebend. Sie ziehen sich deshalb in den Kreis ihrer Landsleute zurück, und statt einer Öffnung kommt es dann zum Gegenteil, nämlich zusehends zum Rückzug in den Kreis der eigenen Landsleute. Dabei kann es dann dazu kommen, dass eigene kulturelle Werte im Vergleich zu vorher gerade als Abgrenzung zu der als fremd erlebten neuen Kultur verstärkt werden. Bei vielen Türken kam es so zu einer Verstärkung der islamischen Wertwelt mit zunehmender – auch weltweit zum Beispiel im Iran vorgelegten Fundamentalisierung. Dieser durch paranoides Misstrauen bedingte Rückfall in alte Werte ist verständlich, hat aber besonders für die Kinder dieser Migranten schwere Folgen. Diese wachsen nämlich schon allein durch die Schule und durch das Fernsehen beim Aufwachsen in den neuen kulturellen Werte hinein. Ihre Eltern aber und hier ist besonders die Väter, die anders als heute die deutschen Väter in ihrer Sippe eine, wenn auch bereits wirtschaftlich gebrochene, Autorität verkörpern, lassen die Kindern nicht einfach gehen. Sie berufen sich auf ihre neuen alten Werte, die sie, es ist zu vermuten, nicht immer freiwillig, sondern unter dem Gruppendruck der Landsleute bei ihren Kindern durchsetzen. Bekannt sind die Selbstmorde türkischer Mädchen, die von ihren Eltern nicht freigelassen werden.

Ich möchte die aus der Migrantensituation entstehenden Probleme aber mehr psychiatrisch-psychodynamisch betrachten. Die Migrantenkinder wachsen also in der BRD auf, sie leben einerseits in durch den Außendruck verstärkt zusammenhaltenden Familien, die gewissermaßen familienregressiv verstärkt alte, aus der Heimat stammende Werte vertreten. In solchen Familien herrscht von daher eine starke innere Anpassung der einzelnen Familienmitglieder an die Familiennamen. Die Außenwelt wird demgegenüber als feindlich erlebt und mit Misstrauen betrachtet. Die Entwicklungsmöglichkeiten der Migrantenkinder in diesen Familien werden von daher stark durch die kulturelle Orientierung der Familie bestimmt, was sich natürlich in allen wichtigen Lebensbereichen (Arbeit, Liebe, Freundschaft und so weiter) ausdrückt. Solange die Kinder die Normen und Werte ungefragt übernehmen, entsteht kein Konflikt und die Identität und Persönlichkeit der Kinder wird sich in im Wesentlichen in traditionellen Bahnen halten.

Das wird aber anders, wenn sie sich zum Beispiel in der Schule von der Umwelt beeinflussen lassen. Plötzlich kommt es zu einer Identitätskrise, die der Familie gegenüber eine Vertrauenskrise ist. Jetzt kommt es darauf an, wie der Familie reagiert. Ist es möglich, dass die Familie liebevoll mit den neuen Bedürfnissen des Kindes umgeht und ihm gestattet, sich abzulösen, dann kann es dem Kind gelingen, sich eine eigene Identität aufzubauen. Das heißt auch, einen eigenen interkulturellen Standpunkt zu gewinnen.

Nun ist aber die beschriebene Problematik meist nicht so komplikationslos, und sie erstreckt sich auch über einen wesentlich größeren Zeitraum.

Franz Peschke
ICD 10 und Fallpauschalen - über das reduktionistische Denken der heutigen Psychiatrie und Psychotherapie

Vortrag beim Ergotherapiekongress Deutschland-Schweiz-Österreich am 21.05.1998

Als ich den Titel „ICD und Fallpauschalen – über das reduktionistische Denken der heutigen Psychiatrie Psychotherapie“ für den heutigen Vortrag wählte, wollte ich am Beispiel des Diagnoseschlüssels ICD 10 und der Fallpauschalen Entwicklungen der heutigen Psychiatrie schildern. Bei weiterem Nachdenken ist mir deutlich geworden, dass das Thema zugleich umfassender als auch verstrickter ist. Ich weitere das Thema daher aus. Es geht mir jetzt nicht nur um das reduktionistische Denken, sondern auch über die politisch-gesetzlichen Verstrickungen, um wissenschaftliche Entwicklungen und um psychiatrisch-psychotherapeutisches Handeln.

Ich gehe davon dabei davon aus, dass psychiatrisches Denken und Handeln die Zeitumstände spiegelt und nicht losgelöst von ihnen existiert. Derzeit leben wir in der Postmoderne und in einer Zeit ,in der das Gesundheitswesen und damit auch die Psychiatrie sparen muss. Ausdruck dafür ist die Gesetzesflut in Bonn, die als Gesundheitsstrukturreform bezeichnet wird.

Erst vor wenigen Tagen wurde in Heidelberg ein Denkmal für die Kinder der Anstalt Schwarzacher Hof errichtet, die im Zweiten Weltkrieg in der Heidelberger Psychiatrisch-Neurologischen Klinik beforscht und danach in der Anstalt Eichberg ermordet wurden, um das Forschungsprogramm an diesen Kindern durch Sektion und histologische Aufbereitetung ihrer  Gehirne abrunden zu können. In der Diskussion im Schwarzacher Hof einen Tag nach der Denkmalserrichtung ging es um Fragen der Sparmaßnahmen in der Psychiatrie schon zur Zeit der Weimarer Blick und ihre Verschärfung im Dritten Reich. Es wurde aber auch aufgezeigt, was das heutige weltweite Genprogramm an Gefahren bedeutet. Deutlich wurde, wie ähnlich unter dem Gesichtspunkt der Sparens die Endzeit der Weimarer Republik und das Dritte Reich der heutigen Zeit ist. Das heutige Genprogramm als weltweites Forschungsprogramm nach dem „genetischen Erbe der Menschheit“  zeigt darüber hinaus auf, dass ethikfreie und -fremde mörderische Forschung vor über 50 Jahren lokal in der Forschungsabteilung der Psychiatrischen Klinik in Heidelberg und Wiesloch (ich hab darüber einen Aufsatz geschrieben) und  iIn verschiedenen Konzentrationslager. (unter anderem in Dachau und Auschwitz) gemacht, dass heutzutage ethikfreie und -fremde Forschung aber weltweit betrieben wird. Wenn ich so sagen darf, waren die Nazis in diesem Punkt die ersten Postmodernen. Der österreichische Philosoph und Wissenschaftstheoretiker Paul  Feyerabend (1924-1994) hat als Leitsatz der Postmoderne das Wort „anything goes“ geprägt. Man kann es verschieden übersetzen. „Alles geht“ könnte unter anderem heißen: Alles es möglich (Ein Satz von Größenwahnsinnigen), Alles ist erlaubt (Ein Satz von Kriminellen), Alles ist wurscht (Ein Satz von Negativisten).  Wie der US-amerikanische Kriminalist und Publizist John Douglas (*1945), der als einer der ersten Profiler des FBI, der er an der Fahndung nach mehreren Serienmördern mitgewirkt hatte, in dem Buch „Die Seele des Mörders“[1] schreibt; sind Merkmale gewaltorientierter Serientäter der Wunsch nach Macht, Manipulation, Dominanz und Kontrolle. Diese Täter fangen schon früh an, ihre dazugehörigen Fantasien zu üben und zu auszubauen. So lange, bis sie ihre Fantasien in die Gewalt-Tat umsetzen. Zu solchen Forschungsprogrammen wie das des Heidelberger Psychiaters Carl Schneider (1861-1946) an Kindern in Heidelberg-Wiesloch im Zweiten Weltkrieg und der Versuch, heute das gesamte Genom der Menschheit aufzuklären, gehört ebenfalls eine entsprechende Fantasieentwicklung und Fantasie und der Wunsch nach Macht, Mmanipulation, Dominanz und Kontrolle. Anything goes bedeutet dann,  alles ist fantasierbar und beherrschbar, bis zum Töten und Sezieren. Deutlich wird hier, dass dieses postmoderne Denken keine Grenzen kennt und anerkennt. Jeder kann sich  ja in seiner Fantasie massivste aggressive Handlungen bis zum Mord vorstellen. Er hat aber in Regel Grenzen da, wo es um die Ausführung der Fantasie geht. Anything goes bedeutet aber auch, jede Grenzüberschreitung auch im Tun, im Agieren ist erlaubt. Ein derartiges Denken ist reduktionistisch, weil es letztlich wie bei der Heidelberger Forschung den Menschen reduziert, ja sogar nur als toten Gegenstand betrachtet und behandelt und ökonomisch verwertet.

Wie ordnen sich nun in diese Gedankengänge in die heutigen Tendenzen der Psychiatrie ein?

Seit kurzem haben wir die zehnte Fassung des Diagnoseschlüssels ICD. Er wurde von Experten der Weltgesundheitsorganisation geschaffen und gilt daher weltweit. ICD 10 zeichnet sich gegenüber ICD 9 dadurch aus,  dass statt der Codierung von 001 bis 999 eine alphanumerische Codierung, also eine mit Buchstaben und Ziffern besetzt benutzt wird. Das führte dazu, dass die Zahl der Diagnosen von 999 im ICD 9  jetzt im ICD 10 massiv erhöht wurde und in weiteren Revisionen des ICD 10 auch noch erhöht werden kann. Für den eigentlichen Bereich der psychiatrischen Diagnosen bedeutet das, dass es gegenüber früher jetzt 30 jetzt 100 Hauptdiagnose gibt. Zugleich werden altbekannte Unterscheidungen wie die zwischen Neurose und Psychose zugunsten das Begriffes „Störung“ aufgegeben. Jeder psychisch krank ist jetzt „gestört“. Der alte Begriff Zyklothymie  wurde aufgegeben. Alle Depressionsformen heißen jetzt affektive Störung. Es gibt aber verschiedene Schweregrade. Um die Diagnose und den Schweregrad zu bestimmen, werden dem Psychiater und Psychotherapeuten Flussdiagramme an die Hand gegeben. Schlagwort dabei ist die Operationale Klassifizierung. Der Psychiater sieht nicht mehr den ganzen Menschen, sondern er benutzt mit seinem psychopathologischen Grundwissen Zettel, auf denen mit Ja/Nein-Antworten und völlig willkürlichen Zeitangaben operational eine computerverwertbare Diagnose erstellt wird. Das ist eine Art der Diagnose zu erstellen, die wissenschaftlich aussieht, es aber nicht ist. Dazu kommt, dass der Psychiater früher nach einer Schichtenregel. d.h. nach der Steigerung von neurotisch über psychotisch bis psychoorganisch eine Diagnose zu erstellen hatte, die alle einfacheren Diagnosen wie neurotisch einschloss und die oberste Schicht betraf. Fanden sich neurotische Symptome,  aber keine anderen, so war die Diagnose eine Neurose. Wurden neurotische, psychotische und psycholorganische Symptome gefunden. so handelte es sich um eine psychorganische Diagnose. Im ICD 10 gilt die Schichtenregel nicht mehr. Es können heute bei Symptomen aus mehreren Schichten mehrere Diagnosen nebeneinander gestellt werden. Der Mensch wird nicht mehr als Einheit begriffen, sondern ist ein syndromales Sammelsurium mit mehreren Diagnosen. Es wäre einzusehen, wenn eine psychodynamische Betrachtungsweise eine sinnvolle Auflockerung brächte, etwa wie man es bei der neuen Diagnose Borderline-Syndrom machen kann. Zum Beispiel: Es handelt sich um ein Borderline-Syndrom mit Depression, Zwang, Polytocikomanie und rezidivierten psychotischen Episoden. Hier hätte der Psychiater früher zum Beispiel eine Schizophrenie diagnostiziert, weil die Psychose hier im Sinne der Schichtenträger die höchste Schicht darstellt. Psychodynamisch handelt es sich aber um eine entwicklungsgeschichtlich frühe Störung, mit nachfolgenden Störungen in verschiedenen psychischen Entwicklungsniveaus. Vom psychodynamischen Gesichtspunkt aus versagt hier die alte Schichtenregel. Im ICD 10 aber geht es nicht um eine derartig komplizierte psychodynamische Betrachtungsweise. Vielmehr geht es um Operationalisierung und damit Vereinfachung. Wie gesagt, hat sich die Zahl der Diagnosen seit dem ICD 9 deutlich erhöht. Nicht, weil wirklich viele neue Krankheitsbilder bekannt wären, sondern einfach deswegen, weil mit unsinnigen Flussdiagrammen sich hundert Diagnosen leichter operationalisieren lassen als mit als nur 30. Als Fortschritt gepriesen, ist aber letztlich nur eine Diagnose-Zersplitterung ohne wissenschaftlichen Wert.

Der Wert liegt ganz woanders. In der Möglichkeit, durch Diagnosen, die Zeitaspekte beinhalten, Kosten zu sparen. So ist nicht egal, ob der Psychiater F 41.2, F 43.21 oder F 33 diagnostiziert. F 41.2 ist nach dem ICD 10 eine leichte und nicht anhaltende ängstliche Depression, f 43.21 ist eine längere depressive Reaktion, die nicht länger als zwei Jahre dauert, F 34.1 ist eine neurotische Depression,  die länger als zwei Jahre dauert und F. 33 einer rezidivierende depressive Störung, deren Episoden zwischen drei und zwölf Monaten dauern, chronisch werden oder in eine Manie umschlagen kann. Es ist nun sehr gut möglich, dazu, wie ich es bereits getan wird, therapeutische Leitlinien zu entwickeln, die mit einem minimalen ökonomischen Einsatz gekoppelt sind. Zum Beispiel könnte man einem Patienten mit einer als F 34.1 diagnostizierten. länger als zwei Jahre dauernden Depression wegen der schon langen, ökonomisch nicht vertretbaren Krankheitsdauer psychotherapeutische oder andere, zum Beispiel ergotherapeutische Hilfe verweigern. Oder man könnte einer Patientin mit einer rezidivierenden depressiven Störung von vornherein Psych09therapie, Ergotherapie oder andere Verfahren untersagen, weil eine Elektroschockbehandlung leichter wirksam ist. Wollen wir nicht hoffen, dass es soweit kommt. Die scheinbar wissenschaftliche Klassifizierung des ICD 10 könnte dann unbemerkt zu Vehikel werden, mit dessen Hilfe Kostenreduktionen durchgeführt werden könnten.

Wichtig ist zu bemerken, dass der ICD 10 einen teilweise atheoretischen Ansatz beinhaltet, weil jede psychische Krankheit hier als „Störung“ bezeichnet wird, als seien die psychisch Kranken Autos oder andere Objekte. Die „Störungen“ reduzieren also die Menschen. Wichtig ist nicht, dass die psychisch Kranken an ungelösten Konflikten ihrer Kindheit und/oder ihres späteren Lebens leiden, dass sie leidende Menschen sind, sondern sie haben eine „Störung“, die möglichst kostengünstig und effektiv vom Seelenkleptner behoben werden soll.

Hier zeigt sich wieder das postmoderne Denken. Atheoretisch heißt nämlich, ohne menschlichen Zusammenhang, ohne menschliche Bindungen, Werte und Gefühle. Der wird einer „Störung“ behaftete Patient braucht nicht mehr ernst genommen und als Patient behandelt zu werden. Er hat eine „Störung“ und wird daher objektiviert.

Dieser Tendenz zur Objektivierung folgt heutzutage ein Großteil der Forschung. Heute ist es nicht mehr nöti,g die Menschen wie in der Forschung an den Schwarzacher Kindern, die in der  Heidelberg-Wieslocher Klinik beforscht wurden, zu töten, um Kenntnisse über ihre Gehirne zu bekommen. Die modernen bildgebenden und computergestützten Verfahren erlauben schon viele Aussagen an Lebenden. Forschung ist schon lange der Versuch, am lebenden Menschen Kenntnisse über das Körperinnere zu erhalten.

Dass heute viele Menschen auch außerhalb der Psychiatrie den Menschen gerne objektivieren, war dem Rummel um die Mannheimer Ausstellung „Körperwelten“ zu entnehmen die wie eine Multimediashow wirkte. Es war nicht wichtig, dass diese „Objekte“ vorher lebende Menschen mit  Hoffnungen Gefühlen und einem sozialen Zusammenhang waren. Sie waren theaterbühnmäßig aufbereitete ästhetische Objekte. Wie berichtet, soll der Heidelberger Anatom, der sich als Künstler versteht, einen Großteil der Leichen als Frachtgut aus fremden Ländern, unter anderem China bekommen haben, wobei die Zölle nicht wussten, wie die Leichen eingeführt werden sollten, als Leichen oder als Arbeitsmaterial. Was vorher mit ihnen war, ob sie zum Beispiel ermordete Regimegegner waren, schien niemanden zu interessieren.

Doch zurück zu eigentlichen Forschung in der Psychiatrie. Anlässlich einer Tagung im Oktober 1997 im Bezirkskrankenhaus Haar bei München wurden z.B. folgende Forschungen zur Schizophrenie vorgestellt: PET-Untersuchungen, Untersuchungen zur Immunpathogenese, zur Neuroanatomie, zur Genetik, zur Neuropsychologie und zu den Neurotransmittern. Einig waren sich die Forscher, dass die Schizophrenie eine genetisch verursachte oder durch eine Infektion im Uterus  erworbene Krankheit war,  dass sie jedenfalls mit einem neuroanatomischen fassbaren Defekt einherging, der schon bei Geburt angelegt war und dass daher die Schizophrenie eine statische, nicht veränderbare Krankheit sei.

Schon als ich vor  über 13 Jahren im Psychiatrischen Landeskrankenhaus Wiesloch arbeitete, haben wir solche Fragen diskutiert. Damals war uns bekannt, dass er schizophrene Patienten gab, bei denen es schon makroskopisch sichtbare oder mikroskopisch- histologische Veränderungen vorwiegend im linken Temporallappen gab. Bei anderen Schizophren fanden sich diese Befunde nicht. Die, bei denen sich diese Befunde fanden, waren meist schwer zu rehabilitieren, neigten zu häufigeren oder längeren Anstaltsaufenthalten und wurden leicht chronisch. Wir gingen davon aus, dass es ganz verschiedene Ursachen für diese Krankheitsgruppe gab. Auf der einen Seite gab es organische (genetische, vorgeburtlich infektiös und andere) Ursachen, auf dem anderen Pol stand die psychodynamisch verstehbare psychische Verursachung, wobei sich die Ursachen auf beiden Polen, nämlich die organische und psychische, nicht widersprachen, sondern ergänzten. Histologische Veränderungen im Temporallappen führten dazu, dass der später schizophrene Patientin Informationen nicht genügend filtern konnte, wodurch er auch die Kommunikation in der Familie nicht richtig werten konnte. Auf der anderen Seite konnte ein Mensch gar keine Hirnveränderungen aufweisen, die Familienverhältnisse waren aber so katastrophal, dass er auch schizophren erkrankte.Dieses Modell eines gleitenden Spektrums von Ursachen lässt es zu, dass man auch ein gleitendes, auf den jeweiligen Patienten abgestimmtes Therapiespektrum anwenden kann, wobei je nach Schwere der Erkrankung,  Motivation des Patienten oder nach anderen Faktoren tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie oder Verhaltenstherapie zur Anwendung kommen können.

[1]John Douglas, Mark Olshaker: Die Seele des Mörders 25 Jahre in der FBI-Spezialeinheit für Serienverbrechen.

Franz Peschke
August Nitschkes Buch „Historische Verhaltensforschung“

Vortrag beim Morgenkolloquium im Rahmen der Weiterbildung zum Facharzt für Psychiatrie und Neurologie in der neurologisch-psychiatrischen Klinik Karlsruhe (Prof. Norbert Müller) im Oktober 1985

August Nitschkes Buch „Historische Verhaltensforschung“

Ursprünglich hatte ich vor, ein neurologisches Thema zu wählen. Ich dachte an neue Erkenntnisse über die Chorea minor. Während der Vorbereitung fiel mir aber das Buch Historische Verhaltensforschung von dem Stuttgarter Historiker August Nitschke in die Hand. Ich hatte von Nitschke vorher schon einiges gelesen, unter anderem im Rahmen des Funkkollegs Geschichte, an dem ich mit Prüfung teilgenommen habe. Mir scheint Nitschkes Buch geeignet, im Rahmen einer Besprechung in der psychiatrischen Facharztweiterbildung aufzuzeigen, wie sich Historiker heute  mit Verhaltensforschung befassen. Ich gehe dabei davon aus, dass die historische Verhaltensforschung genau so eine Hilfswissenschaft für die Psychiatrie darstellt wie die vergleichende Verhaltensforschung oder Ethologie von Konrad Lorenz oder Irenäus Eibl-Eibesfeld.

August Nitschke wurde 1926 in Hamburg geboren. Er studierte in Göttingen und Mainz, habilitierte sich 1958 in Münster und ist seit 1960 Professor für Geschichte an der Universität Stuttgart, zugleich Direktor des Historischen Instituts und seit 1970 Direktor der Abteilung historische Verhaltensforschung im Institut für Sozialforschung.

Die historische Verhaltenswissenschaft hat sich erst in den letzten circa 15 Jahren entwickelt. Fast alle von Nitschke in der Literaturliste genannten einschlägigen Bücher sind nach nach 1970 entstanden. Als sehr früher Vorläufer ist aber das Buch „Herbst des Mittelalters“ des niederländischen Historikers „Herbst des Mittelalters“ zu nennen, das 1919 erschien.

Die Bücher und Schriften von August Nitschke kamen zwischen 1967 und 1982 heraus, eine Frühschrift aber schon 1956. Das von mir vorgestellte Buch erschien 1981 im Eugen Ulmer Verlag in Reihe UTB. Es enthält 3 Teile a) die von der Mentalität einer Gruppe abhängigen Verhaltensweisen, b) die von Aktionen abhängigen Verhaltensweisen und c)  einen Teil, in dem die Ergebnisse vorgestellt werden sowie ein Vorwort.

Das Buch ist so aufgeteilt, da der Autor Verhaltensweisen schildert, die seiner Meinung nach von der Mentalität abhängig sind und andere, die von Aktionen abhängig sind.

Über die Mentalität schreibt Nitschke: „Die Mentalität äußert sich in sehr unterschiedlichen Formen. Der Historiker kann sie erschließen, wenn er weiß, wie die Mitglieder dieser Gesellschaft mit ihren Affekten fertig werden, wie sie empfinden, wie sie beim Denken Verbindungen herstellen, und wenn er weiß, welche Bedürfnisse bei ihnen dominieren.“

Über die Affektkontrolle hat Norbert Elias sein Buch „Über den Prozess der Zivilisation“ geschrieben. Dieses referiert Nitschke.

Elias beschreibt, wie sich die Menschen einer Gesellschaft verändern, unter drei Aspekten: als eine Entwicklung von neuen Haltungen der Menschen zu sich selbst, als eine Entwicklung von neuen Persönlichkeitsstrukturen und als eine Entwicklung in Schüben auf eine größere Affektkontrolle und Selbstdistanzierung. Elias unterscheidet nicht zwischen Affekten und Trieben. Was sich verändert, ist die Einstellung der Personen zu ihren Affekten. Eine Affektkontrolle, Selbstdistanzierung und Verlust der Spontaneität des Affekthandelns korreliert mit Dämpfung der Triebe. Entsprechend dem Konzept von Elias kann eine Historiker die Sitten einer Gesellschaft unter dem Gesichtspunkt analysieren, inwieweit sie dafür sprechen, dass die Angehörigen dieser Gesellschaft sich von ihren Trieben zu distanzieren verstehen.

Ein Beispiel ist die Entwicklung der Minne. Die Kriegergesellschaft des Mittelalters wandelte sich, als in den Burgen sich höfisches Leben entwickelte und viele Menschen auf engstem Raum zusammenwohnten. Vorher war von der Liebe wenig die Rede. Die neue Situation erforderte eine Affektkontrolle. Dazu diente der Minnesang. Erkenntnisse über die Affektkontrolle kann man auch durch Untersuchung der Sitten, zum Beispiel der Tischsitten gewinnen. Dazu dient etwa eine Analyse der Manierbücher. Den Wandel von dem vorherrschen eines Affektkontrollmusters zum anderen erklärt Elias aus der politischen Geschichte.

Zur Mentalität gehören auch die Empfindungen. Darüber referiert Nitschke ein Buch des französischen Historikers Lucien Febvre. Dieser geht davon aus, dass Emotionen ansteckend sind, wobei Emotionen zum Beispiel Wehmut, Sehnsucht, Trauer, Freude, Geborgenheit und Einsamkeit sind. Die Fragen, die Historie dabei stellen, sind: Dominieren Empfindungen in einer Gesellschaft? Wie differenziert ist die Empfindungsfähigkeit der Angehörigen einer Gesellschaft ? Wie wirken sich die Erfindungen auf die Erkenntnisfähigkeit der Angehörigen einer Gesellschaft aus? An wen binden Empfindungen und von wem trennen Empfindungen?

Nitschke kommt dabei zu dem Ergebnis“ „Durch die sorgfältige Beobachtung der Empfindungen lässt sich erkennen, wem die Menschen einer Gesellschaft sich zugehörig fühlen und von wem sie abgestoßen werden.“ Seine Interpretation macht er dabei unter anderem an Texten und Bildern deutlich.

Neben den Affekten und den Empfindungen machen auch Nitschke noch die dominierenden Bedürfnisse und die Verbindung des Gedachten beim Denken die Mentalität einer historischen Gesellschaft aus.

So soll es die drei zentralen Bedürfnisse nach Gesellung, nach Macht und nach Leistung jeweils dominierend bei verschiedenen Bürgern zu verschiedenen Zeiten geben.

Ebenso gibt es drei Arten des Denkens: In dem ersten Falle können die Menschen, was sie sehen, sofort in einen Zusammenhang stellen, der seinen augenblicklichen Zustand begründet. Bei dieser Art des Denkens werden Dinge, die der Mensch wahrnimmt, in eine zeitliche und kausale Ordnung und Kontinuität gebracht. Dieses Denken ist unsere heutige normale kausale westliche Denkungsart.

Im zweiten Fall können die Menschen das Wahrgenommene in einen Zusammenhang stellen, der es komplementär ergänzt. Es ist das „Wilde Denken“ von Levi Strauss. Dieses Denken arbeitet mit Mitteln der Vernunft und nicht der Affektivität. Dieses Denken ist darauf gerichtet, die Objekte durch Schemata zu verdoppeln, denen man die Rolle von zusätzlichen Objekten gegeben hat. Das wilde Denken ist seinem Wesen nach zeitlos. Es will die Welt zugleich als synchronische und diachronische Totalität erfassen, und die Erkenntnis, die es daraus gewinnt, ähnelt derjenigen, wie sie Spiegel bieten, die an einander gegenüberliegenden Wänden hängen und sich gegenseitig widerspiegeln. Unzählige Bilder entstehen gleichzeitig, und keines ist dem anderen genau gleich. Die Dinge, die von den Wilden beobachtet werden, eignen sich zu einer binären Codierung nach Gegensatzpaaren. Menschen, die in dieser Art denken, sind dadurch charakterisiert, dass sie bei jedem Ding auf diejenigen anderen Dinge achten, die es komplementär ergänzen, die es zu einem System erweitern. Als Beispiel bringt Nitschke die Kategorien bei Sioux-Indianern. Lebewesen und Dinge sind in dre Kategorien eingeteilt, die jeweils dem Himmel, dem Wasser und der festen Erde zugeordnet sind Die Erde die Erde zugeordnet sind. Bär, Puma, Stachelschwein, Hirsch und Adler . Und der Adler deshalb, weil im Denken der Osage (einem nordamerikanischen Indianerstamm aus dem Dhegiha-Zweig der Sioux-Sprachfamilie) der Adler mit dem Blitz, der Blitz mit dem Feuer, das Feuer mit der Kohle und dieses mit der Erde verknüpft ist.  Der Adler ist als einer der Herren der Kohle ein Erdtier.

Bei dem dritten Denken können die Menschen, was sie sehen, sofort in eine Zusammenhang stellen, an dem das Gesehene teilhat. Diese Art des Denkens ist uns bekannt durch das platonische und neu-platonische Denken. Im Mittelalter war es als symbolisches Denken bekannt und wurde auch als Realismus an den Universitäten gelehrt. Mittelalterliche Bilder und Schriften sind ohne Verständnis für diese Art des Denkens nicht zu verstehen. Es ist aber, vom kausalen Decken aus betrachtet, gleichsam ein geistiger Kurzschluss. Nur dann aber hat die symbolische Gleichsetzung aufgrund gemeinschaftlicher Kennzeichen einen Sinn, wenn die Kennzeichen des Wesentlichen der Dinge sind, wenn die Eigenschaften, die das Symbol und das Symbolisierte gemeinsam haben, wirklich als essenziell aufgefasst werden. Rote Rosen zwischen Dornen bedeuten dann für den mittelalterlichen Menschen die Jungfrauen und Märtyrer zwischen ihren Verfolgern, weil die Zartheit, Schönheit, Reinheit und Blutröte der Rosen denjenigen eines der Märtyrer und Frauen entspricht.

Dieser Zusammenhalt ist nur dann wirklich sinnvoll und voll mystischer Bedeutung, wenn in dem verbindenden Glied, in der Eigenschaft, das Wesen der beiden Glieder des Symbolismus eingeschlossen liegt, wenn Rot und Weiß als Realien, als Wirklichkeiten gelten. Ein ähnliches Denken beschreibt auch der französische Philosoph Lucien Levy-Bruhl. Er nannte das Denken prälogisch.  Da Dinge gleichzeitig an mehreren Eigenschaften teilhaben können, besteht für das Denken dieser Menschen kein Widerspruch, wenn sie in Gedanken ein Ding ganz unterschiedlichen, nach den Gesetzen unserer Logik unvereinbaren Bereichen zuordnen. Das hat Auswirkungen auf das Verhalten der Menschen. Durch Partizipation am Wesentlichen kann eine Person nur eben durch Partizipation am Wesentlichen teilhaben. Dadurch gibt es keine Individualität in unserem Sinne. Das Glied des Clans, Stammes oder Volkes verschmilzt mit den anderen. Das Mitglied eines Staates, eines Totems, eines Clans fühlt sich mystisch vereinigt mit seiner Gruppe, mit seinem Totem, mit seiner Traumseele oder Buschseele. Das führt dazu, dass für die Menschen im Denken und im Handeln der Unterschied zwischen einer individuellen Erscheinung und der Art, zwischen zum Beispiel dem individuellen Tier und der Art des Tieres nicht besteht, weil das Gesetz der Partizipation, das das leitende Prinzip ist,  es erlaubt, ohne Schwierigkeiten zugleich das Individuelle im Kollektiven und das Kollektive im Individuellen zu sehen. In der europäischen Geschichte kam dieses Denken bei keltischen, germanischen und slawischen Stimmen vor. Das ging bis in das Recht hinein. Deshalb musste auch die Gruppe für das Unrecht des Einzelnen Genugtuung leisten.

Somit haben wir bisher die von der Mentalität einer Gruppe abhängigen Verhaltensweisen, die Affekte, die Empfindungen, die Bedürfnisse und die Arten des Deckens kennengelernt. Diese Ergebnisse zur historischen Verhaltensforschung referiert Nitschke, da er in dem Gebiet selbst nicht gearbeitet hat, während er das Folgende selbst initiiert hat.

Den zweiten Hauptteil seiner Arbeit nennt Nitschke“ „Die von Aktionen abhängigen Verhaltensweisen“. In dem ersten Abschnitt geht er der Frage: Wer bewirkt Veränderungen nach.  Der zweite Abschnitt antwortet auf die Frage: Was wird beim Menschen verändert?

Wer bewirkt Veränderungen?

In diesem Abschnitt geht es um Handlungen und Bewegungen, die Nitschke als „Aktionen“ oder „Geschehnisse“ zusammenfasst. An die Stelle der Mentalitätsforschung des ersten Hauptteils tritt die Interaktionsforschung. Historiker beschäftigen sich dabei mit den Wirkungen, von denen die Naturwissenschaftler sprechen, die die Male darstellen oder von denen Dichter berichten. Die Menschen reagieren auf die jeweils wahrgenommene Aktion mit jeweils unterschiedlichen Handlungen. Diese von Aktionen abhängigen Verhaltensweisen sind die historischen Verhaltensweisen, nach denen die Historiker suchen, weil die Menschen sie als in ihrer Umgebung besonders wirkungsvoll wahrnehmen. Wer der Frage: Wer bewirkt Veränderungen? Nachgeht, kann drei Varianten des Ursprungs der Dynamik unterscheiden:

Die Stellung eines Menschen kann sich dank seiner eigenen Überlegenheit verändern. Dieses Verhalten wird autodynamisch genannt.

Die Stelle eines Menschen kann sich auch dank einer Gestalt seiner Umgebung, die dem Menschen überlegen ist, verändern, die heterodynamische Verhaltensweise.

Oder drittens. Die Stellung eines Menschen verändert sich dadurch, dass er sich verwandelt in eine andere Gestalt, Nitschke nennt das die transformationsdynamische Verhaltensweise.

Die Interpretation erfolgt durch Märchen, Sport, Tanz und Bewegungsweisen. Die autodynamische Verhaltensweise ist unsere übliche Verhaltensweise.

Ein Moslem, der den Koran anerkennt und nach ihm lebt, verhält sich heterodynamisch, da er sich von Gott abhängig fühlt.

Ein Schamane, der gleichsam zuerst sterben muss, um Veränderungen zu bewegen, verhält sich transformationsdynamisch. Als Beispiel für autodynamisches und hetereodynamisches Bewegungsverhalten nennt Nitschke ein Reiterturniere im 13 Jahrhundert und die japanische Sportart Aikido.

Der letzte Abschnitt heißt: Was wird bei Menschen verändert?

Die Zentralfrage dieses Abschnittes lautet. Was wird, wenn Aktionen oder Geschehnisse auf Menschen einwirken, beim Menschen verändert  – seine Antriebe zum Handeln oder sein Handeln selbst?

Dieser Fragestellung entsprechen drei Verhaltensweisen. Die erste Verhaltensweise: Die Angehörigen einer Gesellschaft nehmen in ihrer Umwelt die Aktionen wahr, die ihre Antriebe verändern. Sie erfahren dabei, wie unterschiedlich ihre Antriebe zur gleichen Zeit auf sie einwirken können. Die von ihnen in der Umwelt wahrgenommenen Aktionen könne dabei einen ihrer Antriebe verringern oder verstärken. Wenn man Angehörige dieser Gesellschaft fragt, was bei Menschen verändert werden kann, so antworten sie: Es sind die Antriebe, die verändert werden können. Bei ihnen haben die Menschen ein hohes Ansehen, die imstande sind, auf die verschiedenen Antriebe seiner Mitmenschen und auf die Kräfte ihrer Umwelt Einfluss zu nehmen.

Die zweite Verhaltensweise: Für die Angehörigen dieser Gesellschaften sind Handlungen und Bewegungen in der Umwelt der Menschen bei bedeutungsvoller, die die Menschen dazu veranlassen, sich an sie mit Handlungen und Bewegungen anzugleichen, ohne auf ihre Antriebe zu achten. Diese Aktionen nehmen sie deshalb bevorzugt wahr. Wenn man Angehörige dieser Gesellschaft fragt, was beim Menschen verändert werden kann, so antworten sie: Die menschlichen Handlungen können verändert werden. wenn der Mensch andere Handlungen mitvollzieht oder wenn es ihm gelingt, andere Handlungen nachzuahmen.

Die dritte Verhaltensweise: Für die Angehörigen dieser Gesellschaft sind die Aktionen wichtiger und wirksamer als Antriebe und Handlungen, an die sie sich angleichen können auf die sie mit Handlung reagieren können. Auf die Frage, was wird bei Menschen verändert, lautet ihre Antwort:  Die menschlichen Handlungen können verändert werden, wenn die Umgebung des Menschen ihn mit Handlungen veranlasst, mit Handlungen zu reagieren.

Somit können Historiker ein dreierlei Weise nach den Zielen der Angehörigen einer Gesellschaft fragen

1.Ist es das Ziel der Angehörigen einer Gesellschaft zu erreichen, dass die eigenen Antriebe von der Umwelt verändert werden oder dass sie,  die Angehörigen selbst, die Antriebe der Personen in ihrer Umwelt verändern?

oder 2. Ist es das Ziel der Angehörigen einer Gesellschaft, wichtige Veränderungen dadurch zu erreichen,  dass es sich in Handlungen an andere Handlungen angleichen?

oder 3.  Ist es das Ziel der Angehörigen eine Gesellschaft, wichtige Veränderungen dadurch herbeizuführen, dass sie in Handlungen auf Veränderungen ihrer Umwelt reagieren?

Weitere Fragen sind dann: Welche von Antrieben bedingte Veränderungen in der Umwelt sind möglich? Welche Kräfte werden benötigt, um diese Veränderungen herbeizuführen?

Welche Handlungen werden wiederholt, um Ansehen zu gewinnen? Wessen Handlungen werden mit vollzogen?

Durch welche Handlungen reagieren die Angehörigen der Gesellschaft? Auf welche Veränderungen der Umwelt reagieren sie?

Die Handlungen, in denen die Menschen auf Veränderungen in ihrer Umwelt antworten, sind die jeweils dominierenden Verhaltensweisen.

Zur Interpretation werden auch Bewegungsabläufe, Bilder, naturwissenschaftliche Erkenntnisse und literarische Werke einbezogen.

Nitschke bringt für alle drei Verhaltensweisen Beispiele. Heißt dabei nach, dass die Verhaltensweise, bei der ein Geschehen die Antriebe der Handelnden verändert, schon zur Zeit der Ottonen in Europa vorhanden war  (in einem anderen Buch zeigt er auf, dass auch im Altertum seit Euripides diese Verhaltensweisen vorherrschte, später aber verloren ging)  und in verschiedenen Schüben in der Renaissance und im jetzigen bürgerlichen Zeitalter vorhanden ist. Dabei zeigt er besonders anhand von Texten und Bildern auf, dass seit der Renaissance durch das Aufkommen der Zentralperspektive die Personen im Bilde in einem Kontinuum zueinander stehen, sodass sie als Bewegliche aufeinander einwirken können. Im Altertum zur Zeit des Euripides wurde schon teilweise eine noch unvollständige Perspektive benutzt. Zur Zeit der Ottonen kannten die Maler keine perspektivische Darstellung. Figuren bei den Ottonen haben aber Gesten und die durch Gesten charakterisierten Figuren befinden sich durch ihre Gesten in einem Kontinuum, in dem sie sich weiter annähern, zurückziehen oder sich heraushalten können. Dieses gestische Verhalten – zum Beispiel Jesus der Gebende, Petrus der Empfangene  – kann auch bei literarischen Denkmälern,  bei juristischen Schriften, aber auch bei politischen Entscheidungen feststellen. Es entspricht dem bisher hierarchisch aufgebauten Feudalsystem. Über Beispiele der Naturschaften und des Bewegungsverhaltens kommt Nitschke zu den Fragen: Es ließe sich also untersuchen, ob sich im 13. Jahrhundert Politiker von Kräften leiten ließen, die sie dazu brachten, – durch Handlungen eine Haltung zu demonstrieren, – in Handlungen sich auf andere einzurichten und dabei die Höhe ihrer Stellung, etwa ihres Standes zu wahren und mit Hilfe von Handlungen andere aus ihrer Richtung zu verdrängen. Das Gemeinsame bei allen Gesellschaften seit dem Mitalter aber ist, dass ihre Angehörigen dadurch,  dass sie in einem Kontinuum stehen, dass also die Konfiguration aller ihrer Verhaltensweisen ein Kontinuum bildet, von Antrieben beherrscht werden und sich entsprechend verhalten.

Ganz anders ist es bei den Völkern, bei denen auf ein Geschehen mit Handlungen reagiert wird. Sie leben nicht in einem Kontinuum, sondern in einem Konfrontationsfeld. Das wird beim Ansehen der Bilder besonders deutlich.

Nitschke bringt als Beispiel die Kwakiutl, einen Indianerstamm  Nordamerikas und die Chinesen zur Sungzeit.

Die Kwakiutl sind Kannibalen. Sie verehren einen Gott, der unter anderem der Kannibale am Nordsaum der Welt genannt wird. Auf die Ankunft dieses Gottes warten die Kwakiutl. Sie reagieren  dabei auf sein kommen. Wenn er mit „Hap-hap“ kommt, um seine Lust nach Menschenfleisch zu befriedigen, wird ein großes Fest gefeiert. Eine Novize, der in der Gesellschaft der Menschenfresser aufgenommen werden will, muss zuvor hungern, bis er in Trance verfällt. Er muss symbolisch sterben. Nitschke schreibt: „Die jungen Novizen und überhaupt die Kultgemeinde des Gottes erwarten ein Geschehen in der Umwelt, nämlich das Erscheinen des Gottes. Alle Handlungen dienen dazu, auf dieses Geschehen zu reagieren. Auf gar keinen Fall achten den Novizen  auf ihre eigenen Antriebe. Im Gegenteil. Sie bemühen sich darum, ihre Antriebe und überhaupt ihre eigene Art aufzugeben, selbst ihren Körpergeruch versuchen sie zu beseitigen, indem sie sich „mit Spitzen von Tannenzweigen abreiben.“ Wenn der Novize Haphap schreiend wie ihr Gott zum Dorf hereinkommt, beißt er alle und verrät damit seine Gier nach Menschenfleisch. Er muss in eine vorbereitete Höhle mit dem Gesicht des Gottes oder des Raben oder Hochkoko,  seiner Stellvertreter, hineingehen und zwar genau durch den aufgezeichneten Mund, womit er gefressen wird. Dann wird ihm von einer Leiche zu essen angeboten. Die Bilder der Kwakiutl sind nur ganz auf den Betrachter bezogen, sie konfrontieren ihn. Die Glieder sind abgebogen und zeigen nur beim Tanzen bewegliche Gelenke. Eine Perspektive fehlt völlig. Auf diese Bilder kann man nur gebannt reagieren oder sich abwenden.

Bei der letzten Verhaltensweise wird ein Geschehen durch Handlungen wiederholt. Als Beispiele bringt Nitschke die Azteken und das frühe Griechentum. Ich schildere die Azteken: Nach altmexikanischen Vorstellungen hat die Sonne während ihrer nächtlichen Fahrt durch die Unterwelt des Schicksal der Toten erlitten und ist zum Skelett geworden, das morgens seine menschliche Gestalt erst wieder erlangt, wenn man sie mit Blut und Herzen ernährt. Dabei gelten die Sterne als Blut, das bei der Dämmerung von der Sonne aufgesogen wird. Auf Erden hatten die Menschen das Verhalten der Sonne nachzuvollziehen. Deshalb mussten extra Kriege geführt werden, um Menschen zu fangen, deren Blut und Herzen geopfert werden konnten, damit die Sonne wieder zum Leben erwachte. Wer als Krieger starb oder geopfert wurde oder eine Frau im Wochenbett wurden als Kolibris oder Schmetterlinge wiedergeboren. Normal Gestorbene kamen in die Unterwelt, wo Obsidianmesser, Sand, Bäume, Stachelpflanzen herumgewirbelt wurden und es sehr kalt war. Es galt als ehrlos, so zu sterben. Man konnte also durch Fallen im Krieg oder Sterben auf dem Altar durch Nachvollzug des Verhaltens der Sonne seine Position im Jenseits und die Achtung unter den Menschen verbessern. Das Geschehen, was dabei wiederholt wurde, war das Sterben. Dabei hatten die Azteken nicht wie wir einen kontinuierlichen Zeitbegriff, sondern sie glaubten an nacheinander folgende, einander ausschließende Zeitabschnitte, wie Leben und Tod. Nitschke nennt dieser Kultur deshalb eine Sequenzgesellschaft, was man auch gut beim Ansehen der Bilder nachvollziehen kann. Hier gibt es kein Kontinuum, aber auch keine Konfrontation. Stattdessen geben die Bilder ein ein Geschehen wieder, zum Beispiel die Opferung eines Kriegers und zugleich die Sonne, wie sie sich vom Blut und vom herausgeschnittenen Herzen ernährt. An diese Handlungen kann man sich angleichen. Die einzelnen Figuren sind dabei aus Teilen sequenzartig zusammengesetzt wie auch ihre Kalender, der die Zeitepochen und Tage unverbunden sequenzartig nebeneinander zeigt.

Zuletzt die Frage: Warum habe ich das Buch im Rahmen der Fortbildung heute vorgestellt?

Nun, ich denke, es regt an, über unsere psychisch Kranken einmal anders nachzudenken. Folgende Fragen fielen  mir unter anderen ein:

Wie beobachten und wie beschreiben wir die Affektkontrolle? Wie kann man Schilderungen der Zugehörigkeit oder der Abwehr Angehörigen gegenüber familientherapeutisch nützen? Wie lockern wir den „blinden Fleck“  bei einer Störung der Erkenntnisfähigkeit durch Emotionen? Kann man ohne weiteres die beiden Arten des nicht kausalen Denkens auf eine Theorie der Schizophrenie anwenden? Entspricht die Vermischung des Individuellen mit dem Kollektiven im symbolischen Denken ähnlichen Vermischungen, also dem Verlust des abstrakten Deckens und Verhaltens im Konkreten bei Schizophren? Wieweit herrscht eine heterodynamische oder transformationsdynamische Verhaltensweisen bei Schizophren vor?  Wieweit misslingen Psychotherapien, weil nicht angemessene östliche Therapieform zum Beispiel Yoga verwendet werden oder wieweit, weil es nicht gelingt, einen Wandel von einem – möglicherweise nicht erkannten – Handeln durch Reaktion oder Handeln durch Angleichung an anderes Handeln zu Handeln durch Zulassen der Antriebe zu bewirken?

Franz Peschke
Schreck und Schrecken - Baden und die "Euthanasie"-Morde 1940

Dank an Sie, Herr Prof. Dr. Zimmermann und an Sie, Herr Dr. Stingl für die Ehre und die Möglichkeit, den Eröffnungsvortrag dieser Veranstaltung zu halten.

Ich möchte mich hier nur mit der „Euthanasie“ in Nordbaden im Jahre 1940 beschäftigen und zwar deshalb, weil das die Zeit ist, in der Grafeneck die zuständige Mordanstalt war und weil Nordbaden in dieser Zeit schon sehr stark in die „Euthanasie“-Aktion mit gravierenden Folgen einbezogen wurde. Und um Grafeneck geht es ja bei dieser Wanderausstellung.

Es soll sich hier nur über eine kurze Übersicht handeln, ohne neuere Erkenntnisse. Diese werden ja die anderen Vorträge dieser Veranstaltung bringen.

Also: Im Jahre 1940 war der Beginn der „Euthanasie“ genannten Mordaktion der Nazis. Ich benutze extra den Ausdruck Mordaktion und nicht den Ausdruck Tötungsaktion. Für diese Mordaktion gab es einen Zeitplan. So wurden als erstes Haar in München und der Südwesten Deutschlands in diese Aktion einbezogen und damit auch  das Land Baden. Andere Regionen und Länder wie z.B. Bremen und Schleswig Holstein erreichte die „Euthanasie“ von psychisch Kranken erst 1941.

Grafeneck war die allererste „Euthanasie“-Anstalt überhaupt. Im Jahre 1940 waren dann auch die „Euthanasie“-Anstalten Grafeneck, Brandenburg und Pirna-Sonnenstein in Betrieb.

In Baden gab es bei Kriegsbeginn am 1.9.1939 die Heil- und Pflegeanstalten Wiesloch, Illenau, Emmendingen und Reichenau, mehrere Kreispflegeanstalten und die Pflegeanstalt Rastatt.

Diese, die Pflegeanstalt Rastatt war 1934 gegründet worden. In sie waren chronisch kranke Langzeitpatienten aus den badischen Heil- und Pflegeanstalten verlagert worden und der Medizinalrat Arthur Schreck mit dem Spitznamen „Schreck der Heilanstalten“ leitete sie als absolute Sparanstalt.

Laut Aussage Schrecks vom Januar 1939 sollte die Pflegeanstalt Rastatt im Kriegsfall geräumt werden. Auch die Anstalt Wiesloch bekam am 13.3.1939 eine entsprechende Order für die „Räumung der Heil- und Pflegeanstalt Wiesloch im Mobilisierungsfall“.  Für Wiesloch kam der Räumungsbefehl am 4.9.1939, für Rastatt einen Tag später. Einen ähnlichen Befehl bekam auch Dr. Hans Römer in der Heil- und Pflegeanstalt Illenau. Alle Patienten der Pflegeanstalt Rastatt wurden am 5.9.1939 von Arthur Schreck in die württembergische Heil- und Pflegeanstalt Zwiefalten  verlegt, um sie später zu ermorden. Die Verlegungsaktion psychisch Kranker bekam den Namen „Verlegung aus planwirtschaftlichen Maßnahmen“.

Damit begann der Mord an psychisch Kranken, als „Verlegung von Anstaltsinsassen im Rahmen besonderer planwirtschaftlicher Maßnahmen“, ein merkwürdiger Ausdruck, denn er fasst das Platzschaffen in Anstalten für militärische Zwecke, die Ermordung psychisch Kranker und die damit mögliche Kostenreduktion in einem Wort zusammen. Der Schrecken des Krieges, die Mordaktion und der Schreck der Heilanstalten bildeten in Rastatt ein Einheit.

In Wiesloch wurde am 8.9.1939 ein Reservelazarett eingerichtet. Dazu wurden 100 Patienten in die hessische Anstalt Goddelau verlegt. Viele von ihnen wurden später in die Pflegeanstalt Rastatt in Zwiefalten verlegt, von wo aus auch sie in Grafeneck ermordet wurden.

Bei derartigen Verlegungen wurde oft der Ausdruck außerbadische“ Anstalt“ oder „Reichsanstalt“ benutzt.

In Wiesloch gingen vom 29.2.1940 bis zum 21.11.1940 elf Transporte nach Grafeneck mit mindestens 744 ermordeten Patienten. Schon am 24.8.1939 wurden von Wiesloch Kranke in die Illenau verlegt. Auch gab es Patientenverschiebungen mit den Kreispfleganstalten Weinheim, Sinsheim und Hub. Von Karlsruhe aus war der Ministerialrat Dr. Ludwig Sprauer für die Mord-Aktion zuständig.

Die Wieslocher Schwester Amalie Widmann, die vorher Sekretärin bei den Aufzeichnungen zum Zwecke der Sterilisationen war, wollte wissen, was in Grafeneck passierte. Alice Platen-Hallermund berichtete 1948:

„Eine Schwester der Heil- und Pflegeanstalt Wiesloch in Baden verfiel nach Abtransport ihrer Pfleglinge in eine tiefe Depression wegen der Ungewissheit über deren Schicksal. Sie wusste, dass sie nach Grafeneck kommen sollten und wollte sich vergewissern, was das für eine Heilanstalt sei, von der ihr niemand etwas sagen konnte.
Um zu diesem Ziel zu gelangen, nahm sie sich Urlaub und fuhr ohne Wissen ihrer Anstalt nach Münsingen, der Bahnstation von Grafeneck.
Als sie sich schließlich der Anstalt über die Felder näherte und an Tafeln vorbei kam (die vor dem Betreten des Sperrgeländes warnten), erschien die SS-Wachmannschaft, jagte sie und nahm sie fest.
Auf die Frage, was sie da zu suchen habe, fragte sie nach ihren Patienten, worauf ein SS-Mann lachend antwortete: „Die haben Grafeneck so gern, dass sie es nie wieder verlassen wollen.“

Nach Rücksprache mit Wiesloch wurde dann die Schwester verwarnt und kam in Wiesloch in einem Zustand völliger Verwirrung an, der sich erst nach längerer Zeit wieder legte.“

Während also Amalie Widmann wissen wollte, was in Grafeneck geschah, betonte der Wieslocher Direktor Wilheln Möckel, „er habe nicht wissen wollen, was in Grafeneck geschah“.

Arhur Schreck aber besichtete persönlich den Vergasungsbetrieb in Grafeneck. Er empörte sich dort aber nicht über die Morde, mit denen er ja einverstanden war, sondern regte sich über die Dürftigkeit der primitiven Verbrennungsöfen auf, die seinen Vorstellungen nicht entsprachen, da er ein gut eingerichtetes Krematorium erwartete.

Schreck löste dann die Pflegeanstalt Rastatt in Zwiefalten definitiv am 15.6.1940 auf, die Patienten wurden zuerst in die Heil- und Pflegeanstalt Reichenau verlegt und dann mit „unbestimmtem Ziel“ verlegt, das heißt in Grafeneck „euthanasiert“. Danach ging Schreck als stellvertretender Direktor an die altehrwürdige Heil- und Pflegeanstalt Illenau bei Achern, die mit der Verlegung von 300 Kranken nach Grafeneck von dem Kranken geleert war und am 3.7.1940 aufhörte als Anstalt für psychisch Kranke zu existieren.

Nach einem Zwischenaufenthalt in Berlin in der Zentrale der T4, der „Euthanasie“-Aktion finden wir Schreck als Stellvertreter des Direktors Möckel in der Anstalt Wiesloch. Hier tötete er auf der so genannten Kinderfachabteilung eigenhändig zwei oder drei Kinder.Die Anstalt Wiesloch war durchgehend Zwischenanstalt für „Euthanasie“-Transporte, auch nach der Schließung von Grafeneck. Statt Grafeneck war in Hadamar ein neues Mordzentrum entstanden. Im Laufe der weiteren Entwicklung wurde auch die Heil- und Pflegeanstalt Reichenau aufgelöst. Die Wieslocher Anstalt entging diesem Schicksal nur, weil die restlichen Patienten 1944/45 für die Aufrechterhaltung der Ökonomie benötigt wurden, da sich neben dem Reservelazarett noch viele ausgelagerte Mannheimer und Heidelberger Kliniken in Wiesloch befanden, Die restlichen überlebenden psychisch Kranken wurden also benötigt, um den ökonomischen Anstaltsbetrieb aufrecht zu halten.

Dieser Schrecken begann 1940. Das Jahr 1940 aber ist für Nordbaden deshalb so einschneidend, weil durch die euphemistisch so genannte „Verlegung aus planwirtschaftlichen Maßnahmen“, deren Bezeichnung eigentlich den Mord an vielen Tausenden psychisch Kranker meinte, gleich zwei Anstalten für psychisch Kranke (Rastatt und Illenau) im Jahre 1940 aufgelöst wurden, die Patiententransporte nach Grafeneck fast durchgängig die Fahrt in den Tod bedeuteten und ein eigentlich ansonsten unbedeutender Arzt, Dr. Arthur Schreck, bei diesem Schrecken in Baden eine gravierende Rolle spielte.

Franz Peschke
Displaced persons und heimatlose Ausländer des Zweiten Weltkriegs und durch das Ende des Ost-West-Konflikts entheimatete Ausländer - ein Vergleich

Referat auf dem Seminar MULTIKULTURELLER MAKROKOSMOS IN EINEM NATIONALSTAATLICHEN MIKROKOSMOS am 5.10.1993 innerhalb der 45. Gütersloher Fortbildungswoche „Aus leeren Kassen Kapital schlagen“

In diesem Referat will ich versuchen aufzuzeigen, daß die Ursachen für Migration nicht nur im Individuellen zu suchen sind, sondern daß Umwälzungen in der Weltpolitik dieses Jahrhunderts Migrationswellen ausgelöst haben. Um dieses darzustellen will ich zwei Migrationswellen vergleichen, die auf den ersten Blick unvergleichlich sind: die Displaced persons und heimatlosen Ausländer des Zweiten Weltkriegs und die von mir so genannten entheimateten Ausländer der Zeit nach dem Ende des Ost-West-Konflikts.

Es handelt sich also um keine Arbeit, in der es um Psychodynamiken geht, auch um keinen Erfahrungsbericht über die Arbeit mit Patienten. Vielmehr schließt dieser Aufsatz thematisch an das Migrationsseminar 1986 auf dem damaligen Gütersloher Kongress an. Damals habe ich unter Bezug auf meine Dissertation „Ausländische Patienten in Wiesloch 1939-1982. Schicksal und Geschichte der displaced persons und Heimatlosen Ausländer in der Heil- und Pflegeanstalt, dem Mental Hospital und dem Psychiatrischen Landeskrankenhaus Wiesloch“ eine Kasuistik über displaces persons vorgetragen, die in das von Antonio Morten herausgegebene Buch „“Hören Sie Stimmen?“ – „Ja, ich höre Sie sehr gut““ in Anlehnung an das Thema der damaligen Migrationsreihe eingegangen ist, weshalb übrigens das damals wie auch heute von Herrn Professor Dörner sehr unterstützte Seminar unter dem Namen „Antonios Stimmen-Kolloquium“ in die Migrationsgeschichte eingegangen ist. Auch dieses neue Seminar ist ohne die massive Unterstützung von Herrn Professor Dörner und Herrn Morten nicht entstanden, weshalb ich beiden an dieser Stelle meinen herzlichen Dank aussprechen möchte. Da ich 1986 einen kasuistischen Beitrag gebracht habe, möchte ich hier über die alte Kasuistik hinaus und nach dem Ende des Ost-West-Konflikts eine andere Ebene, eben die historisch-politische, beleuchten und daraus meine Folgerungen ziehen.

Was ist nun unter den Ausdrücken „displaced persons“ und „Heimatlose Ausländer“ zu verstehen? Dazu ist zu sagen, daß es keine eindeutige Definition des  Ausdrucks „displaced persons“ gibt. Denn die Definition hat im und nach dem Zweiten Weltkrieg mehrfach gewechselt. Allgemein und ungenau möchte ich sagen, daß displaced persons Menschen waren, die von einer Unterorganisation der Vereinten Nationen betreut worden sind, und zwar zuerst von der UNRRA (United Relief an Rehabilitation Administration) und nach 1946 von der IRO (International Refugee Organisation). Beide waren Flüchtlingsorganisationen der Vereinten Nationen und waren dafür zuständig, daß von den Deutschen im Zweiten Weltkrieg verschleppte oder kriegsgefangene Angehörige der Vereinten Nationen gesucht und repatriiert werden sollten. Dazu kamen Juden und nach Beginn des Ost-West-Konfliktes auch Flüchtlinge aus dem sowjetischen Machtbereich, weil inzwischen die Verbrechen der Sowjets an den (auch zwangsweise nach dem Jalta-Abkommen ) in die Sowjetunion Repatriierten bekannt geworden war und ihren Erzählungen über Zwangsarbeitslager und ihrer Angst vor Verfolgungsmaßnahmen Glauben geschenkt wurde.

Nach Gründung der Bundesrepublik Deutschland 1949 wurden die displaced persons, die zu diesem Zeitpunkt, zumeist als „hard core“, d.h., als nicht repatriierbare und nicht zu emigrierende Angehörige der IRO noch in der BRD geblieben waren, dem Machtbereich der BRD unterstellt und bekamen nun von Seiten der BRD  den Rechtsstatus eines „Heimatlosen Ausländers“. Heimatlose Ausländer in diesem Rechts-Sinn sind mit anderen Worten ehemalige displaced persons (DPs), die nach der Gründung der BRD hier geblieben sind und von der BRD  als Angehörige der Vereinten Nationen geschützt wurden. Sie haben einen internationalen Flüchtlingspaß ähnlich wie wie die Nansen-Flüchtlinge (z.B. Weißrussen und von der Türkei verfolgte Armenier) des Ersten Weltkriegs, die nach dem Zweiten Weltkrieg auch von der IRO übernommen wurden.

Dies also sind displaced persons und Heimatlose Ausländer. Im Gegensatz zu ihnen nenne ich „entheimatete Ausländer“ Menschen, die nach dem Zerbrechen der Sowjetunion und des Warschauer Paktes oder aus dem ebenfalls zerbrochenen Jugoslawien nach Deutschland  gekommen sind oder kommen. Es handelt sich also um eine Definition von mir. Ich meine also mit dieser Definition nicht Menschen, die auch ohne das Ende des Ost-West-Konfliktes von woanders, z.B. aus Amerika, Afrika, Asien oder Australien, kommen, sondern meine speziell Menschen aus der ehemaligen Sowjetunion und dem ehemaligen Jugoslawien.

Das ist besonders deshalb wichtig, weil ich denke, daß es für das Schicksal der displaced persons und Heimatlosen Ausländer und der entheimateten Ausländer meiner Definition gemeinsame entfernte Ursachen gibt, obwohl es sich von der Nähe betrachtet um zwei völlig verschiedene Gruppen handelt.

Denn mit Ausbruch des Ersten Weltkrieges in Sarajevo zerbrach die alte Staats- und  Weltordnung. Der Zweite Weltkrieg ist in einer Sicht eine Folge der nicht gelösten Probleme der Friedensordnung von Versailles und St. Germain nach dem Ersten Weltkrieg. Ähnlich ist auch die Entwicklung der Zeit nach dem Ende des Ost-West-Konflikts (für welche Phase es im übrigen noch keinen gängigen Begriff gibt) eine Folge der liegengebliebenen und eingefrorenen Probleme des Zweiten und indirekt auch des Ersten Weltkriegs. Dies läßt sich leicht erweisen. Ich gebe hier stellvertretend einige Beispiele für territoriale Entwicklungen, die noch aus der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg stammen und die bisher noch nicht abgeschlossen sind oder gerade abgeschlossen werden und die auf die Menschen ihre Wirkung im Sinne von Migration hatten, haben, und weiter haben werden, zum mindesten aber haben können.

  1. a) Die baltischen Staaten

Sie gehörten vor dem Ersten Weltkrieg zum russischen Reich, waren nach Gründung der Sowjetunion kurze Zeit selbständig, dann im Zweiten Weltkrieg Aufmarschgebiet der Deutschen und der Sowjets und wurden im Zweiten Weltkrieg kurzfristig, dann 1945 endgültig der Sowjetunion eingegliedert und erreichten  durch auch von ihnen betriebenen Zerfall der Sowjetunion nach dem mißlungenen Putsch gegen Gorbatschow die von ihnen lange geforderte Unabhängigkeit. Die Jahrzehnte, in denen sie zur Sowjetunion gehörten, sind aber nicht an ihnen vorbeigegangen. Sie haben jetzt anders als früher einen hohen Prozentsatz von Russen innerhalb ihres Staatsgebietes. Diese Russen (auch die Zivilrussen) gelten jetzt als Besatzer und sind nicht automatisch Staatsbürger der neuen Staaten. Sie werden bewußt ausgegrenzt und sind praktisch staatenlos. Dies birgt ein hohes Maß an Explosivstoff, weil Rußland praktisch Schutzmacht der baltischen Russen ist und leicht Unruhen entstehen können mit der Folge von Bürgerkrieg und Fluchtwellen auch in den Westen.

  1. b) Die Ukraine

Sie gehörte zum russischen Reich. Nach dem Ersten Weltkrieg gab es starke Unabhängigkeitsbewegungen. Polen nützte die Schwäche der neuentstandenen Sowjetunion aus und eroberte die Westukraine, die sogenannte polnische Ukraine. Das Erstarken der Sowjetunion machte die Unabhängigkeit der Ost-Ukraine zunichte. Ein Teil der Ukraine, die Karpathoukraine kam nach dem Ersten Weltkrieg zur neuentstandenen Tschecheslowakei. Der Wusch nach Unabhängigkeit blieb aber bestehen. Um ihre Unabhängigkeit von der Sowjetunion zu erreichen kämpften viele Ukrainer im Zweiten Weltkrieg auf deutscher Seite. Nach dem Sieg der Sowjetunion verleibte sich die UdSSR die ganze Ukraine mit Einschluß der Karpathoukraine und der polnischen Ukraine ein. Als Ersatz für den Verlust der polnischen Westukraine galt für Polen die Westverschiebung mit Entschädigung durch Ostdeutschland (Oberschlesien, westlicher Teil Ostpreußens). Erst durch die Verträge anläßlich der Vereinigung Deutschlands ist der Besitzstand Polens und damit indirekt des der Ukraine gesichert. Der andere Teil Ostpreußens bildet übrigens durch den Zerfall der Sowjetunion und die Unabhängigkeit der baltischen Staaten eine russische Exklave, um die sich besonders bei Erweiterung der Europäischen Union  nach Osten (Polen, evtl. baltische Sttaten) besonders bei Schwäche Rußlands mehrere Staaten streiten könnten. Nach dem Zerfall der Sowjetunion ist die Ukraine jetzt eine von Rußland unabhängige Atommacht, die immer zwischen dem Anschluß an Rußland und Unabhängigkeit hin- und herschwankt, die aber mit der starken russischen Minderheit in ihren Ostgebieten und der von Chruschtschow geschenkten eigentlich russischen Krim ein massives Konfliktpotential hat, das zum Krieg und Migrationswellen führen könnte.

  1. c) Jugoslawien

Als Folge des Endes der Habsburger Monarchie entstand auf einem Teil des Balkans der SHS-Staat, das Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen. Dieser Staat nannte sich später Jugoslawien („Südslawien“). Im Zweiten Weltkrieg marschierten die Deutschen ein, zerschlugen Jugoslawien und errichteten in Kroatien unter Pavelić einen faschistischen Staat, der in seinen Konzentrationslagern Hunderttausende Juden, Zigeuner und Serben umbrachte. Mit Hilfe der katholischen Kirche wurden viele Serben zwangsumgetauft. Zwei Unabhängigkeitsbewegungen, die des königlich-jugoslawischen Ministers Mihajlović und die des Kommunisten Josip Broz, genannt Tito, versuchten unabhängig und teilweise gegeneinander Jugoslawien von den Deutschen zu befreien. Da die Vereinten Nationen des Krieges in der zweiten Phase des Zweiten Weltkrieges sich von der in London regierenden Exilregierung ab und Tito zuwandten, siegte Tito. Jugoslawien entstand 1945 als sozialistischer Staat neu und konnte sich zwischen den Mächten als blockfreier Staat erhalten. Titos Tod und die noch von ihm zum Erhalt Jugoslawiens geschaffene Verfassung mit dem Rotationsprinzip schwächte Jugoslawien, und die neue Situation nach dem Zerbrechen der Sowjetunion ließ die innere Schwäche (nicht nur wirtschaftlicher Art) Jugoslawiens deutlich werden. Die kommunistische Partei Jugoslawiens bot keine  Klammer mehr und ähnlich wie die Deutschen im Zweiten Weltkrieg den Zerfall Jugoslawiens bewirkte, unterstützte jetzt der deutsche Außenminister Genscher in Zusammenarbeit mit Österreichs Außenminister Mock die Unabhängigkeitsbewegung Sloweniens, Kroatiens und Bosniens und half somit, daß der Staat Jugoslawien zerbarst  und daß, auch durch die verbrecherische Politik serbischer, bosnischer und kroatischer Politik, ein langer, leidvoller Bürgerkrieg entstand.

 

Ich habe diese drei Beispiele für territoriale Veränderungen in Europa, die immer noch indirekt Folge der Umgruppierungen nach dem Ersten und damit nach dem Zweiten Weltkrieg sind, so ausführlich beschrieben, um zu zeigen, daß die Entheimatungen in Europa in diesem Jahrhundert gemeinsame Ursachen  schon im Ersten Weltkrieg haben und daß sie fortdauern, weil die ständigen Grenzveränderungen und -korrekturen bis heute nicht abgeschlossen sind. Dadurch geraten immer wieder Menschen zwischen die Fronten und letztlich sind die „Heimatlosen Ausländer“ und „entheimateten Ausländer“ aus geschichtlich zusammenhängenden Gründen ohne Heimat oder werden noch ihre Heimat verlieren können.

Im weiteren Hintergrund spielt dabei auch das Zusammenspiel oder der Machtgegensatz zwischen Deutschland und Rußland (der Sowjetunion) eine wesentliche Rolle. Ich darf daran erinnern, daß das Deutsche Kaiserreich es war, das Lenin durchfahren ließ und so die Oktoberrevolution und Gründung der Sowjetunion mitbestimmte. Das Zusammenspiel Deutschlands und der Sowjetunion im Ribbentrop-Molotow-Abkommen entschied über das Schicksal Polens und der baltischen Staaten. Solange nach dem Zweiten Weltkrieg die Sowjetunion stark war, war Deutschland geteilt und damit geschwächt. Zuletzt nun hat das Zusammenspiel von Gorbatschow und Kohl Deutschland als Großdeutschland bei Schwäche der Sowjetunion wieder neu entstehen lassen. Folge davon war unter anderem, daß die neue Bundesrepublik unter Führung ihres Außenministers Genscher  (in Zusammenarbeit mit Österreichs Außenminister Mock) ihre Großmachtpolitik in Jugoslawien spielen lassen konnte und maßgeblich daran beteiligt war, daß nach dem in Habsburg sehr bekannten Spruch divide et impera = teile und herrsche erneut wie schon einmal im Zweiten Weltkrieg das im Zusammenspiel mit alten Ustascha-Kreisen entstandene Kroatien als sogenannter demokratischer, in Wirklichkeit aber autoritärer Staat unabhängig wurde. Auch bei der weiteren Entwicklung im „Friedensprozess“ in Jugoslawien mischt Deutschland, teilweise in Zusammenarbeit mit Rußland, kräftig mit.

Sprachlich ist dabei interessant, daß Serbien und Montenegro, das sich jetzt weiter Jugoslawien nennt, von deutscher und österreichischer Seite Rest-Jugoslawien genannt wird, wie das Großdeutsche Reich von der Rest-Tschechei sprach.

In diesem Zusammenhang ist daran zu erinnern, daß schon einmal die erst als Folge des Ersten Weltkrieges entstandene Tschecheslowakei zerteilt war und die Slowakei ähnlich wie Kroatien ein von den Deutschen abhängiger, vom Gesamtstaat Tschecheslowakei (den es als Folge des Münchner Vertrages nicht mehr gab) unabhängiger Staat war. Heute hat sich die Tschecheslowakei selbst aufgelöst. Das Volk wurde aber (ähnlich wie bei der Grundgesetzdebatte bei der deutschen Einigung) nicht gefragt, die Entscheidung zur Auflösung der Tschecheslowakei ging über die Köpfe der Bevölkerung hinweg und erfolgte ganz autoritär. Die Slowakei bezieht sich dabei auf den von den Deutschen bei der ersten Teilung eingesetzten Faschisten Tiso.

Wie oben gesagt, spielt bei dieser Entwicklung der Machtgegensatz oder das Zusammenspiel Deutschland-Rußland eine große Rolle. Dieser drückt sich auch in der Form Faschismus-Bolschewismus, also ideologisch aus.Die in Europa lebenden Menschen geraten in diesen Machtgegensatz und werden darin zerbröselt.

Wie schon gesagt, gab es nach dem Ersten Weltkrieg die sogenannten Nansen-Flüchtlinge. Ein großer Teil von ihnen bestand aus Altemigranten aus Rußland, die auf der Seite der „Weißen“ gegen die „Roten“ gekämpft hatten und nie Bürger der entstehenden Sowjetunion gewesen waren. Sie hatten verloren und sich in die Emigration begeben. Ein Teil von ihnen wie auch z.B. Letten und Ukrainer kämpfte im Zweiten Weltkrieg auf deutscher Seite gegen die Sowjetunion. Obwohl eigentlich die weißen Altemigranten aus Rußland als Nansen-Flüchtlinge nicht unter das Jalta-Abkommen, das die Zwangsrepatriierung von Sowjetbürgern vorsah, fielen, wurden viele von ihnen nach 1945 zwangsweise repatriiert. Umgekehrt galten Ukrainer und Balten, die im Zweiten Weltkrieg auf deutscher Seite gegen die Sowjetunion und damit gegen ein Land der Vereinten Nationen des Krieges gekämpft hatten, als Quislinge, als Verräter und sie wurden deshalb nicht von der UNRRA/IRO betreut.

Der gemeinsame Kampf gegen das faschistische Deutschland hatte die Vereinten Nationen des Krieges zusammengehalten. Beim Ende des Krieges schlossen die Briten, Amerikaner und Sowjets das geheime Zusatzabkommen zum Jaltaabkommen, in dem bestimmt wurde, daß alle Sowjetbürger, ob Ostarbeiter oder Kriegsgefangene, gegen ihren Willen in die Sowjetunion gebracht werden sollten. Man kann hier sehr gut erkennen, wie leicht aufgrund einer Ideologie („Waffenbrüderschaft“) Menschenrechte verletzt worden sind, unter besonderer Federführung der Briten.

Als zunehmend ab etwa 1946 der Bolschewismus als Gefahr gesehen wurde und mehr bekannt war über Stalins Verbrechen, wurden die Zwangsrepatriierungen gestoppt und folgerichtig wurden jetzt auch Menschen, die nach Ende des Krieges aus dem Sowjetbereich geflohen waren, von der IRO als displaced persons betrachtet.

Eine wesentliche Rolle dabei  spielte die Anerkennung der Tatsache, daß man jetzt den sowjetischen DPs glaubte, daß die Sowjetunion ähnlich wie das Deutsche Reich ein Zwangsstaat war und daß sie – ähnlich wie Millionen anderer – nach der Rückkehr in den Ostblock schwere Repressalien bis zum Tode zu erwarten hatten.

Auch die „entheimateten Ausländer“ heute werden so zerbröselt. Das wird bei den Jugoslawen am deutlichsten. Diese von mir eingenommene Betrachtungsweise zeigt zugleich (cum grano salis), welche Gruppen ich mit den Ausdrücken „heimatlose Ausländer“ und „entheimatete Ausländer“ meine.

Displaced persons und heimatlose Ausländer sind von den Deutschen verschleppte Zwangsarbeiter, Kriegsgefangene aller Nationen der gegen die Deutschen kämpfenden Vereinten Nationen, Juden, und  Flüchtlinge der unmittelbaren Nachkriegszeit, die aus dem entstehenden Ostblock stammten, nur Deutsche zählten nicht dazu. Andere Bürger aus Ländern der Vereinten Nationen, die auf Seite der Deutschen gegen ihre Heimat (z.B. Ukrainer gegen die Sowjets) gekämpft hatten, galten als Verräter und bekamen deshalb (vorerst) nicht den Status eines DPs. Dazu kamen noch die sog. Nansen-Flüchtlinge.

Heute „entheimatete Ausländer“ sind Flüchtlinge z.B. aus dem Bereich der ehemaligen Sowjetunion, aus Georgien, Armenien usw., alle, die aufgrund von Konflikten und Kriegen dort fliehen, eine Entwicklung, die lange noch nicht zu Ende ist und vor der sich der Westen mit Asylgesetzen zu schützen versucht. Dazu gehören auch Flüchtlinge aus dem ehemaligen Jugoslawien. Man kann direkt beobachten und fast voraussagen, woher die neu entheimateten Ausländer noch kommen werden. Alle haben mit den heimatlosen Ausländern ein Problem, nämlich den Verlust ihrer Heimat, gemeinsam. Übrigens war die erste nach den KSZE-Bedingungen eigentlich nicht erlaubte Grenzänderung die zwischen den beiden deutschen Staaten anläßlich deren Vereinigung. Seitdem ändern sich überall in Europa die Grenzen, in der ehemaligen Sowjetunion, in Jugoslawien und der ehemaligen Tschecheslowakei.

Wie im Zweiten Weltkrieg sind jetzt Vertreibungen, Verfolgungen, ethnische Säuberungen, Trennungen von Familien, Entwurzelungen und Mißtrauen an der Tagesordnung. es gibt wieder Haft, Lagerleben und Hoffnungslosigkeit. Propaganda verunsichert wieder die Menschen. Auch tritt eine Lockerung der Loyalität zum Staat ein. Ein Russe in Litauen ist jetzt nicht mehr russischer oder Sowjetbürger, aber auch nicht gleichberechtigter Bürger Litauens. Ähnlich bekommt ein bosnischer Serbe, der vor dem Krieg in seiner Heimat nach Deutschland flieht, kein Asyl, weil bei abgelaufenem Paß seine Feinde, die bosnischen Moslems ihn verlängern müßten.

Was für einen ein erstrebenswertes Ziel ist, nämlich die Unabhängigkeit (der Ukraine, Kroatiens, Bosniens), ist für den anderen ein Unglück. Familien werden zerrissen, die früher über die Nationalitäten oder Religionen  hinweg geschlossen worden sind. Jeweils die anderen sind die Verräter. Oder ein einzelner kann gleich mehrfach zum Verräter werden: an seinem Volk, an seinem alten, an seinem neuen Land, als Kriegsteilnehmer, aber auch als Flüchtling.

Dies alles zusammen mit der Gewaltbereitschaft, die man z.B. in Bosnien und Georgien sehen kann, führt dazu, daß ähnliche psychische Reaktionen wie bei den  DPs und heimatlosen Ausländern entstehen können, besonders dann, wenn die Angst und Hoffnungslosigkeit kaskadenartig ein hohes Maß erreichen können. Dies ist z.B. der Fall, wenn die Betroffenen mehrfach zwischen die Fronten geraten, ihre Familien zerrissen werden, sie nicht mehr wissen, wem sie aufgrund der Propaganda trauen können, ihre Loyalität zum Staat zerbrochen ist, und sie jetzt aus allen sozialen Bindungen herausgerissen ohne Hoffnung auf baldige oder überhaupt auf Rückkehr im Lager dahinvegetieren oder arbeitslos in Slums wohnen. Die psychischen Verletzungen gehen tief und schwer paranoide, depressive oder suicidale Entwicklungen sind häufig.

Aus all dem vorher Genannten ist zu erkennen, daß europäische Migrationswellen in diesem Jahrhundert eine gemeinsame Ursache haben, nämlich die Umwälzung der politisch-ökonomischen Ordnung Europas als Folge der Entwicklung seit dem Ersten Weltkrieg, in der es letztlich in dem Macht-Ränke-Spiel um die Machtverteilung in Europa geht und um den Gegensatz oder das Zusammenspiel von Deutschland oder Rußland bzw. der Sowjetunion. Das je nach der Stärke oder der Schwäche der beiden Partner. Um die Wirkung dieses Machtgegensatzes auf die unter ihm leidenden Menschen aufzuzeigen eignen sich besonders die heimatlosen und die entheimateten Ausländer als stellvertretenden Gruppen für alle darunter Leidenden.

Und deshalb kann meine Untersuchung die Sinne schärfen für alle weiteren Migrationswellen, die wir als Folge der noch nicht abgeschlossenen Machtverschiebungen nach dem Ersten Weltkrieg noch erwarten dürfen.

Franz Peschke
Relevanz oder Irrelevanz der Frage: Ist die erzwungene Migration eine Frage für die soziale Psychatrie?!

Kurzreferat der Veranstaltungsreihe Migration/Multikulturelle Gesellschaft im Rahmen des XIV. Weltkongresses für Soziale Psychiatrie in Hamburg vom O5. bis 10. Juni 1994 am Montag, dem O6. Juni 1994 unter dem Generalthema: Erzwungene Migration – Heimat-, Beziehungs- und Sprachlosigkeit – eine Frage für die Soziale Psychiatrie und unter dem generellen Kongreßthema:

Farewell to Babylon – Abschied von Babylon

Fünfzig Jahre nach dem D-Day, dem Einmarsch der Alliierten in der Normandie, der mitentscheidend dafür war, daß die Gewaltherrschaft Hitlers und des Dritten Reiches besiegt werden konnte, und nur kurze Zeit vor dem Abschied der alliierten Truppen in Berlin möchte ich im Rahmen der Migrationsreihe die Frage erörtern, ob die erzwungene Migration für die Sozialpsychiatrie relevant ist oder nicht.

Diese Frage ist merkwürdig. In ihr ist nämlich ein Mißtrauen spürbar, ich meine das Mißtrauen, ob diese Frage vielleicht von der Sozialpsychiatrie noch nicht genügend beachtet wird.

Sie müßte aber beachtet werden. Denn in diesem Jahrhundert sind infolge der Machtverschiebungen nach dem Zusammenbruch der alten Ordnung im Ersten und Zweiten Weltkrieg, der Entkolonisierung und dem Ende des Ost-Westkonflikts mit nachfolgenden Kriegen, z.B. in Jugoslawien, Millionen und Abermillionen von Menschen entwurzelt worden.

Möglicherweise unter dem Eindruck der Folgen des Ersten Weltkriegs schrieb Emil Kraepelin im Jahre 1921: „Die Entwurzelungsfrage gestattet gemeinsam mit anderen Problemen einen flüchtigen Ausblick in die Zukunft einer Wissenschaft, die wir heute nur erahnen können – Sozialpsychiatrie.“

[i]Kraepelin sah also den Zusammenhang von Entwurzelung und Sozialpsychiatrie. Er konnte aber wohl nicht im entferntesten ahnen, in welchem Ausmaß sich  die Entwurzelung durch Gewalt in der Zeit nach diesem Zitat noch steigern würde – bis hin zum  Massenmord an Millionen von Juden und den zig-Millionen getöteter Russen und Angehöriger anderer Nationen durch den von den Deutschen ausgelösten Zweiten Weltkrieg. Auch konnte Kraepelin natürlich nichts von den späteren Vertreibungen ganzer Völker und Tötung von auch Millionen Menschen durch Stalin seit den Dreißiger Jahren wissen.

Aber 24 Jahre nach dem Zitat Kraepelins, am Ende des Zweiten Weltkriegs waren durch die Schuld Hitlers nicht nur Millionen Menschen ermordet und gefallen, es waren auch ganze Städte und Landstriche in Europa und Außer-Europa verwüstet, das Deutsche Reich war besiegt und geteilt und Millionen Deutsche flohen aus den deutschen Ostgebieten, die jetzt unter sowjetische und polnische Verwaltung kamen, oder wurden nach dem Endes des Weltkrieges vertrieben.

Die deutschen Flüchtlinge und Vertriebenen eignen sich gut als Beispielsgruppe, um die Frage zu erörtern, ob es relevant oder irrelevant ist, die erzwungene Migration als eine Frage für die soziale Psychiatrie ernstzunehmen.

Ich werde jetzt einige Tabellen zeigen, die dem großen Bildatlas zur Weltgeschichte und dem Putzger-Schulatlas zur Geschichte  entnommen sind.

Die erste Tabelle [ii] zeigt durch Pfeile  die Bevölkerungsverschiebungen in Europa von 1919 bis 1975, die durch Flüchtlinge und Abwanderer verursacht sind. Die auf dieser Karte in Bereich des ehemaligen Deutschen Reiches gezeichneten Pfeile zeigen die deutschen Vertriebenen und Flüchtlinge, sie geben aber nur ein sehr ungenügendes Bild von der durch den Zweiten Weltkrieg ausgelösten Entwurzelung der Deutschen.

Sehen wir uns jetzt ein Bild von den Bevölkerungsverlusten durch Tod von Zivilpersonen und Soldaten im Zweiten Weltkrieg an.[iii]  Hier wird das Bild schon realistischer. Wie man unschwer erkennen kann, hat Deutschland Europa mit Millionen von Toten übersät, und hat selbst Millionen von Toten sowohl unter den Soldaten als auch unter den Zivilisten zu beklagen.

Die realen Personenverluste durch den Tod geliebter Menschen wirkten sich stark psychisch traumatisierend auf die Hinterbliebenen aus,  aber auch der zeitweilige Verlust der Väter, die an der Front waren, die Angst um sie, und Vermißtenschicksale wirkten langfristig traumatisch. Das traf besonders zu, wenn z. B. die Witwen aufgrund der Umstände keine Trauerreaktionen haben durften und bei Kindern, wenn sie als Kinder dieser vermißten oder getöteten Soldaten noch Kinder Kleinkinder, im Vorschulalter oder noch so jung waren, daß sie noch vor dem  Ödipalalter waren, in dem sie sich hätten mit ihren Vätern identifizieren müssen. Dazu kamen in der Endphase des Krieges noch die Erlebnisse bei den Bombardierungen und die Flucht und nachfolgende Vertreibung von Millionen Deutscher hinzu.

Die nächste Tabelle [iv] kann deutlich machen, wie brisant dieses Problem der Flüchtlinge und Vertriebenen war. Jeder schwarze Strich bedeutet 500.000 Flüchtlinge und Vertriebene. Das Gebiet der späteren BRD und DDR ist davon übersät. Bis 1950 kamen so aus den Ostgebieten des Deutschen Reiches in den Grenzen von 1937 rund acht Millionen Menschen und von Gebieten außerhalb der Reichsgrenzen zwischen fünf und sechs Millionen, zusammen fast 14 Millionen Menschen durch Flucht oder Vertreibung in den Westen,wobei aber über zwei Millionen von ihnen das Gebiet Restdeutschlands nicht erreichten. Im Norden Westdeutschlands siedelten sich vorwiegend Ostpreußen, im Süden Sudetendeutsche an. Da die späteren westdeutschen Bundesländer sehr unterschiedlich viele Flüchtlinge aufgenommen hatten, mußten zum Ausgleich  im Gebiet der alten BRD 1949-1965 Umsiedelungsaktionen stattfinden. Der Bundesdurchschnitt an Flüchtlingen  lag bei 5,5, der der Vertriebenen bei 15,9, gesamt also bei 21,4 Prozent, der der Vertriebenen im Durchschnitt der DDR bei 22,4 Prozent. [v] Das sind hohe Prozentzahlen. Auf vier ursprünglich im Gebiet der jetzigen BRD (alte BRD und DDR) lebende Deutsche kam circa ein Flüchtling.

Man müßte deshalb eigentlich erwarten, daß  die Psychiatrie, die Psychotherapie und Sozialpsychiatrie aufmerksam sind für das Problem der durch Krieg und Vertreibung ausgelösten gewaltsamen Migration. Es scheint aber, daß die wirtschaftliche Integration der deutschen Flüchtlinge und Vertriebenen den Blick dafür trübte, warum  diese gewaltige Integrationsleistung nötig geworden war. Es gibt da offensichtlich ein Tabu etwa mit folgendem Wortlaut: Wir haben die Integration so toll vollbracht, rühren wir nur nicht an den schmerzlichen Ursachen, beschäftigen wir uns nicht mit der Geschichte und fragen wir nicht danach, was gewaltsame Migration bei Deutschen bedeutet. Das ist unfein und bringt uns in den schlechten Ruf, mit den radikalen Sudetendeutschen und anderen Landsmannschaften zu sympathisieren. Außerdem ist das Nabelschau, Beschäftigen mit deutschen Problemen.

Nabelschau und das Sympathisieren mit Radikalen, welcher Couleur sie auch sind und von wo auch immer sie kommen, ist wirklich gefährlich und muß deshalb  vermieden werden. Aber weil wir Deutschen – geschichtlich betrachtet – als Täter und Opfer (auch als Opfer der deutschen Täter) die Folgen der Gewaltherrschaft der Nazis und jetzt auch der Stasis in uns tragen, müssen wir uns auch in der Sozialpsychiatrie damit auseinandersetzen. Wir können das aber nur tun, indem wir nicht den Blick einengen, sondern indem wir in der Psychiatrie und Sozialpsychiatrie geschichtlich denken lernen, das heißt auch über größere Zeiträume und in größeren Zusammenhängen. Das bedeutet auch, den sozialpsychiatrischen Blick für die Ätiologie von psychischen Krankheiten auf gewaltsame, erzwungene Migrationen und dahinter stehende historisch-politische und wirtschaftliche Faktoren zu lenken. Und das auch dann, wenn man der Ansicht ist, daß die Art der ätiologischen Faktoren unwichtig ist, da sämtliche auch unspezifische Trennungserlebnisse psychische Krankheiten auslösen können.

Denn die menschliche Geschichte ist oft die Geschichte erzwungener Migrationen. Nicht immer sind Menschen daran Schuld. Denn z.B.  mußte möglicherweise  schon die Gattung homo sapiens ihr Siedlungsgebiet im den Savannen Ostafrikas gezwungenermaßen verlassen, um dem Biß der Tsetsefliege zu entgehen. Solange Historie nachweisbar ist, begleiten Kriege und durch Kriege ausgelöste Vertreibungen und Versklavungen  die Menschheit. Vielleicht können psychisch stabile Erwachsene auch schlimme Situationen bewältigen. Wenn aber der äußere Druck zu groß ist oder aufgrund frühkindlicher psychischer Schäden die psychische Ich-Struktur zu schwach, entwickeln sich als Folge erzwungener Migration psychische Störungen.

Ich habe  bei  Psychotherapien meiner Patienten sehr oft bemerken müssen, daß neben frühkindlichen Personenverlusten der nichtaufgearbeitete erzwungene Heimatverlust bei Flucht oder Vertreibung eine Rolle spielte. Da über die damit im Zusammenhang stehenden Gefühle nicht gesprochen werden durfte, entstand eine Sprachlosigkeit wie bei Störungen in der präverbalen Phase der Entwicklung. Zugleich gab es massive Beziehungsstörungen, die abgewehrt werden mußten. Familien, in denen die Großmutter z.B. fliehen mußte, waren oft derart verbogen, daß das Enkelkind sich nie aus dem Familienverband lösen konnte.

Das kommt häufig vor. Die Sozialpsychiatrie hat bei der Beschäftigung mit den deutschen  Flüchtlingen und Vertriebenen die Möglichkeit, beispielhaft für erzwungene Migrationen überhaupt Erfahrungen zu machen und Prophylaxen vorzuschlagen. Daher ist die Frage, ob die erzwungene Migration eine Frage für die soziale Psychiatrie ist, absolut praktisch und zukunftsweisend. Sie ist deshalb praktisch, weil man am Beispiel der deutschen Flüchtlinge und Vertriebenen zeigen kann, daß trotz wirtschaftlicher Integration die Seele leidet, was aber oft übersehen wird wegen der damit einhergehenden Sprachlosigkeit und der gut funktionierenden Anpassungsfassade. Damit wird auch deutlich, daß die erzwungene Migration die deutsche soziale Psychiatrie etwas angeht und für sie hochrelevant ist. Sie muß aber aus dem vorhin aufgezeigten Tabu erst herauskommen.

Um Kraepelin abzuwandeln, gestattet dann die aus der freiwilligen und erzwungenen Migration folgende Entwurzelungsfrage, die von der Sozialpsychiatrie und Psychotherapie gemeinsam zur Sprache gebracht wird, mit anderen Problemen einen flüchtigen Ausblick in die Zukunft einer Wissenschaft, die wir heute nur erahnen können – eine die Geschichte einbeziehende und auf den individuellen Menschen bezogene Migrationspsychiatrie.

[i]. zitiert nach Antonio Morten: Begrüßungsansprache bei der Fachtagung der Arbeiterwohlfahrt und der DGSP vom 1. – 3.11.1985 in Bonn “Migration und psychische Gesundheit. Zur psychosozialen Lage von Migranten in der Bundesrepublik Deutschland“, aus About Uprootimg von E. Kraepelin, übernommen aus „Uprooting and related enonema, a descriptive bibliography by Charles Zwingmann, WHO-Dokument und sinngemäße Übersetzung

[ii]. Christian Zentner: Der große Bildatlas zur Weltgeschichte, List-Verlag, München 1982, S. 526-527

[iii]. F. W. Putzger: Historischer Weltaltlas, Jubiläumsausgabe, 92. Auflage, Berlin und Bielefeld 1970, S. 145

[iv].vgl. Putzger: a.a.O. S. 146

[v].vgl. Christian Zentner: a.a.O. kleine Tafel S. 526

Franz Peschke
Möglichkeiten aktiver und passiver Lebensgestaltung am Beispiel der Migration

Vortrag beim migrationspsychiatrischen Seminar „In der Fremde und mit Fremden laufen lernen“ innerhalb der 47. Gütersloher Fortbildungswoche „Das Krankenhaus lernt laufen“ am 28.9.1995

Meine Damen und Herren,

Migration ist für Menschen etwas ganz Natürliches. Schon unser ausgestorbener Vorfahr, der homo erectus, besiedelte vor einer Million Jahr von Afrika aus ganz Eurasien. Der homo sapiens begann vor etwa 60.000 Jahren ebenfalls von Afrika aus die Eroberung der Kontinente. Sehr lange vermehrten sich die Menschen der Gattung homo sapiens langsam, aber stetig. Ausgelöst durch die moderne wirtschaftliche Revolution seit 1760 wurden die Menschen in kurzer Zeit so zahlreich, daß für die Milliarden Menschen die Erde heute bald zu klein ist.

Sehr wahrscheinlich waren klimatische Veränderungen in Ostafrika, die eine zunehmende Versteppung brachten, ursächlich dafür, daß unsere Vorfahren vor 60.000 Jahren auf Wanderung gingen.

Schon hier kann man einen, von Soziologen und Sozialhistorikern beschriebenen Grund für Migration sehen: klimatische Veränderungen. Als andere Gründe für heutige Migrationswellen werden folgende Faktoren angegeben: Überbevölkerung, Arbeitslosigkeit, politische Verfolgung, innerfamiliäre Schwierigkeiten, besseres Lohnniveau und bessere Ausbildungsmöglichkeiten mit Chancen des sozialen Aufstiegs im neuen Land, bessere ärztliche Versorgung und sogenannte pathologische Fluchtversuche bei präpsychotischen Menschen.

Meistens werden diese Faktoren aufgezählt, ohne sie im Zusammenhang mit einer historischen Situation zu sehen. Sie werden also von der konkreten Situation isoliert. Es ist richtig, unsere Vorfahren in Ost-Afrika wollten wahrscheinlich dem durch die klimatischen Veränderungen möglichen Hungertod entgehen. Ihre Migration dürfte damit keine primär freiwillige gewesen sein. Äußere Bedingungen, die schicksalhaft waren und auch so erlebt werden mußten, waren der Auslöser für die Ur-Migration unserer Vorfahren. Es zeigt sich darin aber zugleich die Intelligenz dieser Menschen. Denn sie nutzten die Migration dazu, aus einer für sie evtl. tödlichen ökologischen Nische herauszukommen und das Überleben der Gene und der Art zu sichern. Migration hatte also einen positiven Sinn. Daß die Migration als Strategie, die Gene zu sichern, erfolgreich war, kann man an der heute bedrohlichen Überbevölkerung erkennen, die z.B. China dazu zwingt, mit Strafandrohung Ein-Kind-Familien durchzusetzen. Die heutige Überbevölkerung zeigt aber zugleich, daß jetzt eine Grenze für diese erfolgreiche Art, die Gene zu vermehren, erreicht ist.

Unsere Vorfahren lebten  sehr lange Zeit in Horden oder kleinen Stämmen, also in kleinen Gruppen, die ihnen nach außen hin Geborgenheit gaben. In diesen Gruppen als  Verwandtengruppe trugen die Hordennmitglieder das eigene Erbut weiter, das sich von anderen Horden zunehmend unterschied, aber zugleich das gemeinsame Erbe vom Beginn der Menschheit beinhaltete. Die verschiedenen Horden oder Stämme nannten sich daher oft zu Recht einfach „Menschen“, weil sie sich unbewußt als Teil der Urmigraten erlebten, die „die Menschen“, d. h. die ersten Menschen waren. Zu dieser Zeit gab es keine Individualmigration. Wenn ein einzelner Mensch sich vom Stamm isolierte, war er unrettbar verloren. Initianden solcher Ur-Horden müssen sich deshalb oft z.B. im Walde oder einer einsamen Hütte isolieren, um die durch die Isolierung ausgelösten Ängste als Halluzinationen oder Wahnideen erleben zu können. Das hat zugleich den positiven Sinn, dadurch die Geborgenheit in Horde oder Stamm deutlicher zu spüren. Der einzelne war ganz auf die Gruppe angewiesen und mußte dies auch wissen.

Mit der neolithischen Revolution, dem Ackerbau und der neu erfundenen Stadtkultur gab es einen qualitativen Sprung, um marxistisch zu argumentieren. Denn jetzt wurden Menschen im Iran/Irak, Syrien und anderen Teilen des Nahen Ostens zum ersten mal für längere Zeit seßhaft. Die Stadtkultur wurde durch Migrationswellen von Nomadenvölkern ausgelöst und unterhalten. Durch sie wurde zuerst in diesem Bereich der Erde die alte Horden- und Stammeskultur relativiert, genichtet und aufgelöst. Historiker nennen diese neue mit dem Schriftwesen einhergehende städtische und staatliche Lebensform eine Hochkultur.

Man könnte mit Recht sagen, daß in diesem historisch bedeutsamen Zeitpunkt die Stämme, welche die neue Stadt-Kultur aufbauten, für alle anderen Menschen geschichtswirksam waren. Ihre Entscheidung, statt weiter zu wandern, seßhaft zu werden, zog nach und nach alle anderen Menschen in diese gleiche Richtung. Der weitere Geschichtslauf war damit festgelegt. Sie nutzten ihre Chance, sich durch Bau von Bewässerungsanlagen, durch Feldbau und Viehwirtschaft und durch eine streng gefügte, autoritäre Ordnung das Leben angenehmer zu machen und Macht auszuüben, allerdings unter Verlust ihrer Beweglichkeit. Auch für diese historische Entscheidung vermutet man klimatische oder ökonomische Ereignisse als Auslöser.

Geschichtsbücher, die bis vor kurzem die Vorgeschichte und damit die Millionen Jahre alte Migration der Menschen unterdrückten, zeigten ein Bild, bei dem die neue Stadt- und Hoch- Kultur als regelhaft und Seßhaftigkeit als das Normale betrachtet wurde. Dadurch konnte die Migration als irregulär und fehlerhaft dargestellt werden. Das geht auch meist in die migrationspsychiatrische Diskussion so mit ein. Dazu kommt, daß wir heute Migration meist als ein Individualgeschehen auffassen, das nur schwer zu bewältigen ist. Das zeigen die sozialpsychiatrischen Theorien dazu. Wer migriert, tut es deshalb, weil er einem Elend (z.B. Hunger, Verfolgung usw.) entfliehen will. Oder er geht in die Fremde, ist dort isoliert und erleidet durch sozio-kulturelle Streßfaktoren wie Klimawechsel, Ernährungsumstellung, Wohnortwechsel und mangelnde Sprachkenntnisse einen „Kulturschock“, der psychisch krank macht, die Migranten also ins Elend stürzt. Ich möchte darauf hinweisen, daß das deutsche Wort Elend vom Wort eli lenti, einem Lokativ; abstammt. Dieses Wort eli lenti bedeutet nichts anderes als im anderen Land, es war  also ganz neutral gemeint und hat erst später eine Pejorisierung, eine Verschlechterung der Wortbedeutung  zum heutigen Wort Elend hin erfahren.

Eli lenti, im anderen Land. Wenn wir uns diese Bedeutung ansehen, wird deutlich, daß dieses Wort den historischen Abstand anzeigt, den die Schöpfer dieses Wortes von ihren migrierenden Vorfahren vor 60.000 Jahren trennt. Diese Vorfahren hätten von in einer anderen Horde oder einem anderen Stamm sprechen müssen. Zu bedenken ist aber, daß lenti nicht den modernen Staat meint.

Die soziokulturelle Betrachtungsweise legt also nahe, daß der äußere Druck durch Krieg, Hunger, Vertreibung und ähnliches so groß ist, daß eine Migration unausweichlich wird. Das mag in vielen Fällen stimmen. Es ist aber sehr viel wahrscheinlicher, daß die körperlich Gefestigteren und die, welche entscheidungsfähig sind und damit eine gewisse psychische Stabilität haben, eher migrieren als die, welche  präpsychotisch sind. Denn, um die genannten Faktoren „Hunger, Krieg“ usw. richtig einschätzen zu können und rechtzeitig zu fliehen, ist eine gewisse Realitätssicht nötig.

Man muß sich aber wundern, daß manche Menschen trotz Gefahr nicht fliehen oder fortziehen. Ich habe vor kurzem eine Fernsehsendung gesehen, in der Menschen und ihre neu erbauten Häuser am Fuß von Vulkanen zu sehen waren. Einige der gezeigten Vulkane waren erst vor kurzem ausgebrochen und noch voll aktiv. Trotzdem bauten die Menschen wegen des guten Bodens am Boden der Vulkane ihre Häuser und bestellten ihre Felder und lachten, als sie gefragt wurden, ob sie nicht rechtzeitig dem drohenden Unheil entfliehen wollten. Und das auch, als ihnen Bilder der Toten von Pompeji und Herculaneum gezeigt wurden.

Man muß also mit dem Beharrungsvermögen der Menschen rechnen. Nur Vorsorgliche ziehen rechtzeitig fort. Es ist wie mit dem Brüderpaar Prometheus und Epimetheus. Prometheus bringt den Menschen das Feuer und damit die Kultur. Er weiß, er wird dafür von Zeus bestraft werden, plant das sogar ein, weil er weiß, er wird gerettet. Er denkt voraus. Epimetheus aber nimmt als Geschenk die Pandorabüchse an. Er öffnet sie, ohne vorher zu fragen, was drin ist. Heraus kommen Eifersucht, Angst, Wut usw. Erschrocken macht er den Deckel wieder zu und läßt Liebe, Freude, Zuversicht usw. in der Büchse. Er dachte erst, als das Unheil da war.

Wenn aber erst eine Situation da ist, in der eine Ausweichen nicht mehr möglich ist, gelingt oft die Flucht oder Migration nicht mehr. Das betrifft alle, die ein Ereignis wegen seines Überraschungseffektes nicht rechtzeitig orten konnten. Eine aktive Lebensgestaltung ist hier nicht mehr möglich. Man versteinert wie die Menschen in Pompeji.

Heute denkt man, wenn man an Migration denkt, an die einzelnen Menschen, die migrieren. Auch diese Individualmigration ist aber eigentlich eine Migration von meist vielen Individuen aus ähnlichen Begründungen. Jeder flieht z.B. bei Krieg für sich, gehört aber doch zur größeren Gruppe des Volkes, aus dem er stammt. Daß Migration ein Gruppengeschehnis ist, wird besonders deutlich an den Millionen von dispaced persons, die im Krieg zur Zwangsarbeit ins Deutsche Reich verschleppt oder kriegsgefangen wurden. Sie wurden in Zugtransporten verschleppt und wurden in Zugtransporten nach dem Krieg wieder in ihre Heimat gebracht.

Die sowjetischen displaced persons, auch die, welche auf deutscher Seite gegen Stalin gekämpft hatten, zeigen deutlich, welche Faktoren in solchen Fällen ein Migrantenleben gelingen lassen oder nicht. 1941, bei Beginn des Krieges gegen die Sowjetunion, drangen die Deutschen rasch vor. Ein Teil der Ukrainer, Letten, Litauer und Esten, die eine Herauslösung ihrer Länder aus der UdSSR anstrebten, entschieden sich, sich in deutsche Dienste zu stellen und gegen Stalin und damit ihr Heimatland zu kämpfen. Sie nutzten, wie sie meinten, die Gunst der Stunde, um ihr Ziel, z.B. eine freie Ukraine zu erreichen. Dazu verließen sie ihre Heimat. Ein anderer Teil von Sowjetbürgern wurde kriegsgefangen oder ebenso wie vorher viele Polen gewaltsam zur Zwangsarbeit im Deutschen Reich verschleppt. Sie lebten in Lagern oder bei Bauern und hatten keine Rechte. Und sie waren der Willkür oder dem Wohlwollen ihrer deutschen Arbeitgeber ausgeliefert.

Einige von ihnen bekamen eine Heimwehreaktion. Gefährlich war es, wenn diese oder eine schwere psychische Krankheit wie eine Schizophrenie zur Arbeitsunfähigkeit führte. Denn während sie, wenn sie arbeiteten, eine gewisse Überlebenschance hatten, waren sie nun dem Tode geweiht. Sie wurden in bestimmten Phasen des Krieges in ihre besetzte Heimat abgeschoben und dort oder in deutschen Euthanasieanstalten vergast. Die deutsche Gewaltherrschaft hatte ihnen ihre Heimat, ihre Rechte und ihre Würde genommen. Zuletzt nahm sie ihnen auch noch bewußt und ökonomisch motiviert ihr schon zur Passivierung gewendetes Leben.

Das Kriegsende 1945 ist bei Historikern umstritten. Es gab und gibt den Historikerstreit mit der Frage, ob das Kriegsende eine Befreiung war oder nicht. Meist denkt man an das besetzte und geteilte Deutschland. Für die Millionen verschleppter oder kriegsgefangener Sowjetbürger sollte man meinen, es war eine Befreiung, die endlich wieder ein aktives Leben im eigenen Recht ermöglichte. Dem war aber nicht so. Denn bei dem berühmten Jalta-Abkommen, das das Schicksal der Ostprovinzen Deutschlands und die heute staatsrechtlich überwundene deutsche Teilung besiegelte, wurde ein Geheimabkommen beschlossen, das bestimmte, daß alle Sowjetbürger auch gegen deren erklärten Willen, also  zwangsmäßig repatriieren (repatriiert werden) sollten. Die UNRRA, die Flüchtlingsorganisation der Vereinten Nationen, half bei der zwangsweisen Heimschaffung. Viele Sowjetbürger, die auf deutscher Seite gekämpft hatten, wie die Kosaken an der Drau, schnitten sich mit ihrem Schwert die Gurgel durch oder stürzten sich mit ihren Kindern die Brücke hinunter, um nicht in sowjetische Hände zu fallen. Sie hatten recht. Denn in Stalins Lagern erwartete sie und ihre kriegsgefangenen oder zur Zwangsarbeit bei den Deutschen verschleppten Mitbürger verschärfte Zwangsarbeit oder gleich der sichere Tod. Bei der Amnesie unter Chruschtschow lebten nur noch etwa 20 Prozent von ihnen.

Ich schildere dies so ausführlich, weil Migration  Chance oder Fluch sein kann. Historische Umstände wie Kriegsbeginn, Kriegsende, Tauwetterperiode, Ende des Ost-West-Konflikts mit dem Ende der Sowjetunion oder die deutsche Teilung oder Wiedervereinigung  bestimmen aber als äußere Faktoren darüber, in welche Situationen der einzelne gerät. Er muß dann bestimmen, ob er fähig ist, die zum Teil sich schnell wandelnde Situation für sich zu nutzen kann oder nicht.

Vor längerer Zeit habe ich einen Patienten psychotherapeutisch betreut. Er war gleich nach seiner unehelichen Geburt von seiner Mutter in Pflege gegeben worden, weil sein Vater, ein US-Amerikaner, die Mutter nicht heiratete und nach den USA zurückkehrte. Als der Patient etwa zwei Jahre alt war, heiratete die Mutter einen anderen US-Amerikaner, der dem Kind seinen Nachnamen gab. Der Patient wurde von der Mutter in die neue Familie geholt und wuchs als Deutscher im US-Camp wie ein Amerikaner auf. Der Stiefvater erreichte, daß der Patient die amerikanische Schullaufbahn durchlief. Zuletzt absolvierte er zwei Semester auf einer Außenstelle der Maryland-University, obwohl diese nur amerikanischen Soldaten offenstand. Nach einem zum Teil abenteuerlichen Leben mit vielen Beziehungs- und Arbeitsabbrüchen kam der Patient mit anhaltenden Angst- und Panikstörungen in unsere Klinik. Ich arbeitete mit ihm, und die Ängste reduzierten sich. Sie waren aber tiefsitzend und konnten allein durch die stationäre Therapie nicht durchgearbeitet werden. Nach längerer Zeit wurde deutlich, daß der Patient seit seiner Kindheit einen großen Wunsch hatte. Er wollte Medizin studieren. Es stellte sich nun heraus, daß er sich gewissermaßen strafbar gemacht hatte. Als Deutscher hätte er der deutschen Schulpflicht genügen müssen. Die in Deutschland erworbene amerikanische Schulbildung galt nicht. Er stand so da, als sei er nie zur Schule gegangen. Mit viel Geduld und Bürokratie bekam der Patient kurz vor seiner durch die Kostengrenze der Krankenkasse vorzeitigen Entlassung vom bayerischen Kultusministerium im Sinne einer Ausnahmeregelung die schriftliche Zusage, daß die amerikanische Schulbildung, wenn er, wie möglich, noch ein weiteres Semester an der Maryland-University studierte, im Sinne einer Ausnahmeregelung als deutsches Abitur anerkannt werden würde oder er dann regulär studieren könne.

Dann mußte ich den Patienten in ambulante Behandlung entlassen. Er war zu diesem Zeitpunkt noch sehr ambivalent und entschlußlos. Er jobbte und absolvierte nicht gleich das notwendige Semester an der Maryland-University. Als er sich dann doch dazu aufraffte, konnte er es nicht mehr. Inzwischen war infolge der raschen deutschen Einigung durch den starken Teilabzug der amerikanischen Soldaten die Außenstelle der Maryland-University, an der er hätte studieren können, aufgelöst worden. Der Patient hatte durch seine innere Entschlußlosigkeit und noch nicht gelösten psychischen Probleme die ihm schon angebotene letzte Chance verpaßt, den seit Kindheit geplanten Berufswunsch zu erfüllen. Ich schildere diesen Fall, weil ich damit zeigen kann, wie man durch innere psychische Arretierungen bei sich plötzlich verändernder Weltlage an sich selbst vorbeileben kann. Man kann das nur sagen: Es sollte wohl nicht sein.

Aber, um oben anzuknüpfen: Häufig geraten Menschen  zwischen die Fronten und werden von der einen Seite gegen die andere Seite funktionalisiert und propagandistisch vermarktet. Wer gut oder schlecht ist, kann keiner sagen. Als Honegger bei seiner Verhaftung in Moskau mit sozialistischem Gruß die Faust ballte, hieß es, „Natürlich, der alte sozialistische Betonkopf“. Hätte er es nicht gemacht, hätte man gesagt: „Aha, ein Wendehals.“ Oft, wie beim Ende der realsozialistischen Staaten, glaubt man, das Ergebnis der Geschichte zeige schon, was das richtige sei. Aber das ist ein Irrtum. Deshalb ist es auch beim Historikerstreit so schwierig, sich klar auf eine Seite zu stellen. Die Ukrainer oder Balten, die im Zweiten Weltkrieg auf deutscher Seite gekämpft hatten, werden jetzt nach dem Ende der Sowjetunion als Vorkämpfer für ihre heute freien Länder betrachtet. Ähnlich hat das heutige sog. freie Kroatien im Ustascha-Staat, der im Zweiten Weltkrieg mit Hilfe der Nazis geschaffen wurde, seine Wurzeln.

Schlimm ist, daß Politiker und Militärs die Menschen dabei zerreiben. Im guten Glauben werden Migranten Verräter am eigenen Land, werden aber auch von der anderen Seite als Verräter betrachtet.

Migration hat aber letztlich als äußere Faktoren immer ökonomische Gründe. Dazu kommt aber noch die innere Motivation, die in den Bemerkungen von den innerfamiliären Schwierigkeiten und der präpsychotischen Persönlichkeitsstruktur anklingt und die ich bei meinem Fall gestreift habe. Bei rein gewaltmäßiger von außen motivierter Migration fehlt in der Regel die innere Motivation zur Migration. Bei rein wirtschaftlicher Migration, z.B. bei Wirtschaftsflüchtlingen oder Gastarbeitern, muß aber auch eine innere Motivation zur Migration vorliegen. Motivierend können innere neurotische oder psychotische Konflikte sein, aber wohl sehr viel öfter ist die Motivation wohl verknüpft mit vollem Verstehen der Möglichkeiten, Chancen und Perspektiven und klarer Entscheidung für die Migration nach Abwägen aller sichtbaren Varianten.

Ob und wie dann ein Sich-Einleben in die neue fremde Heimat gelingt, hängt von verschiedenen Faktoren ab. Es ist ja gar nicht wahr, daß der Kulturschock immer voll durchschlägt. Wenn jemand allein, ohne Angehörige und sonstige Kontakte, ausreist, er ängstlich und kontaktscheu ist und aufgrund seiner inneren Starrheit und ungelöster innerer Konflikte, die aus seiner Kindheit stammen, auch Umstellungsschwierigkeiten hat, kann es vorkommen, daß er scheitert. Die alten ungelösten Probleme, die Heimwehgefühle ziehen ihn zurück oder lassen ihn akut erkranken.

Viel öfter aber findet der Migrant bald Anschluß an Menschen seiner Heimat, die mit ihm wenigstens teilweise seine alten Bräuche und Gedanken teilen, die ähnliche Ziele haben wie er, die mit ihm seine Heimatsprache sprechen.

Der Migrant kann dann in diesem Rahmen sein Leben aktiv bewältigen. Er kann dies tun, weil er nicht isoliert ist, befriedigende Kontakte hat und einen Teil seiner Identität im neuen Land behält.

Schwierigkeiten gibt es dann, wenn er diesen Rahmen verläßt. Ist er psychisch stark, wird er bald die neue Sprache lernen, sich neugierig mit der Kultur seines Gastlandes auseinandersetzen und eine Integration seiner alten mit der neuen Identität finden. Immer wird aber in ihm eine Bruchstelle sein, die durch Minimalsymptome wie z.B. sprachliche Un- oder Übergenauigkeiten oder Unsicherheiten in bestimmten Situationen oft erst bei genauem Hinsehen sichtbar ist.

Ist er psychisch nicht so stark, wird er evtl. auch die Sprache lernen, sich verhalten wie die Gastgeber, viel arbeiten, um seinen sozialen Status zu erhöhen (ich denke auch an viele deutsche Heimatvertriebene), letztlich aber nur eine fassadäre Anpassung ohne eigentliche Identität mit innerer Leere und Insuffienzgefühlen haben.

Ich habe einige Familien von deutschen Migranten aus Rumänien, der Sowjetunion und Polen gesehen, in denen die gemeinsame Auswanderung als Thema hochgehalten wurde. Die Familienmitglieder sprachen untereinander den altertümlichen Dialekt, nach außen die Hochsprache. Nach innen hielten sie an ihren alten religiösen Bräuchen fest. Die Familienmitglieder waren untereinander stark gebunden, die Kinder durften z.B. nicht einmal, obwohl sie  17 Jahre alt waren, zur Disco. Sexualität wurde geleugnet. Immer wieder wurde die alte Heimat beschworen und der neuen, ursprünglich idealisierten, jetzt aber abgewerteten Heimat entgegengesetzt. Kontakte nach außen wurden gemieden. Als Kulturschock wurde erlebt, daß die neue Heimat nicht das hergab, was sie versprach. Im Wir-Gefühl nach innen und Abgrenzung nach außen blieb die Familie stabil, aber auch starr und statisch. Es kam erst zu dramatischen Entwicklungen, als ein Kind es wagte, auszubrechen. Die Familienmitglieder, besonders die ältere Generation reagierte mit psychosomatischen Erkrankungen bis zum Magendurchbruch. Die rebellierenden Kinder waren selbst zeitweise schwer krank und reagierten stark mit Schuldgefühlen.

So kann sich eine Familie, Horde oder nationale Gemeinschaft zwar durch Geborgenheit stabilisieren, sie kann aber auch durch Isolation nach außen dem Einzelnen den Weg zur eigenen Identität verbauen und ihn trotz äußerer Migration nicht die seelische dazu notwendige Entwicklung mitvollziehen lassen. Es steht hier Geborgenheit in einer Gruppe gegen eigene Entwicklung mit dem Übergang der Isolierung.

Es gibt übrigens ein historisches Beispiel, bei dem eine selbstgewählte Isolation in der Migration große Folgen zeigte. Es handelt sich um die iroschottischen Mönche. Sie verließen bewußt ihre Heimat, unterstellten sich dem Papst unter dem Zeichen von Petrus und gingen in das fränkisch-karolingische Reich. Hier waren sie sehr am Zustandekommen der sog. karolingischen Renaissance beteiligt. Sie waren vereinzelt und isoliert. Trotzdem war letztlich  die Migration der iroschottischen Mönche doch ein Gruppenphänomen. Die gewollte Isolierung kann man aber heute noch daran erkennen, daß auf Bildern dieser Zeit die Figuren isoliert im Raum sind und an einer Schreibeigentümlichkeit, die damals aufkam und die wir heute noch haben. Anders als im Altertum schreiben wir seitdem bis heute nämlich mit Zwischenräumen, Wort für Wort getrennt und damit vom Nachbarwort isoliert. Die Idee der heilbringenden Isolation war damals im Beginn der Europäischen Individuation überall zu spüren. Nicht umsonst kam nur wenig später auch aus dem Norden die Mode auf, das „Ich“ grammatikalisch extra zu setzen und zu betonen. Auch amo wurde französisch j´aime.

Mit dem Beispiel der iroschottschen Mönche möchte ich zugleich deutlich machen, daß man Migration auch unterschiedlich definieren kann. Es gibt eine synchronische und eine diachronische Migration. Der gesamte Prozeß der Evolution und der soziokulturelle Wandel, wie ihn dieses Beispiel zeigt, bringt ständig Neues. Es gibt zwar Zeiten, in denen die Neuerungen nur verschwindend gering sind, wie es auch Zeiten eines beschleunigten soziokulturellen Wandels wie die neolithische und die französische Revolution gibt. Dieser schnelle oder langsame Wandel ist aber eine ständige Migration, im Sinne einer stetigen und unstetigen Wandlung. Daneben und meist so verstanden ist eine synchrone Migration die Wanderung gerade lebender Menschen. Ich halte diese Unterscheidung deshalb für wichtig, weil auch nicht-sychchrone Migration, also der soziokulturelle Wandel, Chancen bieten und eine Identität bilden helfen, aber auch  Verunsicherung bringen und die Identität in Frage stellen kann. Damit sind wir alle Migranten und müssen unser Leben bewältigen, wobei es keine einfache Lösung geben kann, da wir alle irgendwo dazwischenstehen, teilweise alte, ungeprüfte Werte neben durchdachten Entscheidungen haben und oft mehreren Herren, symbolisch gesagt, zugleich dienen müssen. Es gibt nicht schwarz oder weiß, sondern nur verschiedene Grautöne. Man kann sein Leben nur mehr oder weniger gut bewältigen. Am besten gelingt das Leben und die Migration aber dann, wenn der Migrant bindungsfähig ist, Kontakte knüpfen und ausbauen kann, übertragungsfrei leben kann und flexibel eine eigene Identität aufbauen kann. Das gelingt aber nur im Kontakt mit anderen liebenden Menschen. Die dazu nötige  Sprachfähigkeit und Sprache ist dann mehr als die Beherrschung grammatikalischer Regeln, es ist ein flexibler und emotional angepaßter Umgang mit den emotionalen Schwingungen zwischen Menschen. Damit möchte ich für heute schließen. Ich wollte nur einige Schlagzeilen auf dieses Thema werfen und bitte um reichliche Diskussion. Zugleich bedanke ich mich bei Herrn Prof. Dörner und allen Organisatoren dieser Veranstaltung.

Franz Peschke
ICD 10 und Fallpauschalen - über das reduktionistische Denken der heutigen Psychiatrie und Psychotherapie

Vortrag beim Dreiländer-Kongreß der Ergotherapieverbände Deutschland – Schweiz – Österreich (21.05. bis 24.05.1998) am 21.05.1998 um 14 Uhr in Karlsruhe

Erst vor wenigen Tagen wurde in der psychiatrischen Klinik Heidelberg ein Denkmal für die Kinder errichtet, die im Zweiten Weltkrieg „Patienten“ in Carl Schneiders  Forschungsabteilung in der Psychiatrisch-Neurologischen Klinik Heidelberg waren und danach in der Anstalt Eichberg ermordet wurden, um das „Forschungsprogramm“ durch Sektion und histologische Aufbereitung ihrer Gehirne abrunden zu können. Diese Forschung  war eingebettet in die „Euthanasie“-Aktion und allgemeiner gesagt  in das Programm der Nazis, das der Sozialpsychiater Klaus Dörner den „Krieg gegen die psychisch Kranken“ genannt hatte. Dazu gehörten massive schon ab 1934 Pflegekostenreduktionen, die Sterilisation von circa 400.000 sogenannter Erbkranker, Forschung über den Tod hinaus und als „Eurhanasie“ bezeichnete Ermordung durch Vergiftung, Vergasung und Verhungernlassen zehntausender psychisch Kranker Menschen.

Es ist wichtig, sich klarzumachen, daß dieser „Krieg gegen die psychisch Kranken“ stattfand auf dem Boden der damaligen Ansichten über psychische Krankheiten, der damaligen wirtschaftlich-politischen  Situation, sowie auf dem Boden  der allgemeinen Geschichte und der Mentalitätsgeschichte.

Die Nazis setzten Ideen, die teilweise schon vorher da waren, in ihre Ideologie und ihr daraus abgeleitetes Handeln um. Wie der Psychiater und Medizingeschichtler Heinz Faulstich am Tag nach der Errichtung des Denkmals in Heidelberg bei der  Tagung im Schwarzacher Hof bei Aglasterhausen, von wo die ermordeten Kinder ursprünglich gekommen waren, berichtete, hatten die Sparmaßnahmen in den psychiatrischen Anstalten schon zur Zeit der Weimarer Republik begonnen. Die Nazis waren in der Fortsetzung der Sparmaßnahmen aber ganz konsequent und zeigten in der Folge ganz deutlich, worum es ihnen eigentlich ging, nämlich um die Bemächtigung der Menschen bis zur Ermordung, die letztlich zu vielen Millionen von Toten im Zweiten Weltkrieg und zu völliger Zerstörung führte. Wie John Douglas in dem Buch „Die Seele des Mörders“ schreibt, sind Merkmale gewaltorientierter Serientäter Macht, Manipulation, Dominanz und Kontrolle. In der Vorphase findet sich häufig  Brandstiftung. Die Täter fangen schon früh an, ihre Gewaltphantasien zu entwickeln, üben und auszubauen. So lange, bis sie ihre Phantasien in die Tat umsetzen. Adolf Hitler hatte seine Phantasien im Gefängnis in Landsberg/Lech Rudolf Hess diktiert. Das Buch „Mein Kampf“ zeigt schon in aller Deutlichkeit auf, was später geschah. Es wurde aber nicht ernstgenommen, weil mit derartigen Massenmördern noch keine Erfahrung bestand. Macht, Manipulation, Dominanz und Kontrolle sind aber auch Erfahrungen, die nicht nur individuell zu verstehen sind. Das Dritte Reich und die Sowjetunion Stalins zeigen exemplarisch, wie Macht, Manipulation, Dominanz und Kontrolle auch auf der staatlichen Ebene wirken. Von daher sind die Nazis und das Dritte Reich in diesem Punkt in eins zu setzen.

Es ist nun die Frage, ob das Tun der Nazis im Dritten Reich etwas einmaliges ist oder ob sich darin etwas allgemeineres, etwas Zeitgeschichtliches ausdrückt, das mit der ganzen Epoche zusammenhängt und auch heute wirkt.

Seit Jahren wird unsere Epoche die „Postmoderne“ genannt. Der Amerikaner Paul Feyerabend hat für das Programm der Postmoderne den Leitsatz „Anything goes“ geprägt. Man kann ihn verschieden übersetzen. Er könnte z.B. übersetzt werden mit: „Alles ist möglich.“ Das ist ein Satz von Größenwahnsinnigen. Oder mit „Alles ist wurscht.“, einem Satz von Negativisten. Oder auch mit „Alles ist erlaubt.“ Das ist ein Satz von Grenzüberschreiten und Kriminellen.

Die Nazis überschritten alle Grenzen, indem sie über andere Menschen die totale Kontrolle ausüben wollten. Insofern waren sie postmodern. Ihnen waren die Menschen wurscht und egal, sie erniedrigten sie zu Objekten, manipulierten sie, mordeten sie sogar extra zu dem Zweck der Forschung.

Heute nun ist der Leitsatz „Anything goes“, wie gesagt, zum Leitsatz geworden. Wir leben in der Postmoderne. Forschung wird wie bei dem Human Genome Project international betrieben. An Größenwahn erinnernde Ideen wie das Klonen von Mensch und Tier zeigen auf, wie stark die Forscher von einem Machtwillen beseelt sind, über Tier und Mensch Kontrolle auszuüben. Reproduktionsmediziner (ein technischer Ausdruck) zeugen neues menschliches Leben in der Petryschale, Humangenetiker hoffen, nach Beendigung des Human Genome Projektes die Möglichkeit zu haben, durch Gentherapie und direkten Eingriff in das Erbgut auf somatischer oder Keimbahnebene Krankheiten wie die verschiedenen Formen erblichen Schwachsinns oder Schizophrenie  abzuschaffen. Wenn man die wissenschaftlichen Möglichkeiten in der Humangenetik in der Naziära mit den Möglichkeiten heute vergleicht, wird deutlich, wieviel mehr an Möglichkeit zu Macht, Manipulation und Kontrolle heute gegeben ist. Die Grenzen sind in alle Richtungen geöffnet. Der Forscherdrang schafft  neue Tier- und Pflanzenformen wie Schiegen, Zafe und Tomoffeln. Anything goes, alles ist möglich, alles machbar. Auch das Klonen von Menschen ist denkbar. Es gibt zwar Ethikkommissionen, aber  diese Forschung lässt sich nicht aufhalten Sie hat sogar die UNESCO auf ihrer Seite. Diese Forschung greift direkt in das Selbstverständnis der Psychiatrie ein. Die Diagnosen können heute auf der genetischen Ebene teilweise viel genauer gestellt werden als noch vor wenigen Jahren. So brauchte man heutzutage nicht mehr nur schwere oder schwerste Intelligenzminderung  zu diagnostizieren, sondern man könnte genauer angeben:  „schwere Minderbegabung, Y-mentale Retardierung  mit Defekt im Oligophrenin 1“ .

Für eine derartige exaktere Diagnose ist der neue Diagnoseschlüssel  ICD 10 gut geeignet. Mit seiner Hilfe  könnte die Diagnostik für den Zweck einer Sterilisierung oder Gentherapie erleichtert werden. ICD 10  wurde von Experten der Weltgesundheitsorganisation geschaffen und gilt daher weltweit. ICD 10 zeichnet sich gegenüber dem Vorgänger ICD 9 dadurch aus, daß statt der Kodierung von 001 bis 999 eine alphanumerische Kodierung, also eine  mit  Buchstaben und Ziffern benutzt wird. Das führte dazu, daß die Zahl der Diagnosen von 999 im ICD 9 im ICD 10 massiv erhöht wurde und in weiteren Revisionen auch noch werden kann. Für den eigentlichen Bereich der psychiatrischen Diagnosen bedeutet das, daß es gegenüber früher 30 jetzt 100 Hauptdiagnosen gibt. Die alten Diagnosen wurden  operationalisiert, computerlesbar gemacht  und zersplittert. Es geht nicht um Patienten, um kranke Menschen, sondern um möglichst rasche Einordnung von Symptomen, möglichst zeitsparend und effektiv. Die Diagnose ergibt sich nicht nach einem einem persönlichen Gespräch zwischen Psychiater und Patient, sondern durch Einschätzskalen und mit Hilfe sogenannter Flussdiagramme. Dazu passt, daß altbekannte Unterscheidungen wie die zwischen Neurose und Psychose zugunsten des Begriffes „Störung“ aufgegeben wurden. Jeder psychisch Kranke ist jetzt „gestört.“  Der ICD 10 beinhaltet einen teilweise atheoretischen, rein pragmatischen Ansatz, der aber dazu führt, daß lebende Menschen wie Autos eine „Störung“ haben und der Psychiater nicht mehr von der Einheit der Person ausgehen muss, sondern wissenschaftlich verbrämt den Kranken in operationale Begriffe und Flussdiagramme mit der Ergebnis einer operational geeigneten Diagnose presst.  Da die Einheit der Diagnose auch aufgegeben wurde (Der Psychiater musste sich früher nach der sogenannten Schichtenregel für eine, die schwerste Diagnose entscheiden)  können jetzt unverbunden und atheoretisch mehrere Diagnosen nebeneinandergestellt werden. Dadurch könnte auch Minderbegabung mit „Defekt im Oligophrenin 1“  als näherer Erklärung kombiniert und die Minderbegabung als vererbte Form kenntlich gemacht werden, eine Möglichkeit, die es schon im ICD 9 gegeben hat, aber durch die alphanumerische Verschlüsselung im ICD 10 massiv erweitert und ausgenutzt werden könnte. Bei Weiterentwicklung der Ideen der postmodernen Humangenetiker ist damit die Möglichkeit gegeben, nicht nur wie bei den Nazis eine sogenannte negative Auslese zu machen, also das „kranke Erbgut“ auszuschalten, sondern eine positive Auslese, also eine Verbesserung des Erbgutes, so wie die Humangenetiker, andere Forscher und Gesetzgeber sich diese heute vorstellen. Die Nazis hatten die zwangsweise Sterilisierungen sogenannter Erbkranker gesetzlich vorgeschrieben. Die Sterilisierungen dienten anfangs der Möglichkeit, als erbkrank angesehene psychisch Langzeit-Kranke aus den Anstalten entlassen zu können und damit die Anstalten finanziell zu entlasten, später wurden die Kranken umgebracht. So wie man heute die Anstalten enthospitalisiert und die psychisch Kranken, wenn sie nicht mehr akut behandlungsbedürftig sind, zu ihren oft überforderten Angehörigen oder in Heime oder Wohngemeinschaften entlässt. Dies geschieht auch aus dem Grund, die  Krankenhauskosten zu dämpfen

Bei den Nazis gab es wie gesagt, das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses von 1934. Es diente letztlich wie die „Euthanasie“-Aktion, die Ermordung der psychisch  Kranken im Kriege, der Kostendämpfung. Im Kommentar zum Gesetz von 1934 steht folgendes: „Dazu kommt, daß für Geistesschwache, Hilfsschüler, Geisteskranke und Asoziale jährlich Millionenwerte verbraucht werden, die den gesunden, noch kinderfrohen Familien durch Steuern aller Lasten entzogen werden. Die Fürsorgelasten haben eine Höhe erreicht, die in gar keinem Verhältnis mehr zu der trostlosen Lage derjenigen steht, die diese Mittel durch Arbeit aufbringen müssen. “  Die Nazis wagten aber nicht, die „Euthanasie“-Aktion gesetzlich zu regeln.

Heute aber  erleben wir in Deutschland  eine Gesetzesflut von Gesetzen im Gesundheitsweisen, die alle das erklärte Ziel haben, zu sparen, zu sparen und nochmals zu sparen. Pflegeversicherung, Zuzahlung, Stellenabbau, Enthospitalisierung,  Fallpauschalen. Wir kennen alle die Wörter. Es geht auch in der Psychiatrie  nicht mehr um humane Versorgung (wenn auch viele therapeutisch Tätige wie Ärzte, Schwestern und Pfleger oder Ergotherapeuten sich weiter menschlich um die Kranken kümmern), sondern um Kostendämpfung, dessen Ende nicht, wie der Bundesgesundheitsminister bei der Eröffnung des 101. Ärztetages in Köln behauptete, vorgesehen ist. Derzeit haben wir auch in der Psychiatrie zur Bezahlung der stationären Kosten ein Splitting in den Abteilungspflegesatz und in den Basispflegesatz. Unter Abteilungspflegesatz versteht man die eigentliche Behandlung. Der Basispflegesatz meint die Kosten für Unterkunft und Verpflegung (die sogenannten Hotelkosten), für Verwaltung, Küche, Energie und Instandhaltung. Im letzten Jahr wurden die psychiatrischen Kliniken daraufhin überprüft, wie die Auslastung bei der Bettenbelegung war. Es wurde als Grenze eine Bettenbelegung von 85 % festgesetzt. Kliniken, die weniger als 85 % Belegung aufwiesen, wurden angehalten, Betten zu reduzieren. Erst vor wenigen Tagen erreichte bayerische psychiatrische Kliniken unter Verweis auf das Krankenhausfinanzierungsgesetz KHG und das Bayerische Krankenhausgesetz ein Schreiben des Bayerischen Arbeitsministeriums. Es wurde darauf verwiesen, daß nach Untersuchungen des Bayerischen Obersten Rechnungshofes 1997 die durchschnittliche Krankenhausverweildauer psychisch Kranker in Bayern 36 Tage betrage. Das Arbeitsministerium ordnete an, daß Krankenhäuser mit einer längeren Verweildauer psychisch Kranker als 36 Tage ihre Verweildauer diesem Limit von 36 Tagen anzupassen hätten. Wenn das nicht geschähe, würden die Fördermittel gestrichen. Die Klinik, in der ich derzeit arbeite, behandelt schizophrene und Borderline-Patienten psychotherapeutisch. Das geht nur mit einer relativ langen Verweildauer. Die Reduktion auf 36 Tage Verweildauer bedeutet, daß  von derzeit geförderten 56 Betten 45 wegfielen und die Klinik mit nur noch 11 geförderten Betten schließen müßte. Damit entfiele auch die Möglichkeit stationärer Psychotherapie bei vielen ansonsten gut therapierbaren Kranken. Nun läuft aber in verschiedenen psychiatrischen Krankenhäusern der Bundesrepublik eine von Herrn Seehofer, dem Bundesgesundheitsminister mit Bundesmitteln geförderte Studie, in der geprüft werden soll, wie es möglich sein kann, die in anderen Krankenhäusern, zum Beispiel in chirurgischen Kliniken, bereits eingeführten Fallpauschalen auch in Psychiatrien einzuführen. Die an der Studie  beteiligten psychiatrischen Kliniken bekommen dafür zusätzliche Mitarbeiter gestellt. Zum Beispiel bekommen dann die Kliniken bei Kranken mit einer laut ICD 10 diagnostizierten schweren depressiven Episode ohne psychotische Symptome F 32.2  eine Fallpauschale von 3500 DM  für eine Behandlungsdauer von 30 Tagen. Man geht davon aus, daß dann die depressive Episode abgeklungen sein muß.  Der Kranke kann also dann nach Plan entlassen werden. Ist das aber nicht der Fall, bekommen die psychiatrischen Kliniken für den vorgesehenen Entlassungstag kein Geld. Für die weiter nötige Behandlungsdauer  bekommen die Kliniken auch Geld. Es handelt sich wie derzeit um  eine Kombination von Basis- und Abteilungspflegesatz. Dieser kombinierte Pflegesatz liegt aber deutlich unter den Fallpauschalen. Um bei dem gleichen Budget zu bleiben, sind die Kliniken gezwungen, Kranke auch früher als die Fallpauschale erlaubt zu entlassen. Zudem ist in vielen Fällen nur eine Kurztherapie möglich, obwohl eine Langzeittherapie nötig und menschlicher wäre.

Man kann also das Schema der Kostendämpfungsmaßnahmen in der stationären Psychiatrie erkennen. Derzeit wurde der Kostensatz bereits gesplittet in den Basispflegesatz und den Abteilungspflegesatz. Im letzten Jahr wurde eine Kosteneinsparung durch Bettenreduktion verordnet. In diesem Jahr soll die Festlegung  einer vorgeschriebenen Verweildauer zu Einsparungen führen. Vorbereitet aber wird die Einführung von Fallpauschalen.  Es ist dann eine fixe Bezahlung für eine operational ermittelte  festgelegte Zahl von Behandlungstagen bei einer bestimmten Diagnose vorgesehen. Die jetzt gültige Bezahlung durch Basis- und Abteilungspflegesatz ist für die Ausreißer vorgesehen, für die also, die entgegen einer vorgeschriebenen Verweildauer doch länger stationär bleiben müssen. Diese Bezahlung ist aber deutlich geringer als die Fallpauschalen und gewissermaßen eine Strafmaßnahme gegen die Klinik, weil diese ein Seehofer-Plansoll nicht erreicht hat.

Wenn man diese Entwicklung sieht, wird man an das Dritte Reich erinnert und an seine Teilung in Heil- und Pflegeanstalten. Heilen und Pflegen. Damals bedeutete Heilen von Schizophrenen aktive Behandlung durch Arbeitstherapie und/oder Cardiazol- oder  Elektroschockbehandlung. Pflegen bedeutete Aufgabe von Therapie bei Reduktion des Kostensatzes. In Baden wurde, um die badischen Heil- und Pflegeanstalten von Langzeitkranken zu entlasten, eine eigene Pflegeanstalt in Rastatt errichtet. Diese war eine absolute Sparanstalt. Der Direktor Schreck sparte so effektiv, daß  der schon reduzierte Kostensatz von 3,05 RM, wie er in den anderen badischen Anstalten galt, 1936 auf 1,60 RM gesenkt wurde. Herr Seehofer würde sich freuen.  Das reichte aber nicht. Die Pflegeanstalt Rastatt wurde 1940 aufgelöst, indem praktisch alle Kranken  in der Gaskammer von Grafeneck  ermordet wurden. Ich habe über die Pflegeanstalt Rastatt eine Buch geschrieben.[1]

Kommen wir zur Gegenwart zurück. Es geht wie im Dritten Reich heute um Rationalisierung, Effektivität und Kostendämpfung, um Sparen also, ohne sich um die Menschen und ihr Leid zu kümmern. Deshalb werden die zahlenden Kassen immer mehr danach fragen, wie effektiv  die einzelnen Therapiemethoden sind. Für die Psychotherapie hat ja nun das neue Psychotherapeutengesetz endgültig klar gemacht, daß Methodenvielfalt und Methodenstreit, der befruchtend sein kann und auch bei schwierigen Patienten Möglichkeiten zur Therapie offenläßt, nicht gewünscht ist. Nur die Verhaltenstherapie, die tiefenpsychologisch fundierte Therapie und die Psychoanalyse gelten als anerkannte Verfahren, weil sie ihre Effektivität und damit Kostengünstigkeit bewiesen haben. Es bestehen aber weiter Bestrebungen, durch Kurzzeittherapie die Kosten weiter zu reduzieren. Die Psychoanalyse ist ein Langzeitverfahren und daher in Gefahr, als Verfahren beschnitten zu werden. Ich vermute, daß demnächst Herr Seehofer oder sein Nachfolger und die Kassen jedes einzelne Verfahren, das in der Psychiatrie verwandt wird, wie Ergotherapie, Musik-, oder Maltherapie auf ihre Effektivität, sprich auf Kostenreduktion überprüfen wird.

Auch bei  dem Betreuungsrechts-Änderungsgesetz, welches das erst am 1. Januar 1992 eingeführte Betreuungsrecht ablösen soll, geht es  um Kostendämpfung. Die  Betreuung war Ersatz für  die alte Vormundschaft und Entmündigung und sollte das Subjektsein der psychisch Kranken schützen. Im Betreuungsgesetz von 1992 wurden zudem freiwillige  Sterilisierungen gesetzlich geregelt. Jetzt will der  Bundesrat, die Vertretung der Länder,  das liberale Betreuungsgesetz wieder  abschaffen, weil die Betreuung, die vor allem von Juristen  über Betreuungsvereine wahrgenommen  wurde, zu teuer ist. Wirkliche Betreuung ohne Entmündigung kostet nämlich Geld. Bedenklich stimmt, daß beinahe zeitgleich Karsten Vilmar (FAZ N. 116, 20.5.1998; S. 2), der Ärztekammerpräsident, bei dem Ärztetag in Köln hervor hob, „daß auf weitere medizinische Forschung nicht verzichtet werden könne. Dazu gehöre – unter strengen Bedingungen – auch Forschung an nicht einwilligungsfähigen Menschen.“   Forschung an nicht einwilligungsfähigen Menschen, also auch psychisch kranken, soll also erlaubt sein! Ein amtlich bestellter Betreuer könnte dies auch verbieten. Wird das Betreuungsrecht verschlechtert, kann auch illegale Forschung möglich sein.

Wo man hinschaut, überall geht es um Sparen und Sozialabbau. Davon sind die psychisch Kranken besonders betroffen. Zum Beispiel brachte die Einführung des neuen Facharztes für Psychotherapeutische Medizin keine wirkliche Verbesserung. Die Psychotherapie wurde noch mehr gespalten, für viele Laien ist nicht mehr überschaubar, wer für sie zuständig ist. Derzeit sind Bestrebungen im Gange, den Geldtopf der Psychotherapie zu  teilen, einen für Fachärzte, einen für die anderen Psychotherapeuten. Schon im nächsten Jahr müssen psychisch Kranke bei der Psychotherapie zuzahlen. Da Kurzzeittherapie erstrebt wird, werden Kranke, die eine längere Therapie brauchen, das Nachsehen haben. Schizophrene, die besonders lange Therapiezeiten benötigen, können dann von Psychotherapeuten, die keine Psychiater sind, aufgrund der gering bewilligten Therapiedauer nicht behandelt werden, obwohl  psychologische Psychotherapeuten dafür geeignet wären. Und Psychiater können solche Therapiedauern nur über Psychiatrieziffern abrechnen.

Daß die neue – und eigentlich doch schon alte – Denkweise  sich auch in der Therapie durchsetzt, ist klar. Kliniken haben  heute nicht nur Verwaltungschefs, die Krankenhausmanager sind und ähnlich wie der Direktor der Pflegeanstalt Rastatt im Dritten Reich, Dr. Schreck, oft seelenlose, rationale, sich nur an Zweckerwägungen orientierende, staatstreue, nur auf Effektivität und Kostenreduktion bedachte Beamte sind. Andere Direktoren und Klinikchefs sind gegen die neuen Entwicklungen, machen sie aber, da sie Gesetz sind, mit.

Auch die eigentliche Behandlung  psychisch Kranker bekommt langsam ein neues Gesicht und neue Namen. Ich erinnere an die Ausdrücke  Krisenmanagement und   Psychosoziales Management. Man kennt auch den alten Ausdruck Psychoklempner. Behandlung ist unter diesem Gesichtspunkt keine menschliche Begegnung mehr, sondern das Management einer Störung, wie es ja im ICD 10 steht. Management sollte gezielt, effektiv, mit wenigen anerkannten Mitteln und Behandlungsarten und kostengünstig sein. Vielleicht wird auch hier deutlich, wie nahe wir heute Gedanken der Nazis stehen. Der Mord an den psychisch Kranken im Dritten Reich fand planmäßig  und gut organisiert statt. Er wurde eingeleitet durch Sparmaßnahmen und  Sterilisierungen  und fortgeführt durch Ermordung der, wie die Kranken genannt wurden, unnützen Esser. Die psychisch Kranken waren störend, weil sie daran gemahnten, daß es Krankheiten und Situationen gibt, in denen man zu krank zum Arbeiten ist. Dem entsprechend haben manchmal psychisch Kranke die Morde des Dritten Reiches überlebt, wenn ihnen der Anstaltsleiter bescheinigte, daß sie in der Arbeitstherapie für die Klinik  noch einen finanziellen Gewinn erarbeiteten.[2]

Übrigens  findet sich das Denken, das nach den Kosten der Behandlung von „Schwachsinnigen“ oder anderen Kranken fragt, wie in den Biologie- oder Schulbüchern im Dritten Reich, heute wieder, wenn auch nicht immer auf psychisch Kranke bezogen.  Die Zeitschrift „Fortschritte der Medizin“ N 35-36   vom 20. Dezember 1997 fragt ganz offen: „Was kostet ein Typ-II-Diabetiker?“ Wir stehen in Gefahr, daß diese Frage wie selbstverständlich hingenommen wird.

Meiner Meinung nach  haben wir nur dann  eine Chance zur Veränderung der Situation, wenn wir erkennen, wie nahe wir im Denken und Handeln vielleicht aufgrund der gemeinsamen postmodernen Ideen den Nazis sind. Eins ergibt das andere. Beim reinen Sparen bleibt es nicht. Im Hintergrund ist eine menschenverachtende, letztlich  lebensverachtende  Weltsicht, die zu dem massenweisen Morden und Brandstiftungen  der Nazis führte. Vorerst bleibt es heute noch bei den massiven Einsparungen. Konkret gemordet  wird heute noch nicht.

Daß  aber heute viele Menschen statt sich auf die Seite des Lebens zu stellen, das  Makabre und Tote anziehend finden, ist dem Rummel um die Mannheimer Ausstellung „Körperwelten“ zu entnehmen, die wie eine Multimediashow wirkte. Es war für die Ausstellungsbesucher  nicht wichtig, daß diese Toten vorher lebende Menschen mit Hoffnungen, Gefühlen und einem sozialen Zusammenhang waren. Sie waren ja nun   theaterbühnenmäßig aufbereitete ästhetische Objekte. Eben nur Objekte. Wie berichtet wurde, soll der Heidelberger Anatom, der sich als Künstler versteht, einen Großteil der Leichen als Frachtgut aus fremden Ländern, unter anderem China bekommen haben, wobei die Zöllner nicht wußten, wie die Leichen eingeführt werden sollten, als Leichen oder als Arbeitsmaterial. Was vorher mit ihnen war, ob sie z.B. ermordete Regimegegner waren, scheint niemanden zu interessieren. Auch hier finden wir wieder die Kombination von Macht, Manipulation, Dominanz und Kontrolle. Bevor diese Ausstellung  entstand, muß eine entsprechende Phantasie, die Leichen derart zu präparieren, schon dagewesen sein. Manche Serienmörder ermorden zuerst ihre Opfer, um sie dann wie Präparate zu zerstückeln. Diese Zerstückelung  wird  vorher lange in der Phantasie durchgespielt. Erst die Zerstückelung ihrer Opfer gibt den Mördern dann das Gefühl, sie ganz unter Kontrolle gebracht  zu haben. Ich glaube,  diese Ausstellung zeigt genau dieses auf.[3] Sie zeigt zugleich, daß diese mörderischen Impulse in uns allen stecken. Daß Leichenteile ästhetisch verwendet wurde, ist nicht neu. Nazis haben sich z. B. aus Leichenhaut Lampenschirme gefertigt.

Ich habe Ihnen heute keinen erbaulichen Vortrag gehalten. Ich wollte auch keinen erbaulichen Vortrag halten. Vielleicht sehe ich zu düster. Ich habe aber Angst. Angst deshalb, weil viele Entwicklungen schleichend verlaufen, nicht richtig beachtet werden und  dann bestimmend werden. Es ist zum Beispiel wichtig, Mörder und Vergewaltiger   dingfest zu machen. Was bedeutet es aber, wenn in Niedersachsen nach einem Sexualmord tausende von Männern freiwillig zum DNA-Test gehen und zugleich gewarnt wird, wer nicht komme, mache sich verdächtig. Die Kontrolle ist  gewaltig. Mit solchen Einschüchterungen  könnte, viel effektiver als bei den Nazis, eine Gendatei der Bevölkerung angelegt werden, die auch zu gesetzlich legitimierten eugenischen Maßnahmen führen könnte. Diese könnte dann als Prävention verkauft werden. Etwa mit folgenden Argumenten: Es ist sehr teuer, ein mißgebildetes Kind, einen schwer Minderbegabten mit X-mentaler Retardierung oder einen chronisch  Schizophrenen zu unterhalten. Wollt ihr Eltern das? Ihr habt die Möglichkeit, euch genetisch durch eine Speichelprobe untersuchen zu lassen. Dann könnt ihr entscheiden. Ihr könntet euch sterilisieren lassen, ihr könntet abtreiben oder, falls ihr eine künstlicher Befruchtung und in-Vitro-Fertilisation in Anspruch genommen habt, auch eine Präimplatationsdiagnostik und –Therapie machen, das heißt, den Gen- oder Chromosomendefekt vor der Einnistung des befruchteten Eies eliminieren oder die Frucht zu töten.  Denkt dran. Ihr macht damit bei der Prävention, bei der Vorsorge mit. Und das ist gut für „eugenische Maßnahmen“  Ich bringe dieses  und die obigen Beispiele, um anzuregen, sich nicht einschüchtern zu lassen und Widerstand und Zivilcourage gegen Tendenzen aufzubauen, die unter dem Vorwand der Wissenschaft, der Nützlichkeit für die Gesellschaft und der Kostenreduktion das Leben von Kranken, speziell von psychisch Kranken, von uns allen und letztlich das Lebendige selbst zerstört.

Die Ergotherapie hat zwei Wurzeln. Die Arbeitstherapie, welche dem Kranken helfen soll, sich wieder arbeitsmäßig zu integrieren, und die Beschäftigungstherapie, die sinnstiftend gemeint ist und dem Kranken helfen soll, Lust und Freude zu empfinden und dadurch seine Heilung anzuregen. Sie gibt dem Kranken ein Stück Freiheit deshalb wieder, weil er lustvolle Dinge ohne Druck machen kann. In der Tatsache, daß Ergotherapie diese beiden Wurzeln hat, ist die Hoffnung erhalten,  daß die Ergotherapie  einen Vorbildscharakter hat und daß es trotz aller beschriebenen Gefahren möglich ist, die Gesellschaft und die  Psychiatrie zu humanisieren.

Danke.

[1] Franz Peschke: Schreck’s Anstalt. Eine Dokumentation zur Psychiatrie und „Euthanasie“ im Nationalsozialismus am Beispiel der Pflegeanstalt Rastatt, Hrsg. Stadt Rastatt, Stadtmuseum und Stadtarchiv, Rastatt 1992

[2] So wurde die Ökonomie in der Heil- und Pflegeanstalt Wiesloch bei Kriegsende durch Patienten aufrechterhalten, die man nicht euthanasiert hatte.
Vgl. Franz Peschke – Ökonomie, Mord und Planwirtschaft. Die Heil- und Pflegeanstalt im Dritten Reich. Aspekte der Medizinphilosophie Band 10 projekt verlag Bochum/Freiburg 2012
(Reihenherausgeber Aspekte der Medizinphilosophie Christian Hoffstadt, Franz Peschke, Michael Nagenborg und Sabine Müller)

[3] Zu dieser Ausstellung und dem Präparator vergleiche: Franz Peschke: Von Hagens und seine Plastination – als Ausdruck einer nazisstischen, „perversen“ und nekrophilen Gesellschaft in: Klaus Reichert, Christian Hoffstadt (Hrsg.): ZeichenSprache Medizin. Semiotische Analysen und Interpretationen. Aspekte der Medizinphilosophie Band 2, projekt verlag Bochum/Freiburg 2004, S. 35 – 65

Franz Peschke
Was versteht man unter Behinderungen und Behinderung und wie kann man helfen? - eine Analyse aufgrund sprachlicher Befunde

Vortrag am 3.2.1999 19 Uhr im Stadtmuseum Rastatt zur Eröffnung der Fotoausstellung „Einblicke“
von  Patrick Werner

Sehr geehrter Herr, sehr geehrte Frau, meine Damen und Herren

Über die Möglichkeit, heute bei der  Eröffnung der Ausstellung „Einblick – Fotografien von Patrick Werner“ einen Vortrag zu halten, freue ich mich sehr. Diese Ausstellung dient  wie die Kampagne „Aktion Grundgesetz“, der Verbreitung von  Wissen darüber, daß  seit dem 15. November 1994 im Grundgesetz der Satz „Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden“ eingefügt ist. Sie soll zugleich sensibel machen für den Umgang mit Behinderten und uns die Behinderten in ihrer Menschlichkeit, Lebendigkeit, ihren Wünschen und Bedürfnissen und ihrer Würde näherbringen. Ich möchte Ihnen gewissermaßen als Kontrapunkt zu den sensiblen fotografischen Einblicken Patrick Werners einen sprachlichen Einblick geben, nämlich einen Einblick oder doch wohl eher Überblick über Wörter und Bezeichnungen, die etwas mit Behinderung und Unterstützung zu tun haben. Dabei möchte ich erst die Etymologie verschiedener Wörter von Behinderungen vorstellen und danach erarbeiten, was das Wort Behinderung bedeutet und  welche Wörter es gibt, die Unterstützung bei Behinderung bedeuten. Ich nennen deshalb meinen Vortrag: „Behinderungen und Behinderung und wie kann man helfen ? – eine Analyse aufgrund sprachlicher Befunde“

Der Ausdruck „Behinderung“  kam als Begriff seit den Siebziger Jahren des Zwanzigsten Jahrhunderts auf. Es gibt keine gesetzliche Definition  des Behindertenbegriffes. Auch in der RVO war der  Begriff des Behinderten nicht enthalten. In dem Wort Schwerbehindertengesetz kommt das Wort aber vor. Nach einer Definition der Bundesanstalt für Arbeit  sind „Behinderte im Sinne dieser Anordnung … körperlich, geistig oder seelisch behinderte Personen, deren Aussichten, beruflich eingegliedert zu werden oder zu bleiben in  Folge der Behinderung nicht nur vorübergehend wesentlich gemindert sind und die deshalb besonderer Hilfe bedürfen.“ Man unterscheidet eine praemorbide, eine primäre und eine sekundäre Behinderung. Wichtig ist, daß die Behinderung nicht einfach wie mechanisch aufgefaßt wird, sondern daß die Behinderung immer gesehen wird als  bezogen auf innere, aber auch auf äußere Faktoren, wie in Bezug auf die Familie, die Arbeits- und Freizeitsituation, auf die Schul- und Berufsausbildung. Die Behinderung spielt also erst im Zusammenhang mit der sozialen Situation der/des Behinderten eine Rolle. Insofern ist das Wort Behinderung auch ein sozialpsychiatrischer Ausdruck. Das Wort Behinderung faßte als neutraler zusammenfassender Begriff die älteren, jetzt als anstößig und diskriminierend geltenden Wörter für  einzelne Behinderungen zusammen. Ein neuer Wortgebrauch war auch deshalb notwendig geworden, weil die Nazis viele Tausende als minderwertiggeltende Behinderte sterilisieren ließen und später massenhaft ermordeten, wie sie es nannten, „euthanasieren“ ließen. Sie kannten allerdings den Ausdruck Behinderte nicht, sondern benutzten scheinbar wissenschaftlich neutrale Ausdrücke, die die damalige Medizin und Psychiatrie bereithielt.Im Gesetz zur Zwangssterilisation von 1933 ist daher nicht der Ausdruck „behindert“ als führender Begriff enthalten, sondern der Ausdruck „erbkrank“. Danach werden die einzelnen Krankheitsbilder genannt, auf die der Ausdruck zutrifft. Als erbkrank galt, „wer an einer der folgenden Krankheiten leidet:1. angeborenem Schwachsinn, 2. Schizophrenie, 3. Zirkulärem (manisch-depressivem) Irresein, erblicher Fallsucht, 5. erblichem Veitstanz (Huntingtonscher Chorea, 6. erblicher Blindheit, erblicher Taubheit, 8. schwerer erblicher körperlicher Mißbildung.“ Schulbücher dar damaligen Zeit zeigten viel besser auf, um was es den Nazis damals ging. Es ging schon um Behinderung, aber nicht um Behinderung, wie es der moderne Ausdruck nahelegen soll. Es galt darum, daß diese sogenannten Erbkranken  (Ich freue mich, daß mein Computer dieses Wort erbkrank als unbekannt moniert), daß diese sogenannten Erbkranken als Behinderung der Gesellschaft angesehen wurden, sie galten mit einem Ausdruck der damaligen Zeit als „Soziallästige“, die kein Lebensrecht hatten und (wieder ein Nazi-Ausdruck) „auszumerzen“ waren. Sie galten als „minderwertige und unbrauchbare Elemente“, „minderwertiges Erbgut“, „erblich Belastete“, als „antisozial“, als „Degenerierte“, „Verseucher“, „Defekte“, als „Ballastexistenzen“, als „geistig Tote“ und was es an verachtenden Ausdrücken für diese Menschen, zu denen noch Juden, Homosexuelle, Geschlechtskranke und Verbrecher gezählt wurden, noch gab. Bilder des Rastatter Festungslazaretts, das im Dritten Reich als Pflegeanstalt diente, erinnern an diese Zeit.

Ich will jetzt aber hier nicht der menschenverachtenden Sprache und Politik der Nazis nachgehen, sondern  ich will  den etymologischen Sinn der Wörter taub,  Krüppel, lahm, Kretin, toll, blöd, geistesschwach und schwachsinnig, oligophren, debil, imbezil, Idiot sowie Invalider, Verletzter und  Versehrter herausarbeiten, wie er sich vor den Nazis und unabhängig von ihnen entwickelt hatte. Ich hoffe, wir kommen dadurch zu Einsichten, die uns diese Behinderten  menschlich näher bringen, weil wir sie nicht durch die Brille der Nazis sehen müssen. Denn nach dem Ende des Dritten Reiches sind viele dieser Begriffe von dem verachtenden Sprachmißbrauch  der  Nazis mitgerissen worden und gelten heute als tabu, sie werden durch neue Wörter ersetzt, wie zum Beispiel  das Wort Schwachsinn durch Intelligenzminderung, das Wort Krankheit durch das Wort  Störung. Ich werde bewußt nicht nur Ausdrücke erklären, welche die Nazis wie beim oben genannten Sterilisationsgesetz offiziell gebraucht hatten, sondern solche, die Behinderungen anzeigen, werde mich aber auf einige wenige beschränken, die mir besonders wichtig erscheinen.

Beginnen wir mit dem Wort „taub“. Dieses Wort ist bisher nicht stark negativ besetzt. Es ist von allen von mir untersuchten Wörtern das akzeptierteste. Die Nazis benutzten es meist in der Kombination taubstumm. Das Wort „taub“ wird  als Erweiterung  der indoeuropäischen Wortwurzel #dheu auf eine indoeuropäische  Wortwurzel #dheubh, #dhubh zurückgeführt, welche Wörter in germanischen Sprachen und im Griechischen hinterlassen hat.  #Dheu bedeutet stieben und wirbeln  und meint besonders den stiebenden  Staub, Rauch und Dampf. Die Wörter Duft und Dunst hängen damit zusammen. Der Duft kommt und verstiebt gleich wieder. Der Dunst ist feiner Rauch, der verdampft. Die erweiterte Wortwurzel #Dheubh soll stieben, rauchen, neblig, verdunkelt gemeint haben. Wenn es neblig und verdunkelt ist, kann man sich nicht orientieren. Der Nebel verhindert und hemmt die normale Bewegung. Daher  stammt  von #dheubh das griechische Wort  typhlós mit der Bedeutung verstopft,  blind, stumpf und unsinnig ab. Verwandt damit ist toub, das im neunten Jahrhundert gehörlos, unempfindlich, stumpf und unsinnig bedeutete. Es ist zu erkennen, daß das griechische typhlós blind, das althochdeutsche toub aber gehörlos bedeutet. Beide Wörter meinen also Behinderungen, wenngleich nicht mehr bezogen auf den Nebel außen, sondern Behinderungen verschiedener Körperteile, im Griechischen der Augen, im Deutschen der Ohren. In beiden Fällen sind die Organe stumpf, unbrauchbar, weshalb toup, toub im Mittelhochdeutschen auch leer, wertlos, abgestorben und dürr  bedeutete. Heute noch ist eine Taubnessel eine Nessel, die nicht einmal brennt. Im Neuhochdeutschen hat sich bei taub die Bedeutung „gehörlos“ erhalten, ein taubes Glied ist aber wie abgestorben, ohne Wert, ohne Empfindung und eine taube Haselnuß ist leer, gehaltlos und von daher ohne Nutzen. Da man sich mit tauben Menschen aber nur schwer verständigen kann, galten sie fälschlicherweise als geistig beschränkt und dumm. Dumm wurde ursprünglich tumb geschrieben und bedeutete unwissend, unbegabt, unvernünftig, später schwach von Sinnen oder Verstand, töricht und stumm. Es wurde später zu dumm nasalisiert  und bedeutet dasselbe wie das Wort „doof“ , (niederländisch doof = taub), das sich  erst im 20. Jahrhundert von Berlin aus im ganzen deutschen Sprachgebiet verbreiterte. Da doof mit taub zusammenhängt, bedeuten englisch deaf und schwedisch döv auch taub. Erinnern wir uns an #dheubh = stieben und an die dem griechischen typhlós und dem altgermanischen toub gemeinsame andere Bedeutung „unsinnig“, so verstehen wir, daß jemand, der eine Tobsucht hatte, von Geist und Sinnen vernebelt, deshalb außer sich war, tobte  und raste.

Auch das Wort toll soll weitergehend von  der indoeuropäischen Wortwurzel indoeuropäisch #dheu abstammen. Toll meint verrückt, nicht bei Sinnen, ausgelassen, wild und großartig. Näherliegend soll es auf germanisch #dwula = getrübt, vernebelt, verwirrt zurückgehen. Wir erkennen die Behinderung, wenn wir uns die damit zusammenhängenden Wörter althochdeutsch twellen = zurückhalten, aufhalten, sich aufhalten und weilen, altsächsisch dwellian = aufhalten, hindern, altnordisch dvelja = verzögern, sich aufhalten und  althochdeutsch tw-ala  = Verzug, Verzögerung und Überdruß  anschauen. Dazu gehört griechisch tholós = der Schlamm, in dem man steckenbleibt und die Tinte des Tintenfisches, die einen umnebelt und am Fortschwimmen hindert. Griechisch tholerós ist daher schlammig, trübe und verwirrt.  Wer toll ist, ist also umnebelt, daher gehemmt und verwirrt. Das Gehemmte ist noch im englischen Wort dull = dumm, schwerfällig und stumpfsinnig spürbar. Althochdeutsch hieß daher ir-twelan auch betäubt und kraftlos sein. Aber das Wort toll ist durchaus ambivalent. Wer geistesverwirrt ist, kann aus seiner Starre und Betäubung erwachen und  plötzlich eine tolle Wut, wie man im 18. Jahrhundert sagte, also eine Tollwut entwickeln  und wegen seiner Tollheit, seiner Verrücktheit, seinem verrückten Tun oder seiner dulköne (15. Jh.), seiner Tollkühnheit (17. Jh.) oder Unbesonnenheit also, im17.Jahrhundert ins Tollhaus kommen. Tollheit ist aber ansteckend, man fühlt sich oft toll, also großartig und kann es manchmal seit dem 16. Jahrhundert genießen, ganz ungehemmt zu tollen, fröhlich, lärmend und ausgelassen zu lärmen, zu spielen und herumzuspringen.

Wer aber lahm ist, kann das nicht. Er ist bewegungsuntüchtig, behindert, matt oder langweilig. Er ist lami (altnordisch) = verkrüppelt. Es ist, als seien seine Glieder zerbrochen. Slawisch lomitis bedeutet brechen, russisch heißt lom der Bruch.  Schon althochdeutsch lam hieß daher lahm, gelähmt, abgestumpft. Lomóta heißt auf Russisch das Gliederreißen. Derjenige, dessen Glieder ein Gliederreißen hat, dessen Füße also lahm, kraftlos und ohne Funktion sind, der lahmt, er hinkt. Er hat, wie ein hinkendes Pferd eine Lähme. Im 16. Jahrhundert war ein schlaff herabhängendes Ohr ein Lummelohr. Genauso sieht ein Lümmel aus, einer, der in nachlässiger Haltung herumsteht und sich lümmelhaft und  lahmarschig, kurz  wie ein Flegel  benimmt und herumlümmelt. Vielleicht hört er gerade meinem Vortrag zu und findet ihn ausgesprochen langweilig und lahm, kann sich aber nicht anders als durch diesen lahmen  Protest ausdrücken.

Vielleicht fühlt er sich aber auch durch eine Bemerkung von mir verletzt. Das Wort verletzen geht auf ein althochdeutsches Verb lezzen = aufhalten, hemmen, hindern verletzen zurück. Noch heute heißt holländisch letten hindern, beletten verhindern  und schaden und letsel der Schaden und die Verletzung sowie belet die Abhaltung. Auch auf englisch war früher to let verhindern.  Die Wörter haben Beziehung zu den Wörtern lasch und lässig. Wer laß war oder lässig ist, ist träge, gleichgültig, matt und schlaff.  Er ist schlaff und energielos und läßt alles zu, erlaubt alles, gibt, was er hat, ab oder auf. Aufgrund seiner Lässigkeit verhindert er, daß etwas vorangeht. Diese Verhinderung und Hemmung hieß mittelhochdeutsch letze. Letze bedeutete auch das Ende, der Abschied, das Abschiedsgeschenk. Deshalb wurde aus zuo letze = zum Abschied unser zu guter Letzt = zum guten Ende. Wenn man etwas zu Ende brachte und sich verabschiedete, konnte man sich erholen und Freundlichkeiten erweisen. Deshalb nahm das Wort letzen die Bedeutung sich erquicken und laben an. Mit dem Präfix ver- bei verletzen bedeutet es aber verwunden, beschädigen, kränken, wogegen verstoßen. Und das Wort Verletzung meint seit dem 15. Jahrhundert sowohl das Verletzen als auch die Körperwunde.

Früher sagte man für verletzt  auch versehrt. Ein Versehrter ist ein Verletzter, Verwundeter, der großen Schmerz, althochdeutsch s-er , ertragen muß. Damit hängt das Adverb sehr zusammen, das früher schmerzlich, gewaltig und heftig bedeutete. Ein Kriegsversehrter ist daher ein durch Wehrdienst beschädigter und körperlich beeinträchtigter Soldat, der durch die Wehrdienstverletzung körperbehindert ist.

Er ist dann ein Invalide. Und aufgrund seines Gebrechens (hören Sie lom, den Bruch mit?) dienst-  und arbeitsunfähig. Das Wort Invalide kommt ursprünglich vom lateinischen invalidus = kraftlos, schwach und krank. In Spanien wird der Invalide minusválido genannt, also der, welcher weniger wert ist. Validus war jemand, der stark, kräftig und gesund, der wohlauf, einflußreich und wirksam war. Wer Latein gelernt hat oder Asterix gerne liest, kennt den  Abschiedsgruß vale = lebe wohl! Lateinisch valere bedeutet wert sein, stark sein, gelten, die italienische Valuta ist ein Zahlungsmittel ausländischer  Währung, ein Zahlungsmittel mit Wert also. Verwandt mit validus sind die deutschen Wörter walten = ursprünglich herrschen, verwalten =  in Gewalt heben, für etwas sorgen, seit dem 15. Jahrhundert die abgeleiteten Wörter Verwaltung, aber auch der Anwalt und die Gewalt. Der Anwalt ist eigentlich der, welcher über etwas Gewalt hat, seit dem 19. Jahrhundert auch der Rechts- und Staatsanwalt.

Im Mittelhochdeutschen gab es aber noch ein anderes Wort für lahm, nämlich gekrüpelt. Gekrüpelt geht auf ine indoeuropäische Wortwurzel zurück, von der sich deutsche Wörter wie kriechen, krumm, Krücke, Kringel, Krippe, Kropf und  Krüppel ableiten. Der Krüppel als mißgebildeter, gehbehinderter Mensch ist eigentlich einer, der gewunden, zusammengekrümmt, krumm und lahm ist. Er ist jemand, der kriecht, sich einzieht, sich in niedriger Haltung am Erdboden schmiegt und schleicht. Schwedisch krypa heißt kriechen. Wir denken an Victor Hugos Glöckner von Notre Dame. Wenn er geht, mit seinem Buckel, sieht er  gewunden aus wie ein Kropf. Er braucht eine Krücke oder einen Krückstock, einen Stab also, der wie er selbst krumm ist, nämlich einen krummen Griff hat. Vielleicht bietet er auf dem Markt in seiner Krippe, seinem geflochtenen Futtertrog, der entstand, indem man Flechtwerk immer krümmte und krümmte und so in Form brachte, Waren feil. Vielleicht war er auch, wenn er im 19. Jahrhundert gelebt hat, in einer Krippe, einem Heim für Findelkinder abgegeben worden. Diese Bezeichnung für eine Unterbringungsanstalt leitet sich von der Krippe der Heiligen Familie ab und wird seit dem 19. Jahrhundert auch für die Kinderkrippe als Einrichtung zur Betreuung von Säuglingen und Kleinstkindern und für Kleinstkinder arbeitender Mütter gebraucht. Diese Krippen sind Aufbewahrungsorte, in denen die Kinder auch ernährt werden. Wie gesagt, eine Krippe ist ein Futtertrog. Auch der Kropf, die krankhaft vergrößerte Schilddrüse des Menschen, hat zwar ihren Namen von der gekrümmten, gewundenen Form, bedeutet zugleich aber auch den Vormagen der Vögel. Der Kropf hat also wie der Futtertrog „Krippe“ etwas  mit der Nahrungsaufnahme zu tun. Raubvögel kröpfen, sie nehmen die Nahrung mit dem Kropf auf und fressen.

Wenn Menschen einen Kropf hatten, waren sie Kretins. Kretins galten als durch einen Kropf mißgebildete Schwachsinnige. Der Ausdruck Cretin stammt aus den Alpentälern im Wallis und Savoyen, in denen aufgrund des vorherrschenden Jodmangels oft Kröpfe auftreten. Der Ausdruck Cretin  ist ursprünglich positiv konnotiert Ein Cretin war ursprünglich ein Christ, französisch chrétien, altfranzösisch cresti(i)en, von lateinisch Christianus = der Christ oder, wie Luther gesagt hat, der Christenmensch. Ein Cretin war ein menschliches Wesen, ein Mensch, durchaus auch im Unterschied zum Tier. Durch Verknüpfung mit altfranzösisch crestien = der Leidende, der Kranke wird Cretin, nachdem das Wort um 1800 als Kretinismus ins Medizinerlatein eingegangen ist, seit dem 19. Jahrhundert in Deutschland und Frankreich eingeengt und mit negativer Wertung als Ausdruck für dumme, beschränkte Schwachsinnige gebraucht.

Der Ausdruck  Schwachsinn   bezeichnete  seit dem 18. Jahrhundert einen Mangel an Empfindung und Verstand. Die Ausdrücke schwachsinnig oder geistesschwach wurden gleich benutzt, wobei die Störung einmal im Bereich der Sinne, das andere Mal im Bereich des Geistes liegen sollte. Man erkennt daran, daß der Ort der Störung  nicht festlag. Kraepelin  benutzte den Ausdruck, um eine Vielzahl von psychischen Störungen zu bezeichnen. Er kannte unter anderem einen intellektuellen, einen moralischen und einen anergetischen Schwachsinn und zählte auch verschiedene Demenzformen dazu, wie die paralytische, die senile und eine akute Demenz sowie die Dementia praecox, die später von Bleuler mit einem Kunstwort als Schizophrenie bezeichnet wurde. Der Ausdruck  Schwachsinn wurde immer mehr auf eine intellektuelle Behinderung eingegrenzt und später als psychiatrischer Terminus dem Ausdruck Blödsinn entgegengesetzt. Schwachsinn bedeutete um 1920 als psychiatrischer Fachausdruck die geringeren, Blödsinn bedeutete die höheren Grade der geistigen Behinderung.  Heute wird in der Psychiatrie der Ausdruck Blödsinn nicht mehr benutzt.

Das Wort blöd hieß dagegen  althochdeutsch bl-odi = körperlich schwach, träge und furchtsam. Es soll Beziehungen haben zum Wort  bleuen = schlagen, zum Bleuel, dem Wäscheklopfer, zur Pleuelstange und zum Wort bloß, das nackt, unbedeckt und rein bedeutet und dessen Substantiv Blöße die Nacktheit noch zeigt. Wen man bloßstellt, der ist ungeschützt, den kann man schlagen.  Altnordisch blautr bedeutet weich, zart, schwach, furchtsam und wie bei dem deutschen Wort blöd, das es seit dem 16. Jahrhundert gibt, auch schon geistesschwach.  Unklare Beziehungen ergeben sich zu skandinavischen Wörtern, die etwas mit Feuchtigkeit zu tun haben.  Jedenfalls stammt das Wort blöd  von einer Wortsippe, die etwas Schwaches, Ungeschütztes, auch Schüchternes und Verzagtes und damit etwas Gehemmtes ausdrückt. Im 17. Jahrhundert wurde das Wort blödsinnig für schwachsinnig benutzt,  das Hauptwort Blödsinn kam erst im 18. Jahrhundert auf. Die alte Bedeutung blöd = furchtsam kommt in dem Spruch „sich oder sich nicht entblöden“ zum Vorschein. Jemand, der sich nicht entblödet, versucht, seine Furcht zu überwinden. Die Bedeutung vom Wort blöd hat sich ansonsten im Deutschen auf schwachsinnig eingegrenzt, was auch in den Wörtern blödeln  und verblöden, das ursprünglich einschüchtern bedeutete, deutlich wird.

Jetzt kommen wir zu den Wörtern oligophren, debil, imbezil und idiotisch.  Das Wort Oligophren wurde wie das Wort Schizophren als Kunstwort von Kraepelin geschaffen und bedeutet wenig Geist oder Seele. Es ist eine moderne Wortschöpfung aus alten, griechischen Wörtern. Ich möchte nicht näher darauf eingehen.

Das Wort debil für den leichtesten Grad der geistigen Behinderung ist interessanter  Es  bezog sich ursprünglich nicht auf den Geisteszustand. Wer, lateinisch gesprochen, debilis war, war gelähmt, gebrechlich, schwach und haltlos. Im Wort debilis steckt de = weg von und habilis = tauglich, behende, beweglich. Habilis stammt vom Verb habere, das „vermögen, können und die Fähigkeit und Mittel haben“ bedeutet. Das Verb debilito  bedeutete daher lähmen, schwächen, der Fassung berauben und entmutigen. Das dazu gehörige Substantiv debilitas = die Lähmung, Gebrechlichkeit und Schwäche  wurde in der Form Debilität im Deutschen als körperliche Schwäche und Gebrechen seit dem 17. Jahrhundert gebraucht. Seit dem 19. Jahrhundert wird auch das Adjektiv debil verwendet. Es bedeutete damals körperlich schwach und gebrechlich. Seit den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts werden die Wörter Debilität und debil auf die leichteste Form der Geistesschwäche eingeengt und zu einem psychiatrischen terminus technicus. Die Römer benutzten das Wort debilis aber auch noch in einem festen Ausdruck in Kombination mit dem Wort mancus. Sie nannten einen Körperbehinderten einen homo mancus ac debilis. Mancus bedeutet gebrechlich, verstümmelt, unvollständig, mangelhaft und schwach. Ein homo mancus ac debilis ist also jemand, der gebrechlich, verstümmelt und daher geschwächt war. Von mancus ist spanisch manca =die linke Hand, französisch manchot und spanisch manco einarmig sowie baskisch mangu  und holländisch mank = hinkend, und italienisch manco = mangelhaft abgeleitet. Wir kennen das Wort Manko  im Geschäftsleben als den Fehlbetrag  und  Mangel. Wie wir oben gesehen haben, ist für Spanier  also die linke Hand manca wie eine mangelhafte, verstümmelte Hand. Wenn man an die Bedeutung von mancus als behindert denkt, ist es aussagekräftig und bedenkenswert, daß auf Kalabresisch und auf Sizilien manka der Norden bedeutet.

Jetzt zum Wort Imbezil. Das Wort imbezil  kommt aus dem Latein. Und zwar  von in = ohne und bacillus, baculum = der Stab. Gemeint ist ohne stützenden Stab. Wir kennen das Wort baculum von den aus dem Griechischen stammenden Wörtern Bakterium oder Bazille. Es sind Stäbchenbakterien.

Imbezil bedeutet also = ohne Stab. Wer aber ohne Stab und ohne Stütze ist, ist schwach, kraftlos und kränklich. Ich habe nicht finden können, wer diesen Ausdruck geschaffen hat.

Auffällig ist, daß diese beiden Wörter debil und imbezil beinahe das gleiche ausdrücken. Aber nehmen wir das letzte dieser psychiatrischen Fachwörter. Das Wort Idiot stammt aus dem Griechischen. Hier meinte idiotes den einfachen Bürger, gewöhnlichen Menschen und den Nichtfachman und später auch den Nichtwisser. Der idiotes wurde als Privatmann, von idios = eigen, privat, als Gegensatz zum Mann gesehen, der im öffentlichen, staatlichen Dienst stand und daher als klüger und gebildeter galt. Auch in Deutschland  war vom 16. Jahrhundert bis 1800 ein Idiot einfach ein Ungelernter oder Laie, später auch ein Stümper. Ende des 17. Jahrhunderts kam das Wort Idiotismus auf, das die Mundarteigentümlichkeit oder Eigenart einer Sprache meinte. Zum „Schwachsinnigen“ wurde das Wort  Idiot erst im 19. Jahrhundert. Damals kamen auch die Wörter idiotisch,  und als Ersatz für den Idiotismus das Wort Idiotie auf. Dieser Bedeutungswandel wurde im Englischen angeregt. Hier hatte sich der Bedeutungswandel vom einfachen Bürger zum Narren, Blöd-, und Schwachsinnigen schon um 1300 vollzogen.

Soweit die ausgewählten  speziellen Wörter, die  etwas mit Behinderung zu tun haben. Wie wir gesehen haben, wird bei den Wörtern oft die Behinderung schon durch die Etymologie selbst deutlich. Bisher haben wir aber doch nur besondere Wörter für Behinderungen zu erklären versucht Jetzt möchte ich  die Frage stellen, was das Wort Behinderung und die Wörter, welche in verschiedenen Sprachen damit zusammenhängen, selbst bedeuten. Das deutsche Wort Behinderung  ist das Substantiv des Wortes behindern. Behindern wird erklärt mit hemmen, störend aufhalten, jemandem im Wege stehen, einer Sache hinderlich sein. Das Grundverb „hindern“  bedeutet jemanden von etwas zurückhalten. Im 9. Jahrhundert gab es das Wort gihintaren mit der Bedeutung betrügen, herabwürdigen. Im 10. Jahrhundert findet sich das Verb hintaren, welches  hemmen, vorenthalten, herabwürdigen und erniedrigen bedeutete. Man kann erkennen, daß schon althochdeutsch mit hintaren neben einer Hemmung eine Herabwürdigung  und ein Betrügen verbunden ist. Das Wort firhintaren aus der gleichen Zeit  bedeutet dem entsprechend beeinträchtigen, unterschlagen, aber auch betrügen. Viel klarer als bei  dem späteren Wort hindern  kann man erkennen, daß diese Wörter von der Präposition „hinter“ abgeleitet sind. Hinter als Präposition zeigt ursprünglich ein konstantes Lageverhältnis  in Ruhe oder gleichlaufender Bewegung, wie es in dem Satz:  „Ich stehe hier am Rednerpult“ zum Ausdruck kommt oder  die Richtung auf einen Zielpunkt an, wie in dem Satz: „Der Hund sprang hinter das Haus“.  Hinter kann aber auch zeitlich gemeint sein , wie in dem Ausdruck „hinter sich bringen“. Und es kann auch adjektivische Bedeutung haben, also der Hintere. Althochdeutsch hintar-i war das hintere Ende, der Schwanz. Daraus entwickelte sich im 18. Jahrhundert der Hintern. Wir kennen aber auch die Wortzusammensetzungen Hintergrund, hintergründig und Hintertreffen. Ein Treffen war früher ein Kampf. Wer im 18. Jahrhundert bei Kampf und Sieg nur am Rande oder gar nicht teilnahm, war im Hintertreffen, er gehörte zur letzten Schlachtlinie oder Reserveeinheit. Der militärische Terminus Hintertreffen wurde später verallgemeinert und bedeutet als „ins Hintertreffen kommen oder geraten“ in eine ungünstige Position oder in Rückstand geraten. Wer nach hinten fällt, fällt zurück. Altenglisch hinder und neuenglich behind  heißt =  hinten, nach hinten und zurück. Wer oder was einen behindert, hemmt einen, ist hinderlich, steht einem im Wege und wirft einen zurück. Es verhindert, daß man etwas macht oder daß etwas geschieht. Jedenfalls muß man wie Pferde, die über Gräben, Hecken und andere Barrieren beim Hindernisrennen springen müssen, zuerst Hindernisse oder Hemmnisse überwinden, damit man etwas bewegt.

Das kann das Pferd aber nicht, wenn ihm die Vorderfüße zugebunden sind, um es am Fortlaufen zu hindern. Genau dieses bedeutet oberdeutsch das Wort hemmen. Isländisch hemlil ist die Beinfessel. Mittelniederdeutsch ist ham  ein abgegrenztes Stück Weideland wie englisch mundartlich ham ein umzäumtes Feld. Im Wort hemmen ist also die durch eine Fessel oder einen Zaun verhinderte Bewegung, die Bremse und der dadurch bewirkte Stillstand enthalten. Der Psychoanalytiker Harald Schultz-Hencke hat in seinem weltberühmten Buch „Der gehemmte Mensch“  Menschen beschrieben, die aufgrund innerer Zwänge und Fesseln durch nicht aufgelöste Konflikte unfähig sind, ihr Leben in +-eigenem Recht zu gestalten.

Hindern heißt auf isländisch hindra und aftra. Wir denken bei aftra an  das englische aft = achtern, after = hinterher, nach, danach, nachdem und später und an das deutsche Wort der After = der Hintern. Dazu passend heißt auf isländisch fyrir aftan  hinter und hinten und aftur zurück. Man könnte sich vorstellen, daß statt von dem Wort hinter auch von after in den verschiedenen germanischen Sprachen Wörter  mit dem Bedeutungsinhalt „Behinderung“ hätten gebildet werden können. Daß dies naheliegt, erkennt man auch beim Griechischen. Hier wird ein Wort für hindern zwar nicht vom Wort für hinten ópisthen oder píso abgeleitet. Neugriechisch  k-ólos  heißt aber der Hintern, der Steiß und Popo und k-ólyma das Hindernis, Hemmnis zu k-olý-o, verhindern, hemmen. Ein anderes griechisches Wort für Hindernis, Hemmnis próskomma meint eigentlich den Anstoß. Denn das dazugehörige Verb proskópt-o bedeutet anstoßen. Woran man anstößt, erlebt man als Sperre, Schranke oder Hindernis.

Die Bretonen nennen dies Hindernis  harz, das man mit Stop übersetzen könnte. Mit dem Wort harz bilden sie neue Wörter, so harz-labour = Stop die Arbeit = Streik, oder harz-debrin, = Stop-essen = Hungerstreik, auch   harz-lamm = Stop-Sprung =der Fallschirm. Ein anderes bretonisches Wort für Hindernis skoilh meint den Bremsklotz und ungelegenen Zwischenfall. Wenn wir an das Hindernisrennen denken, so können wir nachvollziehen, daß ungarisch gátol = hemmen, hindern von gát = Damm, Deich, Hürde, Einhalt kommt. Mit gát hängt auch akad = steckenbleiben, stoßen, sich vorfinden und akadály = das Hindernis zusammen. Das schon genannte gátol und akadályoz bedeutet daher ebenfalls behindern. Auch im Polnischen wird ein Wort für hemmen, hindern = tamowa´c  von einem Wort für Damm =  tama abgeleitet.

Das Wort für den  Behinderten, wie wir es medizinisch gebrauchen, heißt japanisch sh-ogáisha. Es gibt drei Grundworte, die alle gleich shogai  heißen: Shogai  bedeutet das „Hindernis, die Verletzung“ und „das ganze Leben, der Lebensweg“. Es wäre möglich, hieraus eine Psychologie zu machen. Wer lebt, erleidet stets Verletzungen. Diese Verletzungen begleiten ihn sein ganzes Leben, so daß sein Leben immer als Hindernis aufgefaßt werden kann.

Was einen hindert, steht einem im Weg. Griechisch empódisma das Hindernis ist vom Wort empod-on abgeleitet. Es ist das, was einem em = im oder hier vor dem pous = Fuß steht. Genau die gleiche Bedeutung hat lateinisch impedire. Es bedeutet aber auch fesseln, verwickeln, unzugänglich machen und versperren. Das Substantiv impedimentum heißt daher Hindernis. Wenn man schnell vorankommen will, können einen Packpferde und jedes Gepäck sehr hemmen. Diese Bedeutungen hat der Plural von impedimentum, das Wort impedimenta. Italienisch impedito, spanisch impedido und rätoromanisch impedi heißt der Körperbehinderte. Auch eine  Schwangerschaft kann als  hinderlich empfunden werden, deshalb heißt kastellanisch anpedia = schwanger. Ein weiteres lateinisches Wort für hindern obstare bedeutet einfach ob = dagegen stare = stehen, also dagegenstehen. Obstaculum ist daher das, was entgegensteht, das Hindernis. Es kommt im Italienischen als ostacolo,  aber auch im Englischen als obstacle vor. Griechisch könnte man „ob“ mit „antí“ übersetzen. Antí heißt gegenüber, hinter und anstelle. Von enantíos gegenüberliegend oder –stehend wird enantí-oma das Hindernis gebildet.

Die alten Griechen hatten übrigens noch ein anderes Wort für Behinderung, das zeigte, was ihnen wichtig war. Sie waren freie Menschen, die für niedere Arbeiten Sklaven hatten und ihre freie Zeit, ihre Muße mit Vorträgen, Gesprächen und Studium verbrachten. Alles dieses, die Muße und die freien Tätigkeiten  nannten sie scholä. Wir haben von diesem Wort scholä  unser Wort die Schule abgeleitet. Mangel an Muße, also Arbeit und Beschäftigung empfanden die alten Griechen als Behinderung ihrer Freiheit und ihres Dranges zum freien Tun. Ascholía, also Mangel an Muße und freier Betätigung war daher ein Wort, das wir mit  Behinderung übersetzen können.

Die alten Griechen sind für ihre Fähigkeit bekannt, durch Muße sich freieren Problemen, z. B. der Philosophie zuwenden zu können und für ihre Begabung dazu bekannt. Die Engländer kennen wir als das Volk, das den Ausdruck fairness geprägt hat. Sie haben einen sense of fairness, einGerechtigkeitsgefühl also. Auch das Wort handicap stammt von ihnen. Es gibt zwei Erklärungen für dieses Wort. Entweder soll es vom lateinischen manucaptus kommen. Manucaptus heißt mit der Hand (manus) ergriffen (captus) und war der Rechtsausdruck für die Eigentumserwerbung durch Handauflegung bei der Gefangennahme. Der manceps war der, welcher einen als Beute erworbenen Sklaven, den man als Sache auffaßte und deshalb mit einem neutralen Ausdruck manicipium nannte, im Krieg durch Handgriff zum Eigentum erklärte. Daher war manceps der Aufkäufer, Pächter und Besitzer. Durch Austausch von lateinisch manus = Hand zu germanisch hand sei es zum englischen

Wort  handicap gekommen. Das liegt nahe, denn auch althochdeutsch war munt  Hand und Schutz, wie  es bei uns heute noch in den Wörtern Mündel, Vormund und bevormunden deutlich ist. Die andere Erklärung für handicap ist aber spannender. Danach geht das Wort darauf zurück, daß im 17. Jahrhundert das bei einer Art Lotterie gesetzte Geld oder Wertsachen in eine Mütze gegeben wurde, daher hand in cap = Hand in die Mütze, aus der der Schiedsrichter anschließend das gewonnene Geld verteilte. Dieser Schiedsrichter wurde handicapper genannt. Ende des 19. Jahrhunderts wurden handicap races =  Pferderennen geritten.  Der Schiedsrichter wurde auch hier handicapper genannt.  Er versuchte, ein faires Spiel zustandezubringen, indem er die stärksten Pferde belastete und den schwächeren Pferden Strecken- oder Zeitvorgaben genehmigte. Das bedeutete einen Vorteil für die schwächeren und einen Nachteil für die stärkeren Pferde. Dadurch wurde das Wort handicap allmählich  mit Benachteiligung, Nachteil, Behinderung gleichgesetzt. Das Wort drang auch in andere Sprachen ein. In Italien ist handicappato der Behinderte, im Deutschen kennen wir  handikapen und schon eingedeutscht gehandicapt als behindert, benachteiligt.

An diesem Wort handicap ist zu sehen, daß oft die Bedeutung von Wörtern sich verschlechtern. Handicap hätte genauso gut die Bedeutung Vorteil annehmen können. Interessant ist dabei auch, daß es hierbei um den Ausgleich von Vorteil und Nachteil geht. Ist jemand im Nachteil, so geht es darum, ihm durch Vergünstigung  eine Chance zu geben. Wer hinten liegt, behindert ist, bekommt einen Vorsprung, wird nach vorne gesetzt. Zugleich gibt es aber auch die andere Möglichkeit, nämlich die, den Stärkeren,  Bevorteilten nach hinten zu setzen, zu benachteiligen. Nur wenn man das tut, gibt es fair play und damit  Gerechtigkeit.

Was ist aber der Gegensatz von hindern – nun fordern. Im Althochdeutschen war fordar-on begehren, verlangen,  sich bemühen um, fördern. Es ist ähnlich wie das Wort hindern vom Wort hinter abgeleitet ist, vom Wort vorder, mit der Bedeutung vorn, am Anfang befindlich und früher abgeleitet. Die ursprüngliche Bedeutung ist verlangen, daß etwas herauskommt. Später bedeutete es zum Zweikampf auffordern. Für unseren Zweck ist bedeutsam. daß, wie die Wörter sagen, wer behindert ist, gefordert und gefördert werden sollte. Man muß sich um ihn bemühen. Wichtig ist, ihn zu fordern, seinen Kräften gemäß herauszufordern, aber darauf zu achten, ihn nicht zu über- oder unterfordern. Die Forderung muß auf den Grad und die Art der Behinderung eingestellt sein.

Ferner verwandt mit fordern ist das Wort fördern. Es soll vom Wort „fort“ stammen, das wie das Wort vorder mit dem Wort vor zusammenhängt. Fördern heißt ursprünglich vorwärts bringen, wohin bringen. Genau das wollen wir mit den Behinderten, sie vorwärts bringen und dadurch unterstützen und begünstigen. Auch englisch heißt furtherance Förderung. Das Wort fördern nahm aber auch  die Bedeutung „Bodenschätze zutage bringen und abbauen“ an. Wenn wir Behinderte fördern, können wir das so auffassen, als würden wir in ihnen vorhandene Schätzem bergen. Wenn wir ihnen helfen, sich zu bewegen, werden sie aktiv und lebendig. Das ungarische Wort für fördern „elömozdit“ ist von élö = lebendig und mozdit = bewegen, rühren, regen abgeleitet. Èlömozdit = fördern könnte man also mit „zum Leben bewegen, lebendig machen“ übersetzen. Viele Wörter für helfen, unterstützen und fördern  haben diesen vorwärtstreibenden Sinn. So englisch promote und  rätoromanisch promover von pro vorwärts und movete, mote = bewegen, dänisch fremme  (von frem = vorwärts), französisch activer (aktivieren) oder faire avancer (vorwärts bringen) von spätlateinisch ab-ante = vorweg.

Wir müssen aber vorsichtig sein. Zu große Forderung ist Überforderung. Ich präge hier ein neues Wort, indem ich sage, zu große Förderung ist Überförderung. Wir wissen, wie lähmend eine overprotecting mother sein kann. Die Bretonen, jenes altertümlich keltische Volk in der Bretagne, das ich sehr schätze, sagen harp!, wenn sie stop! sagen. Harp ist die Stütze, die Hilfe und Unterstützung, aber auch der Halt, die Pause und das Hindernis, die Hürde. Stützen, helfen und unterstützen ist gut. Zu viel  Unterstützung und Hilfe kann aber auch ein Hindernis sein. Bei Behinderten kann zu große Unterstützung, Hilfe und Überförderung verhindern, daß ein ausreichendes und /oder mögliches Maß an Selbständigkeit gewonnen wird.

Wir müssen also den Behinderten den ihnen gemäßen Stab (den baculum) in die Hand geben. Und müssen sie unterstützen, wo dies nötig und möglich ist. Wir müssen uns bemühen,  Abhilfe zu schaffen, wo dies möglich ist. Sorge heißt nämlich einmal dieses, nämlich Hilfe, Abhilfe schaffen. Mit der anderen Bedeutung von Sorge, nämlich Kummer und Gram und der Angst könnten wir die Behinderten überlasten und durch Angst und Schuldgefühle von uns abhängig machen. Deshalb ist Fürsorge, tätige Bemühung um jemanden, der ihrer bedarf, eine sehr menschliche Haltung. Wenn wir aber sorgenvoll sind und  statt den Behinderten nach ihren Bedürfnissen beiseite zu stehen, sie als Sorgenkind betrachten, damit also nicht, vor allem wenn es sich um erwachsene Behinderte handelt, als Gleichberechtigte, sondern immer wie Kinder behandeln, werden wir ihnen nicht gerecht. Wir müssen nämlich  schauen, wo sie statt „debilis“ zu sein, „habilis“ sind, also Fähigkeiten haben oder müssen ihnen die Mittel geben, wieder oder neue Fähigkeiten zu erwerben, sich also zu rehabilitieren. Wir müssen ihnen ihre Validität, ihren Wert und ihre Würde geben. Wir müssen sie, da wo sie schwach sind, stärken. Sie allerdings manchmal auch psychisch tragen, und dadurch stützen. Das italienische Wort sostenere = stützen, tragen, unterstützen stammt vom lateinischen Wort sustineo, aus sub = empor und tineo = halten ab. Manchmal bedeutet Hilfe und Unterstützung einfach nur eine Schulter zum Anlehnen zu geben bzw. zu haben, was beim bretonischen Wort skoaz deutlich wird, das Hilfe, Unterstützung, aber auch die Schulter bedeutet.

Das geht aber nur, wenn wir nicht von negativen Ausdrücken ausgehen. Die oben genannten Wörter für Behinderungen sind zumeist im Laufe einer langen Zeit gewachsen. Immer wieder wird ein Ausdruck eingeengt. Wir sehen, wie Kraepelin  und andere Kunstwörter wie Schizophren und Oligophren geschaffen haben, um einen neuen Sachverhalt zu beschreiben. Ich persönlich finde die Wörter Störung und Behinderung sperrig. Wahrscheinlich waren sie nach den Erfahrungen mit dem, Umgang mit Behinderten im Dritten Reich, auf den die Bilder der Pflegeanstalt Rastatt verweisen, notwendig. „Schizophrene“ und „schwachsinnige“ Patienten und andere damals sogenannte „Ballastexistenzen“ wurden sterilisiert und später durch die sogenannte „Euthanasie“ wie es hieß, „ausgemerzt“. Nach dem Zweiten Weltkrieg versuchte man, von diesen mörderischen Vokabeln wegzukommen. Man empfand auch die psychiatrischen Bezeichnungen als demütigend. So versuchte man, neue, zusammenfassende  Bezeichnungen zu finden, die nicht diskriminieren. Ich finde aber, daß das Wort Störung, das an Stelle des Wortes Krankheit neu benutzt wird, mich stört. Bei dem Wort „behindert“ stört es mich, daß immer noch  ein weiteres definierendes Wort dazukommen muß, also körperlich, geistig, seelisch und dann behindert. Ich empfinde das Wort „behindert“ auch wie ein Kunstwort, so wie es die Wörter Schizophrenie und Oligophrenie sind. Die Wörter für die einzelnen Behinderungen haben eine Geschichte, die das Wort „der Behinderte“ noch nicht hat. Es ist aber auffällig, daß unsere Ursprache, das Indoeuropäische, offensichtlich noch keine Wörter für Behinderungen gekannt hat und daß die  in den Einzelsprachen entstandenen Wörter bei gleichem Urwort so stark differieren, wie griechisch typhlós = blind und deutsch taub. Zudem besteht offensichtlich eine Tendenz zur Einengung und Verschlechterung der Begriffe, auch ohne die Nazis. Interessant ist auch, daß viele Wörter wie oben dargestellt den modernen Satz: „Behindert ist man nicht. Behindert wird man.“ direkt zum Inhalt haben, wie das deutsche Wort „hemmen“, wie lateinisch „obstare“ und andere. Letztlich  könnte es sein, daß auch das Wort „Behinderter“  trotz unserer Bemühungen, das Wort neutral und freundlich  zu verwenden, im Laufe der Zeit einen negativen Sinn bekommt. Deshalb ist für mich der Satz im Grundgesetz : „Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.“ auch  sprachlich schwierig. Er hat drei Wörter, die negativ konnotiert werden können, nämlich die Wörter niemand, Behinderung und benachteiligt.

Ich würde deshalb die Behinderten positiv konnotiert die Förderungswürdigen nennen. Dann könnte der Satz im Grundgesetz lauten: „Jeder  Förderungswürdige muß gefördert werden.“ Allerdings wäre es möglich, daß auch dann ein negativer Ton hereinkommt. Denn man könnte sich fragen, wer denn würdig ist, gefördert zu werden. Jedenfalls kommt es darauf an, positive Begriffe zu benutzen, allerdings ohne euphemistisch zu sein, ohne also die Realität zurechtzubiegen. Ich hoffe, Ihnen ist deutlich geworden, wie sehr Sprache unser Verständnis von Behinderung beeinflußt bis hin zu politischen Entscheidungen und daß es nicht ausreicht, bestimmte Begriffe, weil sie mißachtend zu sein scheinen oder sind, nicht zu verwenden. Wir müssen uns immer damit auseinandersetzen, welche Begriffe wir verwenden. Und wir sollten uns auch darüber im Klaren sein, daß alle benutzten Wörter positive und negative Implikationen haben, die unser Handeln beeinflussen, und zwar, je unbewußter sie bei uns sind, desto eher in negativer Hinsicht. Deshalb ist es erfreulich, daß es Patrick Werner gelungen ist, uns bildlich die Bedeutung „Behinderter“ so zu vermitteln, daß wir bei Behinderten an lebensfrohe, individuelle Menschen mit Partnerproblemen und anderen Problemen des täglichen Lebens denken, an dich und mich eben. Nach dem Besuch dieser Ausstellung werden Sie, so hoffe ich, Behinderte mehr schätzen  und vielleicht auch einen liebevollen Blick auf ihre eigene Hemmung oder Behinderung werfen. Ich hoffe aber auch, daß Sie bewußter auf Ihre Sprache achten.

Danke