Vortrag am 3.2.1999 19 Uhr im Stadtmuseum Rastatt zur Eröffnung der Fotoausstellung „Einblicke“
von Patrick Werner
Sehr geehrter Herr, sehr geehrte Frau, meine Damen und Herren
Über die Möglichkeit, heute bei der Eröffnung der Ausstellung „Einblick – Fotografien von Patrick Werner“ einen Vortrag zu halten, freue ich mich sehr. Diese Ausstellung dient wie die Kampagne „Aktion Grundgesetz“, der Verbreitung von Wissen darüber, daß seit dem 15. November 1994 im Grundgesetz der Satz „Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden“ eingefügt ist. Sie soll zugleich sensibel machen für den Umgang mit Behinderten und uns die Behinderten in ihrer Menschlichkeit, Lebendigkeit, ihren Wünschen und Bedürfnissen und ihrer Würde näherbringen. Ich möchte Ihnen gewissermaßen als Kontrapunkt zu den sensiblen fotografischen Einblicken Patrick Werners einen sprachlichen Einblick geben, nämlich einen Einblick oder doch wohl eher Überblick über Wörter und Bezeichnungen, die etwas mit Behinderung und Unterstützung zu tun haben. Dabei möchte ich erst die Etymologie verschiedener Wörter von Behinderungen vorstellen und danach erarbeiten, was das Wort Behinderung bedeutet und welche Wörter es gibt, die Unterstützung bei Behinderung bedeuten. Ich nennen deshalb meinen Vortrag: „Behinderungen und Behinderung und wie kann man helfen ? – eine Analyse aufgrund sprachlicher Befunde“
Der Ausdruck „Behinderung“ kam als Begriff seit den Siebziger Jahren des Zwanzigsten Jahrhunderts auf. Es gibt keine gesetzliche Definition des Behindertenbegriffes. Auch in der RVO war der Begriff des Behinderten nicht enthalten. In dem Wort Schwerbehindertengesetz kommt das Wort aber vor. Nach einer Definition der Bundesanstalt für Arbeit sind „Behinderte im Sinne dieser Anordnung … körperlich, geistig oder seelisch behinderte Personen, deren Aussichten, beruflich eingegliedert zu werden oder zu bleiben in Folge der Behinderung nicht nur vorübergehend wesentlich gemindert sind und die deshalb besonderer Hilfe bedürfen.“ Man unterscheidet eine praemorbide, eine primäre und eine sekundäre Behinderung. Wichtig ist, daß die Behinderung nicht einfach wie mechanisch aufgefaßt wird, sondern daß die Behinderung immer gesehen wird als bezogen auf innere, aber auch auf äußere Faktoren, wie in Bezug auf die Familie, die Arbeits- und Freizeitsituation, auf die Schul- und Berufsausbildung. Die Behinderung spielt also erst im Zusammenhang mit der sozialen Situation der/des Behinderten eine Rolle. Insofern ist das Wort Behinderung auch ein sozialpsychiatrischer Ausdruck. Das Wort Behinderung faßte als neutraler zusammenfassender Begriff die älteren, jetzt als anstößig und diskriminierend geltenden Wörter für einzelne Behinderungen zusammen. Ein neuer Wortgebrauch war auch deshalb notwendig geworden, weil die Nazis viele Tausende als minderwertiggeltende Behinderte sterilisieren ließen und später massenhaft ermordeten, wie sie es nannten, „euthanasieren“ ließen. Sie kannten allerdings den Ausdruck Behinderte nicht, sondern benutzten scheinbar wissenschaftlich neutrale Ausdrücke, die die damalige Medizin und Psychiatrie bereithielt.Im Gesetz zur Zwangssterilisation von 1933 ist daher nicht der Ausdruck „behindert“ als führender Begriff enthalten, sondern der Ausdruck „erbkrank“. Danach werden die einzelnen Krankheitsbilder genannt, auf die der Ausdruck zutrifft. Als erbkrank galt, „wer an einer der folgenden Krankheiten leidet:1. angeborenem Schwachsinn, 2. Schizophrenie, 3. Zirkulärem (manisch-depressivem) Irresein, erblicher Fallsucht, 5. erblichem Veitstanz (Huntingtonscher Chorea, 6. erblicher Blindheit, erblicher Taubheit, 8. schwerer erblicher körperlicher Mißbildung.“ Schulbücher dar damaligen Zeit zeigten viel besser auf, um was es den Nazis damals ging. Es ging schon um Behinderung, aber nicht um Behinderung, wie es der moderne Ausdruck nahelegen soll. Es galt darum, daß diese sogenannten Erbkranken (Ich freue mich, daß mein Computer dieses Wort erbkrank als unbekannt moniert), daß diese sogenannten Erbkranken als Behinderung der Gesellschaft angesehen wurden, sie galten mit einem Ausdruck der damaligen Zeit als „Soziallästige“, die kein Lebensrecht hatten und (wieder ein Nazi-Ausdruck) „auszumerzen“ waren. Sie galten als „minderwertige und unbrauchbare Elemente“, „minderwertiges Erbgut“, „erblich Belastete“, als „antisozial“, als „Degenerierte“, „Verseucher“, „Defekte“, als „Ballastexistenzen“, als „geistig Tote“ und was es an verachtenden Ausdrücken für diese Menschen, zu denen noch Juden, Homosexuelle, Geschlechtskranke und Verbrecher gezählt wurden, noch gab. Bilder des Rastatter Festungslazaretts, das im Dritten Reich als Pflegeanstalt diente, erinnern an diese Zeit.
Ich will jetzt aber hier nicht der menschenverachtenden Sprache und Politik der Nazis nachgehen, sondern ich will den etymologischen Sinn der Wörter taub, Krüppel, lahm, Kretin, toll, blöd, geistesschwach und schwachsinnig, oligophren, debil, imbezil, Idiot sowie Invalider, Verletzter und Versehrter herausarbeiten, wie er sich vor den Nazis und unabhängig von ihnen entwickelt hatte. Ich hoffe, wir kommen dadurch zu Einsichten, die uns diese Behinderten menschlich näher bringen, weil wir sie nicht durch die Brille der Nazis sehen müssen. Denn nach dem Ende des Dritten Reiches sind viele dieser Begriffe von dem verachtenden Sprachmißbrauch der Nazis mitgerissen worden und gelten heute als tabu, sie werden durch neue Wörter ersetzt, wie zum Beispiel das Wort Schwachsinn durch Intelligenzminderung, das Wort Krankheit durch das Wort Störung. Ich werde bewußt nicht nur Ausdrücke erklären, welche die Nazis wie beim oben genannten Sterilisationsgesetz offiziell gebraucht hatten, sondern solche, die Behinderungen anzeigen, werde mich aber auf einige wenige beschränken, die mir besonders wichtig erscheinen.
Beginnen wir mit dem Wort „taub“. Dieses Wort ist bisher nicht stark negativ besetzt. Es ist von allen von mir untersuchten Wörtern das akzeptierteste. Die Nazis benutzten es meist in der Kombination taubstumm. Das Wort „taub“ wird als Erweiterung der indoeuropäischen Wortwurzel #dheu auf eine indoeuropäische Wortwurzel #dheubh, #dhubh zurückgeführt, welche Wörter in germanischen Sprachen und im Griechischen hinterlassen hat. #Dheu bedeutet stieben und wirbeln und meint besonders den stiebenden Staub, Rauch und Dampf. Die Wörter Duft und Dunst hängen damit zusammen. Der Duft kommt und verstiebt gleich wieder. Der Dunst ist feiner Rauch, der verdampft. Die erweiterte Wortwurzel #Dheubh soll stieben, rauchen, neblig, verdunkelt gemeint haben. Wenn es neblig und verdunkelt ist, kann man sich nicht orientieren. Der Nebel verhindert und hemmt die normale Bewegung. Daher stammt von #dheubh das griechische Wort typhlós mit der Bedeutung verstopft, blind, stumpf und unsinnig ab. Verwandt damit ist toub, das im neunten Jahrhundert gehörlos, unempfindlich, stumpf und unsinnig bedeutete. Es ist zu erkennen, daß das griechische typhlós blind, das althochdeutsche toub aber gehörlos bedeutet. Beide Wörter meinen also Behinderungen, wenngleich nicht mehr bezogen auf den Nebel außen, sondern Behinderungen verschiedener Körperteile, im Griechischen der Augen, im Deutschen der Ohren. In beiden Fällen sind die Organe stumpf, unbrauchbar, weshalb toup, toub im Mittelhochdeutschen auch leer, wertlos, abgestorben und dürr bedeutete. Heute noch ist eine Taubnessel eine Nessel, die nicht einmal brennt. Im Neuhochdeutschen hat sich bei taub die Bedeutung „gehörlos“ erhalten, ein taubes Glied ist aber wie abgestorben, ohne Wert, ohne Empfindung und eine taube Haselnuß ist leer, gehaltlos und von daher ohne Nutzen. Da man sich mit tauben Menschen aber nur schwer verständigen kann, galten sie fälschlicherweise als geistig beschränkt und dumm. Dumm wurde ursprünglich tumb geschrieben und bedeutete unwissend, unbegabt, unvernünftig, später schwach von Sinnen oder Verstand, töricht und stumm. Es wurde später zu dumm nasalisiert und bedeutet dasselbe wie das Wort „doof“ , (niederländisch doof = taub), das sich erst im 20. Jahrhundert von Berlin aus im ganzen deutschen Sprachgebiet verbreiterte. Da doof mit taub zusammenhängt, bedeuten englisch deaf und schwedisch döv auch taub. Erinnern wir uns an #dheubh = stieben und an die dem griechischen typhlós und dem altgermanischen toub gemeinsame andere Bedeutung „unsinnig“, so verstehen wir, daß jemand, der eine Tobsucht hatte, von Geist und Sinnen vernebelt, deshalb außer sich war, tobte und raste.
Auch das Wort toll soll weitergehend von der indoeuropäischen Wortwurzel indoeuropäisch #dheu abstammen. Toll meint verrückt, nicht bei Sinnen, ausgelassen, wild und großartig. Näherliegend soll es auf germanisch #dwula = getrübt, vernebelt, verwirrt zurückgehen. Wir erkennen die Behinderung, wenn wir uns die damit zusammenhängenden Wörter althochdeutsch twellen = zurückhalten, aufhalten, sich aufhalten und weilen, altsächsisch dwellian = aufhalten, hindern, altnordisch dvelja = verzögern, sich aufhalten und althochdeutsch tw-ala = Verzug, Verzögerung und Überdruß anschauen. Dazu gehört griechisch tholós = der Schlamm, in dem man steckenbleibt und die Tinte des Tintenfisches, die einen umnebelt und am Fortschwimmen hindert. Griechisch tholerós ist daher schlammig, trübe und verwirrt. Wer toll ist, ist also umnebelt, daher gehemmt und verwirrt. Das Gehemmte ist noch im englischen Wort dull = dumm, schwerfällig und stumpfsinnig spürbar. Althochdeutsch hieß daher ir-twelan auch betäubt und kraftlos sein. Aber das Wort toll ist durchaus ambivalent. Wer geistesverwirrt ist, kann aus seiner Starre und Betäubung erwachen und plötzlich eine tolle Wut, wie man im 18. Jahrhundert sagte, also eine Tollwut entwickeln und wegen seiner Tollheit, seiner Verrücktheit, seinem verrückten Tun oder seiner dulköne (15. Jh.), seiner Tollkühnheit (17. Jh.) oder Unbesonnenheit also, im17.Jahrhundert ins Tollhaus kommen. Tollheit ist aber ansteckend, man fühlt sich oft toll, also großartig und kann es manchmal seit dem 16. Jahrhundert genießen, ganz ungehemmt zu tollen, fröhlich, lärmend und ausgelassen zu lärmen, zu spielen und herumzuspringen.
Wer aber lahm ist, kann das nicht. Er ist bewegungsuntüchtig, behindert, matt oder langweilig. Er ist lami (altnordisch) = verkrüppelt. Es ist, als seien seine Glieder zerbrochen. Slawisch lomitis bedeutet brechen, russisch heißt lom der Bruch. Schon althochdeutsch lam hieß daher lahm, gelähmt, abgestumpft. Lomóta heißt auf Russisch das Gliederreißen. Derjenige, dessen Glieder ein Gliederreißen hat, dessen Füße also lahm, kraftlos und ohne Funktion sind, der lahmt, er hinkt. Er hat, wie ein hinkendes Pferd eine Lähme. Im 16. Jahrhundert war ein schlaff herabhängendes Ohr ein Lummelohr. Genauso sieht ein Lümmel aus, einer, der in nachlässiger Haltung herumsteht und sich lümmelhaft und lahmarschig, kurz wie ein Flegel benimmt und herumlümmelt. Vielleicht hört er gerade meinem Vortrag zu und findet ihn ausgesprochen langweilig und lahm, kann sich aber nicht anders als durch diesen lahmen Protest ausdrücken.
Vielleicht fühlt er sich aber auch durch eine Bemerkung von mir verletzt. Das Wort verletzen geht auf ein althochdeutsches Verb lezzen = aufhalten, hemmen, hindern verletzen zurück. Noch heute heißt holländisch letten hindern, beletten verhindern und schaden und letsel der Schaden und die Verletzung sowie belet die Abhaltung. Auch auf englisch war früher to let verhindern. Die Wörter haben Beziehung zu den Wörtern lasch und lässig. Wer laß war oder lässig ist, ist träge, gleichgültig, matt und schlaff. Er ist schlaff und energielos und läßt alles zu, erlaubt alles, gibt, was er hat, ab oder auf. Aufgrund seiner Lässigkeit verhindert er, daß etwas vorangeht. Diese Verhinderung und Hemmung hieß mittelhochdeutsch letze. Letze bedeutete auch das Ende, der Abschied, das Abschiedsgeschenk. Deshalb wurde aus zuo letze = zum Abschied unser zu guter Letzt = zum guten Ende. Wenn man etwas zu Ende brachte und sich verabschiedete, konnte man sich erholen und Freundlichkeiten erweisen. Deshalb nahm das Wort letzen die Bedeutung sich erquicken und laben an. Mit dem Präfix ver- bei verletzen bedeutet es aber verwunden, beschädigen, kränken, wogegen verstoßen. Und das Wort Verletzung meint seit dem 15. Jahrhundert sowohl das Verletzen als auch die Körperwunde.
Früher sagte man für verletzt auch versehrt. Ein Versehrter ist ein Verletzter, Verwundeter, der großen Schmerz, althochdeutsch s-er , ertragen muß. Damit hängt das Adverb sehr zusammen, das früher schmerzlich, gewaltig und heftig bedeutete. Ein Kriegsversehrter ist daher ein durch Wehrdienst beschädigter und körperlich beeinträchtigter Soldat, der durch die Wehrdienstverletzung körperbehindert ist.
Er ist dann ein Invalide. Und aufgrund seines Gebrechens (hören Sie lom, den Bruch mit?) dienst- und arbeitsunfähig. Das Wort Invalide kommt ursprünglich vom lateinischen invalidus = kraftlos, schwach und krank. In Spanien wird der Invalide minusválido genannt, also der, welcher weniger wert ist. Validus war jemand, der stark, kräftig und gesund, der wohlauf, einflußreich und wirksam war. Wer Latein gelernt hat oder Asterix gerne liest, kennt den Abschiedsgruß vale = lebe wohl! Lateinisch valere bedeutet wert sein, stark sein, gelten, die italienische Valuta ist ein Zahlungsmittel ausländischer Währung, ein Zahlungsmittel mit Wert also. Verwandt mit validus sind die deutschen Wörter walten = ursprünglich herrschen, verwalten = in Gewalt heben, für etwas sorgen, seit dem 15. Jahrhundert die abgeleiteten Wörter Verwaltung, aber auch der Anwalt und die Gewalt. Der Anwalt ist eigentlich der, welcher über etwas Gewalt hat, seit dem 19. Jahrhundert auch der Rechts- und Staatsanwalt.
Im Mittelhochdeutschen gab es aber noch ein anderes Wort für lahm, nämlich gekrüpelt. Gekrüpelt geht auf ine indoeuropäische Wortwurzel zurück, von der sich deutsche Wörter wie kriechen, krumm, Krücke, Kringel, Krippe, Kropf und Krüppel ableiten. Der Krüppel als mißgebildeter, gehbehinderter Mensch ist eigentlich einer, der gewunden, zusammengekrümmt, krumm und lahm ist. Er ist jemand, der kriecht, sich einzieht, sich in niedriger Haltung am Erdboden schmiegt und schleicht. Schwedisch krypa heißt kriechen. Wir denken an Victor Hugos Glöckner von Notre Dame. Wenn er geht, mit seinem Buckel, sieht er gewunden aus wie ein Kropf. Er braucht eine Krücke oder einen Krückstock, einen Stab also, der wie er selbst krumm ist, nämlich einen krummen Griff hat. Vielleicht bietet er auf dem Markt in seiner Krippe, seinem geflochtenen Futtertrog, der entstand, indem man Flechtwerk immer krümmte und krümmte und so in Form brachte, Waren feil. Vielleicht war er auch, wenn er im 19. Jahrhundert gelebt hat, in einer Krippe, einem Heim für Findelkinder abgegeben worden. Diese Bezeichnung für eine Unterbringungsanstalt leitet sich von der Krippe der Heiligen Familie ab und wird seit dem 19. Jahrhundert auch für die Kinderkrippe als Einrichtung zur Betreuung von Säuglingen und Kleinstkindern und für Kleinstkinder arbeitender Mütter gebraucht. Diese Krippen sind Aufbewahrungsorte, in denen die Kinder auch ernährt werden. Wie gesagt, eine Krippe ist ein Futtertrog. Auch der Kropf, die krankhaft vergrößerte Schilddrüse des Menschen, hat zwar ihren Namen von der gekrümmten, gewundenen Form, bedeutet zugleich aber auch den Vormagen der Vögel. Der Kropf hat also wie der Futtertrog „Krippe“ etwas mit der Nahrungsaufnahme zu tun. Raubvögel kröpfen, sie nehmen die Nahrung mit dem Kropf auf und fressen.
Wenn Menschen einen Kropf hatten, waren sie Kretins. Kretins galten als durch einen Kropf mißgebildete Schwachsinnige. Der Ausdruck Cretin stammt aus den Alpentälern im Wallis und Savoyen, in denen aufgrund des vorherrschenden Jodmangels oft Kröpfe auftreten. Der Ausdruck Cretin ist ursprünglich positiv konnotiert Ein Cretin war ursprünglich ein Christ, französisch chrétien, altfranzösisch cresti(i)en, von lateinisch Christianus = der Christ oder, wie Luther gesagt hat, der Christenmensch. Ein Cretin war ein menschliches Wesen, ein Mensch, durchaus auch im Unterschied zum Tier. Durch Verknüpfung mit altfranzösisch crestien = der Leidende, der Kranke wird Cretin, nachdem das Wort um 1800 als Kretinismus ins Medizinerlatein eingegangen ist, seit dem 19. Jahrhundert in Deutschland und Frankreich eingeengt und mit negativer Wertung als Ausdruck für dumme, beschränkte Schwachsinnige gebraucht.
Der Ausdruck Schwachsinn bezeichnete seit dem 18. Jahrhundert einen Mangel an Empfindung und Verstand. Die Ausdrücke schwachsinnig oder geistesschwach wurden gleich benutzt, wobei die Störung einmal im Bereich der Sinne, das andere Mal im Bereich des Geistes liegen sollte. Man erkennt daran, daß der Ort der Störung nicht festlag. Kraepelin benutzte den Ausdruck, um eine Vielzahl von psychischen Störungen zu bezeichnen. Er kannte unter anderem einen intellektuellen, einen moralischen und einen anergetischen Schwachsinn und zählte auch verschiedene Demenzformen dazu, wie die paralytische, die senile und eine akute Demenz sowie die Dementia praecox, die später von Bleuler mit einem Kunstwort als Schizophrenie bezeichnet wurde. Der Ausdruck Schwachsinn wurde immer mehr auf eine intellektuelle Behinderung eingegrenzt und später als psychiatrischer Terminus dem Ausdruck Blödsinn entgegengesetzt. Schwachsinn bedeutete um 1920 als psychiatrischer Fachausdruck die geringeren, Blödsinn bedeutete die höheren Grade der geistigen Behinderung. Heute wird in der Psychiatrie der Ausdruck Blödsinn nicht mehr benutzt.
Das Wort blöd hieß dagegen althochdeutsch bl-odi = körperlich schwach, träge und furchtsam. Es soll Beziehungen haben zum Wort bleuen = schlagen, zum Bleuel, dem Wäscheklopfer, zur Pleuelstange und zum Wort bloß, das nackt, unbedeckt und rein bedeutet und dessen Substantiv Blöße die Nacktheit noch zeigt. Wen man bloßstellt, der ist ungeschützt, den kann man schlagen. Altnordisch blautr bedeutet weich, zart, schwach, furchtsam und wie bei dem deutschen Wort blöd, das es seit dem 16. Jahrhundert gibt, auch schon geistesschwach. Unklare Beziehungen ergeben sich zu skandinavischen Wörtern, die etwas mit Feuchtigkeit zu tun haben. Jedenfalls stammt das Wort blöd von einer Wortsippe, die etwas Schwaches, Ungeschütztes, auch Schüchternes und Verzagtes und damit etwas Gehemmtes ausdrückt. Im 17. Jahrhundert wurde das Wort blödsinnig für schwachsinnig benutzt, das Hauptwort Blödsinn kam erst im 18. Jahrhundert auf. Die alte Bedeutung blöd = furchtsam kommt in dem Spruch „sich oder sich nicht entblöden“ zum Vorschein. Jemand, der sich nicht entblödet, versucht, seine Furcht zu überwinden. Die Bedeutung vom Wort blöd hat sich ansonsten im Deutschen auf schwachsinnig eingegrenzt, was auch in den Wörtern blödeln und verblöden, das ursprünglich einschüchtern bedeutete, deutlich wird.
Jetzt kommen wir zu den Wörtern oligophren, debil, imbezil und idiotisch. Das Wort Oligophren wurde wie das Wort Schizophren als Kunstwort von Kraepelin geschaffen und bedeutet wenig Geist oder Seele. Es ist eine moderne Wortschöpfung aus alten, griechischen Wörtern. Ich möchte nicht näher darauf eingehen.
Das Wort debil für den leichtesten Grad der geistigen Behinderung ist interessanter Es bezog sich ursprünglich nicht auf den Geisteszustand. Wer, lateinisch gesprochen, debilis war, war gelähmt, gebrechlich, schwach und haltlos. Im Wort debilis steckt de = weg von und habilis = tauglich, behende, beweglich. Habilis stammt vom Verb habere, das „vermögen, können und die Fähigkeit und Mittel haben“ bedeutet. Das Verb debilito bedeutete daher lähmen, schwächen, der Fassung berauben und entmutigen. Das dazu gehörige Substantiv debilitas = die Lähmung, Gebrechlichkeit und Schwäche wurde in der Form Debilität im Deutschen als körperliche Schwäche und Gebrechen seit dem 17. Jahrhundert gebraucht. Seit dem 19. Jahrhundert wird auch das Adjektiv debil verwendet. Es bedeutete damals körperlich schwach und gebrechlich. Seit den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts werden die Wörter Debilität und debil auf die leichteste Form der Geistesschwäche eingeengt und zu einem psychiatrischen terminus technicus. Die Römer benutzten das Wort debilis aber auch noch in einem festen Ausdruck in Kombination mit dem Wort mancus. Sie nannten einen Körperbehinderten einen homo mancus ac debilis. Mancus bedeutet gebrechlich, verstümmelt, unvollständig, mangelhaft und schwach. Ein homo mancus ac debilis ist also jemand, der gebrechlich, verstümmelt und daher geschwächt war. Von mancus ist spanisch manca =die linke Hand, französisch manchot und spanisch manco einarmig sowie baskisch mangu und holländisch mank = hinkend, und italienisch manco = mangelhaft abgeleitet. Wir kennen das Wort Manko im Geschäftsleben als den Fehlbetrag und Mangel. Wie wir oben gesehen haben, ist für Spanier also die linke Hand manca wie eine mangelhafte, verstümmelte Hand. Wenn man an die Bedeutung von mancus als behindert denkt, ist es aussagekräftig und bedenkenswert, daß auf Kalabresisch und auf Sizilien manka der Norden bedeutet.
Jetzt zum Wort Imbezil. Das Wort imbezil kommt aus dem Latein. Und zwar von in = ohne und bacillus, baculum = der Stab. Gemeint ist ohne stützenden Stab. Wir kennen das Wort baculum von den aus dem Griechischen stammenden Wörtern Bakterium oder Bazille. Es sind Stäbchenbakterien.
Imbezil bedeutet also = ohne Stab. Wer aber ohne Stab und ohne Stütze ist, ist schwach, kraftlos und kränklich. Ich habe nicht finden können, wer diesen Ausdruck geschaffen hat.
Auffällig ist, daß diese beiden Wörter debil und imbezil beinahe das gleiche ausdrücken. Aber nehmen wir das letzte dieser psychiatrischen Fachwörter. Das Wort Idiot stammt aus dem Griechischen. Hier meinte idiotes den einfachen Bürger, gewöhnlichen Menschen und den Nichtfachman und später auch den Nichtwisser. Der idiotes wurde als Privatmann, von idios = eigen, privat, als Gegensatz zum Mann gesehen, der im öffentlichen, staatlichen Dienst stand und daher als klüger und gebildeter galt. Auch in Deutschland war vom 16. Jahrhundert bis 1800 ein Idiot einfach ein Ungelernter oder Laie, später auch ein Stümper. Ende des 17. Jahrhunderts kam das Wort Idiotismus auf, das die Mundarteigentümlichkeit oder Eigenart einer Sprache meinte. Zum „Schwachsinnigen“ wurde das Wort Idiot erst im 19. Jahrhundert. Damals kamen auch die Wörter idiotisch, und als Ersatz für den Idiotismus das Wort Idiotie auf. Dieser Bedeutungswandel wurde im Englischen angeregt. Hier hatte sich der Bedeutungswandel vom einfachen Bürger zum Narren, Blöd-, und Schwachsinnigen schon um 1300 vollzogen.
Soweit die ausgewählten speziellen Wörter, die etwas mit Behinderung zu tun haben. Wie wir gesehen haben, wird bei den Wörtern oft die Behinderung schon durch die Etymologie selbst deutlich. Bisher haben wir aber doch nur besondere Wörter für Behinderungen zu erklären versucht Jetzt möchte ich die Frage stellen, was das Wort Behinderung und die Wörter, welche in verschiedenen Sprachen damit zusammenhängen, selbst bedeuten. Das deutsche Wort Behinderung ist das Substantiv des Wortes behindern. Behindern wird erklärt mit hemmen, störend aufhalten, jemandem im Wege stehen, einer Sache hinderlich sein. Das Grundverb „hindern“ bedeutet jemanden von etwas zurückhalten. Im 9. Jahrhundert gab es das Wort gihintaren mit der Bedeutung betrügen, herabwürdigen. Im 10. Jahrhundert findet sich das Verb hintaren, welches hemmen, vorenthalten, herabwürdigen und erniedrigen bedeutete. Man kann erkennen, daß schon althochdeutsch mit hintaren neben einer Hemmung eine Herabwürdigung und ein Betrügen verbunden ist. Das Wort firhintaren aus der gleichen Zeit bedeutet dem entsprechend beeinträchtigen, unterschlagen, aber auch betrügen. Viel klarer als bei dem späteren Wort hindern kann man erkennen, daß diese Wörter von der Präposition „hinter“ abgeleitet sind. Hinter als Präposition zeigt ursprünglich ein konstantes Lageverhältnis in Ruhe oder gleichlaufender Bewegung, wie es in dem Satz: „Ich stehe hier am Rednerpult“ zum Ausdruck kommt oder die Richtung auf einen Zielpunkt an, wie in dem Satz: „Der Hund sprang hinter das Haus“. Hinter kann aber auch zeitlich gemeint sein , wie in dem Ausdruck „hinter sich bringen“. Und es kann auch adjektivische Bedeutung haben, also der Hintere. Althochdeutsch hintar-i war das hintere Ende, der Schwanz. Daraus entwickelte sich im 18. Jahrhundert der Hintern. Wir kennen aber auch die Wortzusammensetzungen Hintergrund, hintergründig und Hintertreffen. Ein Treffen war früher ein Kampf. Wer im 18. Jahrhundert bei Kampf und Sieg nur am Rande oder gar nicht teilnahm, war im Hintertreffen, er gehörte zur letzten Schlachtlinie oder Reserveeinheit. Der militärische Terminus Hintertreffen wurde später verallgemeinert und bedeutet als „ins Hintertreffen kommen oder geraten“ in eine ungünstige Position oder in Rückstand geraten. Wer nach hinten fällt, fällt zurück. Altenglisch hinder und neuenglich behind heißt = hinten, nach hinten und zurück. Wer oder was einen behindert, hemmt einen, ist hinderlich, steht einem im Wege und wirft einen zurück. Es verhindert, daß man etwas macht oder daß etwas geschieht. Jedenfalls muß man wie Pferde, die über Gräben, Hecken und andere Barrieren beim Hindernisrennen springen müssen, zuerst Hindernisse oder Hemmnisse überwinden, damit man etwas bewegt.
Das kann das Pferd aber nicht, wenn ihm die Vorderfüße zugebunden sind, um es am Fortlaufen zu hindern. Genau dieses bedeutet oberdeutsch das Wort hemmen. Isländisch hemlil ist die Beinfessel. Mittelniederdeutsch ist ham ein abgegrenztes Stück Weideland wie englisch mundartlich ham ein umzäumtes Feld. Im Wort hemmen ist also die durch eine Fessel oder einen Zaun verhinderte Bewegung, die Bremse und der dadurch bewirkte Stillstand enthalten. Der Psychoanalytiker Harald Schultz-Hencke hat in seinem weltberühmten Buch „Der gehemmte Mensch“ Menschen beschrieben, die aufgrund innerer Zwänge und Fesseln durch nicht aufgelöste Konflikte unfähig sind, ihr Leben in +-eigenem Recht zu gestalten.
Hindern heißt auf isländisch hindra und aftra. Wir denken bei aftra an das englische aft = achtern, after = hinterher, nach, danach, nachdem und später und an das deutsche Wort der After = der Hintern. Dazu passend heißt auf isländisch fyrir aftan hinter und hinten und aftur zurück. Man könnte sich vorstellen, daß statt von dem Wort hinter auch von after in den verschiedenen germanischen Sprachen Wörter mit dem Bedeutungsinhalt „Behinderung“ hätten gebildet werden können. Daß dies naheliegt, erkennt man auch beim Griechischen. Hier wird ein Wort für hindern zwar nicht vom Wort für hinten ópisthen oder píso abgeleitet. Neugriechisch k-ólos heißt aber der Hintern, der Steiß und Popo und k-ólyma das Hindernis, Hemmnis zu k-olý-o, verhindern, hemmen. Ein anderes griechisches Wort für Hindernis, Hemmnis próskomma meint eigentlich den Anstoß. Denn das dazugehörige Verb proskópt-o bedeutet anstoßen. Woran man anstößt, erlebt man als Sperre, Schranke oder Hindernis.
Die Bretonen nennen dies Hindernis harz, das man mit Stop übersetzen könnte. Mit dem Wort harz bilden sie neue Wörter, so harz-labour = Stop die Arbeit = Streik, oder harz-debrin, = Stop-essen = Hungerstreik, auch harz-lamm = Stop-Sprung =der Fallschirm. Ein anderes bretonisches Wort für Hindernis skoilh meint den Bremsklotz und ungelegenen Zwischenfall. Wenn wir an das Hindernisrennen denken, so können wir nachvollziehen, daß ungarisch gátol = hemmen, hindern von gát = Damm, Deich, Hürde, Einhalt kommt. Mit gát hängt auch akad = steckenbleiben, stoßen, sich vorfinden und akadály = das Hindernis zusammen. Das schon genannte gátol und akadályoz bedeutet daher ebenfalls behindern. Auch im Polnischen wird ein Wort für hemmen, hindern = tamowa´c von einem Wort für Damm = tama abgeleitet.
Das Wort für den Behinderten, wie wir es medizinisch gebrauchen, heißt japanisch sh-ogáisha. Es gibt drei Grundworte, die alle gleich shogai heißen: Shogai bedeutet das „Hindernis, die Verletzung“ und „das ganze Leben, der Lebensweg“. Es wäre möglich, hieraus eine Psychologie zu machen. Wer lebt, erleidet stets Verletzungen. Diese Verletzungen begleiten ihn sein ganzes Leben, so daß sein Leben immer als Hindernis aufgefaßt werden kann.
Was einen hindert, steht einem im Weg. Griechisch empódisma das Hindernis ist vom Wort empod-on abgeleitet. Es ist das, was einem em = im oder hier vor dem pous = Fuß steht. Genau die gleiche Bedeutung hat lateinisch impedire. Es bedeutet aber auch fesseln, verwickeln, unzugänglich machen und versperren. Das Substantiv impedimentum heißt daher Hindernis. Wenn man schnell vorankommen will, können einen Packpferde und jedes Gepäck sehr hemmen. Diese Bedeutungen hat der Plural von impedimentum, das Wort impedimenta. Italienisch impedito, spanisch impedido und rätoromanisch impedi heißt der Körperbehinderte. Auch eine Schwangerschaft kann als hinderlich empfunden werden, deshalb heißt kastellanisch anpedia = schwanger. Ein weiteres lateinisches Wort für hindern obstare bedeutet einfach ob = dagegen stare = stehen, also dagegenstehen. Obstaculum ist daher das, was entgegensteht, das Hindernis. Es kommt im Italienischen als ostacolo, aber auch im Englischen als obstacle vor. Griechisch könnte man „ob“ mit „antí“ übersetzen. Antí heißt gegenüber, hinter und anstelle. Von enantíos gegenüberliegend oder –stehend wird enantí-oma das Hindernis gebildet.
Die alten Griechen hatten übrigens noch ein anderes Wort für Behinderung, das zeigte, was ihnen wichtig war. Sie waren freie Menschen, die für niedere Arbeiten Sklaven hatten und ihre freie Zeit, ihre Muße mit Vorträgen, Gesprächen und Studium verbrachten. Alles dieses, die Muße und die freien Tätigkeiten nannten sie scholä. Wir haben von diesem Wort scholä unser Wort die Schule abgeleitet. Mangel an Muße, also Arbeit und Beschäftigung empfanden die alten Griechen als Behinderung ihrer Freiheit und ihres Dranges zum freien Tun. Ascholía, also Mangel an Muße und freier Betätigung war daher ein Wort, das wir mit Behinderung übersetzen können.
Die alten Griechen sind für ihre Fähigkeit bekannt, durch Muße sich freieren Problemen, z. B. der Philosophie zuwenden zu können und für ihre Begabung dazu bekannt. Die Engländer kennen wir als das Volk, das den Ausdruck fairness geprägt hat. Sie haben einen sense of fairness, einGerechtigkeitsgefühl also. Auch das Wort handicap stammt von ihnen. Es gibt zwei Erklärungen für dieses Wort. Entweder soll es vom lateinischen manucaptus kommen. Manucaptus heißt mit der Hand (manus) ergriffen (captus) und war der Rechtsausdruck für die Eigentumserwerbung durch Handauflegung bei der Gefangennahme. Der manceps war der, welcher einen als Beute erworbenen Sklaven, den man als Sache auffaßte und deshalb mit einem neutralen Ausdruck manicipium nannte, im Krieg durch Handgriff zum Eigentum erklärte. Daher war manceps der Aufkäufer, Pächter und Besitzer. Durch Austausch von lateinisch manus = Hand zu germanisch hand sei es zum englischen
Wort handicap gekommen. Das liegt nahe, denn auch althochdeutsch war munt Hand und Schutz, wie es bei uns heute noch in den Wörtern Mündel, Vormund und bevormunden deutlich ist. Die andere Erklärung für handicap ist aber spannender. Danach geht das Wort darauf zurück, daß im 17. Jahrhundert das bei einer Art Lotterie gesetzte Geld oder Wertsachen in eine Mütze gegeben wurde, daher hand in cap = Hand in die Mütze, aus der der Schiedsrichter anschließend das gewonnene Geld verteilte. Dieser Schiedsrichter wurde handicapper genannt. Ende des 19. Jahrhunderts wurden handicap races = Pferderennen geritten. Der Schiedsrichter wurde auch hier handicapper genannt. Er versuchte, ein faires Spiel zustandezubringen, indem er die stärksten Pferde belastete und den schwächeren Pferden Strecken- oder Zeitvorgaben genehmigte. Das bedeutete einen Vorteil für die schwächeren und einen Nachteil für die stärkeren Pferde. Dadurch wurde das Wort handicap allmählich mit Benachteiligung, Nachteil, Behinderung gleichgesetzt. Das Wort drang auch in andere Sprachen ein. In Italien ist handicappato der Behinderte, im Deutschen kennen wir handikapen und schon eingedeutscht gehandicapt als behindert, benachteiligt.
An diesem Wort handicap ist zu sehen, daß oft die Bedeutung von Wörtern sich verschlechtern. Handicap hätte genauso gut die Bedeutung Vorteil annehmen können. Interessant ist dabei auch, daß es hierbei um den Ausgleich von Vorteil und Nachteil geht. Ist jemand im Nachteil, so geht es darum, ihm durch Vergünstigung eine Chance zu geben. Wer hinten liegt, behindert ist, bekommt einen Vorsprung, wird nach vorne gesetzt. Zugleich gibt es aber auch die andere Möglichkeit, nämlich die, den Stärkeren, Bevorteilten nach hinten zu setzen, zu benachteiligen. Nur wenn man das tut, gibt es fair play und damit Gerechtigkeit.
Was ist aber der Gegensatz von hindern – nun fordern. Im Althochdeutschen war fordar-on begehren, verlangen, sich bemühen um, fördern. Es ist ähnlich wie das Wort hindern vom Wort hinter abgeleitet ist, vom Wort vorder, mit der Bedeutung vorn, am Anfang befindlich und früher abgeleitet. Die ursprüngliche Bedeutung ist verlangen, daß etwas herauskommt. Später bedeutete es zum Zweikampf auffordern. Für unseren Zweck ist bedeutsam. daß, wie die Wörter sagen, wer behindert ist, gefordert und gefördert werden sollte. Man muß sich um ihn bemühen. Wichtig ist, ihn zu fordern, seinen Kräften gemäß herauszufordern, aber darauf zu achten, ihn nicht zu über- oder unterfordern. Die Forderung muß auf den Grad und die Art der Behinderung eingestellt sein.
Ferner verwandt mit fordern ist das Wort fördern. Es soll vom Wort „fort“ stammen, das wie das Wort vorder mit dem Wort vor zusammenhängt. Fördern heißt ursprünglich vorwärts bringen, wohin bringen. Genau das wollen wir mit den Behinderten, sie vorwärts bringen und dadurch unterstützen und begünstigen. Auch englisch heißt furtherance Förderung. Das Wort fördern nahm aber auch die Bedeutung „Bodenschätze zutage bringen und abbauen“ an. Wenn wir Behinderte fördern, können wir das so auffassen, als würden wir in ihnen vorhandene Schätzem bergen. Wenn wir ihnen helfen, sich zu bewegen, werden sie aktiv und lebendig. Das ungarische Wort für fördern „elömozdit“ ist von élö = lebendig und mozdit = bewegen, rühren, regen abgeleitet. Èlömozdit = fördern könnte man also mit „zum Leben bewegen, lebendig machen“ übersetzen. Viele Wörter für helfen, unterstützen und fördern haben diesen vorwärtstreibenden Sinn. So englisch promote und rätoromanisch promover von pro vorwärts und movete, mote = bewegen, dänisch fremme (von frem = vorwärts), französisch activer (aktivieren) oder faire avancer (vorwärts bringen) von spätlateinisch ab-ante = vorweg.
Wir müssen aber vorsichtig sein. Zu große Forderung ist Überforderung. Ich präge hier ein neues Wort, indem ich sage, zu große Förderung ist Überförderung. Wir wissen, wie lähmend eine overprotecting mother sein kann. Die Bretonen, jenes altertümlich keltische Volk in der Bretagne, das ich sehr schätze, sagen harp!, wenn sie stop! sagen. Harp ist die Stütze, die Hilfe und Unterstützung, aber auch der Halt, die Pause und das Hindernis, die Hürde. Stützen, helfen und unterstützen ist gut. Zu viel Unterstützung und Hilfe kann aber auch ein Hindernis sein. Bei Behinderten kann zu große Unterstützung, Hilfe und Überförderung verhindern, daß ein ausreichendes und /oder mögliches Maß an Selbständigkeit gewonnen wird.
Wir müssen also den Behinderten den ihnen gemäßen Stab (den baculum) in die Hand geben. Und müssen sie unterstützen, wo dies nötig und möglich ist. Wir müssen uns bemühen, Abhilfe zu schaffen, wo dies möglich ist. Sorge heißt nämlich einmal dieses, nämlich Hilfe, Abhilfe schaffen. Mit der anderen Bedeutung von Sorge, nämlich Kummer und Gram und der Angst könnten wir die Behinderten überlasten und durch Angst und Schuldgefühle von uns abhängig machen. Deshalb ist Fürsorge, tätige Bemühung um jemanden, der ihrer bedarf, eine sehr menschliche Haltung. Wenn wir aber sorgenvoll sind und statt den Behinderten nach ihren Bedürfnissen beiseite zu stehen, sie als Sorgenkind betrachten, damit also nicht, vor allem wenn es sich um erwachsene Behinderte handelt, als Gleichberechtigte, sondern immer wie Kinder behandeln, werden wir ihnen nicht gerecht. Wir müssen nämlich schauen, wo sie statt „debilis“ zu sein, „habilis“ sind, also Fähigkeiten haben oder müssen ihnen die Mittel geben, wieder oder neue Fähigkeiten zu erwerben, sich also zu rehabilitieren. Wir müssen ihnen ihre Validität, ihren Wert und ihre Würde geben. Wir müssen sie, da wo sie schwach sind, stärken. Sie allerdings manchmal auch psychisch tragen, und dadurch stützen. Das italienische Wort sostenere = stützen, tragen, unterstützen stammt vom lateinischen Wort sustineo, aus sub = empor und tineo = halten ab. Manchmal bedeutet Hilfe und Unterstützung einfach nur eine Schulter zum Anlehnen zu geben bzw. zu haben, was beim bretonischen Wort skoaz deutlich wird, das Hilfe, Unterstützung, aber auch die Schulter bedeutet.
Das geht aber nur, wenn wir nicht von negativen Ausdrücken ausgehen. Die oben genannten Wörter für Behinderungen sind zumeist im Laufe einer langen Zeit gewachsen. Immer wieder wird ein Ausdruck eingeengt. Wir sehen, wie Kraepelin und andere Kunstwörter wie Schizophren und Oligophren geschaffen haben, um einen neuen Sachverhalt zu beschreiben. Ich persönlich finde die Wörter Störung und Behinderung sperrig. Wahrscheinlich waren sie nach den Erfahrungen mit dem, Umgang mit Behinderten im Dritten Reich, auf den die Bilder der Pflegeanstalt Rastatt verweisen, notwendig. „Schizophrene“ und „schwachsinnige“ Patienten und andere damals sogenannte „Ballastexistenzen“ wurden sterilisiert und später durch die sogenannte „Euthanasie“ wie es hieß, „ausgemerzt“. Nach dem Zweiten Weltkrieg versuchte man, von diesen mörderischen Vokabeln wegzukommen. Man empfand auch die psychiatrischen Bezeichnungen als demütigend. So versuchte man, neue, zusammenfassende Bezeichnungen zu finden, die nicht diskriminieren. Ich finde aber, daß das Wort Störung, das an Stelle des Wortes Krankheit neu benutzt wird, mich stört. Bei dem Wort „behindert“ stört es mich, daß immer noch ein weiteres definierendes Wort dazukommen muß, also körperlich, geistig, seelisch und dann behindert. Ich empfinde das Wort „behindert“ auch wie ein Kunstwort, so wie es die Wörter Schizophrenie und Oligophrenie sind. Die Wörter für die einzelnen Behinderungen haben eine Geschichte, die das Wort „der Behinderte“ noch nicht hat. Es ist aber auffällig, daß unsere Ursprache, das Indoeuropäische, offensichtlich noch keine Wörter für Behinderungen gekannt hat und daß die in den Einzelsprachen entstandenen Wörter bei gleichem Urwort so stark differieren, wie griechisch typhlós = blind und deutsch taub. Zudem besteht offensichtlich eine Tendenz zur Einengung und Verschlechterung der Begriffe, auch ohne die Nazis. Interessant ist auch, daß viele Wörter wie oben dargestellt den modernen Satz: „Behindert ist man nicht. Behindert wird man.“ direkt zum Inhalt haben, wie das deutsche Wort „hemmen“, wie lateinisch „obstare“ und andere. Letztlich könnte es sein, daß auch das Wort „Behinderter“ trotz unserer Bemühungen, das Wort neutral und freundlich zu verwenden, im Laufe der Zeit einen negativen Sinn bekommt. Deshalb ist für mich der Satz im Grundgesetz : „Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.“ auch sprachlich schwierig. Er hat drei Wörter, die negativ konnotiert werden können, nämlich die Wörter niemand, Behinderung und benachteiligt.
Ich würde deshalb die Behinderten positiv konnotiert die Förderungswürdigen nennen. Dann könnte der Satz im Grundgesetz lauten: „Jeder Förderungswürdige muß gefördert werden.“ Allerdings wäre es möglich, daß auch dann ein negativer Ton hereinkommt. Denn man könnte sich fragen, wer denn würdig ist, gefördert zu werden. Jedenfalls kommt es darauf an, positive Begriffe zu benutzen, allerdings ohne euphemistisch zu sein, ohne also die Realität zurechtzubiegen. Ich hoffe, Ihnen ist deutlich geworden, wie sehr Sprache unser Verständnis von Behinderung beeinflußt bis hin zu politischen Entscheidungen und daß es nicht ausreicht, bestimmte Begriffe, weil sie mißachtend zu sein scheinen oder sind, nicht zu verwenden. Wir müssen uns immer damit auseinandersetzen, welche Begriffe wir verwenden. Und wir sollten uns auch darüber im Klaren sein, daß alle benutzten Wörter positive und negative Implikationen haben, die unser Handeln beeinflussen, und zwar, je unbewußter sie bei uns sind, desto eher in negativer Hinsicht. Deshalb ist es erfreulich, daß es Patrick Werner gelungen ist, uns bildlich die Bedeutung „Behinderter“ so zu vermitteln, daß wir bei Behinderten an lebensfrohe, individuelle Menschen mit Partnerproblemen und anderen Problemen des täglichen Lebens denken, an dich und mich eben. Nach dem Besuch dieser Ausstellung werden Sie, so hoffe ich, Behinderte mehr schätzen und vielleicht auch einen liebevollen Blick auf ihre eigene Hemmung oder Behinderung werfen. Ich hoffe aber auch, daß Sie bewußter auf Ihre Sprache achten.
Danke